Hamburg. Am Sonntag wäre die Ehefrau des Altkanzlers Helmut Schmidt 100 Jahre alt geworden. Was sieben ihrer Schüler erlebten.

Die Pausenklingel ertönt. Endlich. Es ist das herbeigesehnte Signal, ein kleines Zeichen großer Freiheit. Kinderlachen hallt durch die Flure. Im Nu füllt sich der Hof. Der Frühling naht: Bald werden die Schulbeete bepflanzt. Dann blüht auch der vor ein paar Jahren angelegte Apfelbaum. Demnächst soll ein Gewächshaus entstehen. Und das Allerbeste: Die Märzferien stehen unmittelbar bevor.

Von der Bibliothek im ersten Stock aus beobachten sieben Erwachsene das fröhliche Treiben – mit wachsendem Wohlgefallen. Menschenskind, wie sind die Jahrzehnte bloß vergangen. Damals, in den 1950er-Jahren, waren sie die unbeschwert Tobenden dort unten. Neue Gebäude wurden errichtet, andere abgerissen. Viel von früher geriet in Vergessenheit, eine Erinnerung jedoch blieb dauerhaft im Gedächtnis: das Wirken der gemeinsamen Lehrerin Hannelore „Loki“ Schmidt.

An diesem Sonntag wäre die 2010 verstorbene Pädagogin 100 Jahre alt geworden. Es ist der gegebene Anlass für dieses Treffen der besonderen Art. Das Leitmotiv in einem Wort auf den Punkt gebracht: Wertschätzung. Sieben ihrer ehemaligen Schüler, allesamt in gesetztem Alter natürlich, haben sich zu einem vormittäglichen Klönschnack verabredet, um 10 Uhr, zur besten Schulzeit mithin. Zwei Schulstunden lang in herrlichen Erinnerungen schwelgen. Alte Klassenbücher liegen bereit, vergilbte Fotos, Protokolle von Schulkonferenzen.

Beim Klassentreffen 1998 war Loki Schmidt dabei

Einige haben Erinnerungsstücke mitgebracht: Schulhefte, Briefe, ein Poesiealbum. „Froh zu sein bedarf es wenig“, schrieb die Klassenlehrerin am 4. März 1962 sehr akkurat in das Büchlein, „und wer froh ist, ist ein König.“ Sie rahmte diesen Satz mit einem Kreis roter Blüten und Blätterwerk ein. Unterschrift: „Zur Erinnerung an Deine Hannelore Schmidt.“

Die Loki-Schmidt-Schule am Othmarscher Kirchenweg.
Die Loki-Schmidt-Schule am Othmarscher Kirchenweg. © HA | Roland Magunia

Dieses Ziel wurde erreicht. Barbara Wiechmann, die damals Christians mit Nachnamen hieß, verwahrt das Kleinod wie einen Schatz. Ist es ja auch. 40 Jahre nach der Einschulung trafen sich Barbara und ihre alten Klassenkameraden an der Elbe wieder. 1998 war das. Hannelore Schmidt war dabei. Ehrensache.

„Der Kontakt riss nie ab“, sagt Frau Wiechmann. Die anderen nicken. Einer von ihnen, der promovierte Jurist Georg Winter, hat just im Blankeneser KJM-Verlag ein Buch herausgegeben – zu Ehren der tatsächlich unvergessenen Lehrerin Loki Schmidt. Titel: „Der Schüler mit dem Wegerich“. Gemeint ist der Autor selbst. Sechs der sieben Teilnehmer besuchten damals die Schule Othmarscher Kirchenweg. Zeitweise war die anno 1824 gegründete Dorfschule von Othmarschen nach dem nahe gelegenen Hirtenweg benannt. Seit 2012 trägt sie den Namen Loki-Schmidt-Schule.

Gemeinsame Erinnerung schafft Verbindung

In einem persönlichen Brief erklärte Helmut Schmidt sein Einverständnis. Aktuell unterrichten rund 30 Pädagogen 352 Grundschüler der Klassen eins bis vier. Zudem wird eine Vorschule organisiert. Inklusion, das selbstverständliche Miteinander behinderter und nicht behinderter Schüler, wird gelebt. So, wie es einst auch Frau Schmidt praktizierte.

Der Siebte der heutigen Runde, Harald John Langley, erlebte sie von 1962 an in der Schule Eberthofweg in Langenhorn. Kurz zuvor waren Hannelore und Helmut Schmidt mit ihrer Tochter Susanne aus dem Zickzackweg in Othmarschen in das nunmehr berühmte Doppelhaus am Neubergerweg im Norden der Hansestadt gezogen. Bei John trieb die Saat der Biologielehrerin Schmidt besonders intensive Blüte, um im Bild zu bleiben: Der heute 69-Jährige widmete sein Berufsleben der Natur. Der „Gartenbotschafter“ der Loki Schmidt Stiftung war 16 Jahre als „NDR-Fernsehgärtner“ aktiv. „Sie hat uns beseelt und die Wurzeln gelegt“, meint er.

Doch zurück in die Bibliothek der Grundschule am Othmarscher Kirchenweg. Lachen erfüllt den Raum. Einige kennen sich von damals. Man ist per Du. Die gemeinsame Erinnerung an Hannelore Schmidt schafft Verbindung. Was waren das für Zeiten kurz nach Gründung der Bundesrepublik. Rolf Braun, 75 Jahre alt und aus seinem heutigen Wohnort Ahrensburg nach Othmarschen gekommen, wurde dort 1950 eingeschult. Dass sein damaliger Mitschüler Günter Prinzing jetzt wieder an seiner Seite sitzt, entspringt einer guten Laune des Schicksals – und einem Buch des lokalen Bürgervereins zum 700. Geburtstag Othmarschens 2017.

Turbulente Schultage

Darin waren Auszüge eines alten Schulheftes von Rolf abgedruckt. So kam Günter Prinzing, Professor für Byzantinistik mit Wohnsitz in Mainz, in Kontakt mit der Hamburger Vergangenheit. Loki wäre stolz über diese Entwicklung, keine Frage. Prinzing und Braun haben erstklassige, turbulente Schultage in Erinnerung. Hin und wieder klingelten die Buttjes einfach so an der Tür der Familie Schmidt, Zickzackweg 6. Loki bat sie zum Klönschnack rein. „Ganz normal war das damals“, erinnert sich Braun.

Zwei Damen in der Runde stimmen lautstark zu: Birgit Burmeister und Jutta Milde. Erstere hieß früher Tede mit Nachnamen, die andere Willandsen. Beide hielten lebenslang Kontakt, seit 1957. Im Vierjahresrhythmus stehen Klassentreffen auf dem Programm. Zum 50. Jahrestag des schulischen Kennenlernens erschienen immerhin 22 von früher 38 Mitschülern. „Wir sind oft bei den Schmidts zu Hause gewesen“, erinnern sich die beiden Freundinnen.

Gemeinsam spielte man mit Susanne Schmidt im Garten der Familie. Die Volkswirtin lebt heute in Südengland. Damals wurde sie teilweise von der eigenen Mutter unterrichtet. „Pluspunkte ergaben sich dadurch nicht“, weiß Frau Milde. „Im Gegenteil“, ergänzt Frau Burmeister, „dazu war Frau Schmidt viel zu korrekt.“ Wie die anderen auch, betreute die spätere Kanzlergattin sie einst in den Fächern Biologie und Handarbeit.

Als Lehrerin ein Tausendsassa

„Als Lehrerin war sie ein Tausendsassa“, steuert Barbara Wiechmann bei. Als Klassenlehrerin gab sie praktisch alle Fächer – außer Religion. Und wer nicht mitzog oder patzig reagierte, kassierte eine Ohrfeige. Das bestätigen Teilnehmer dieser Runde unisono. „Es gab was hinter die Löffel“, sagt eine. „Welche Seite ist dir lieber?“, habe Hannelore Schmidt einen aufsässigen Jungen gefragt. Seine Antwort: „Keine.“ Daraufhin ohrfeigte sie links und rechts. Was man heutzutage nicht nachvollziehen kann, war in vergangenen Schulzeiten nichts Ungewöhnliches. In der Gegenwart wird Pädagogik anders verstanden, ganz anders.

Gelegenheit für eine kurze Gesprächspause. Und hinein ins Büro der Schulleiterin Stephanie Gondolatsch. Vor dem Termin mit den Ehemaligen hatte sie Seite an Seite mit ihrem Stellvertreter Thomas Behrmann und Kollegin Meike Messerschmidt ebenfalls aus dem Team der Schulleitung über die Loki-Schmidt-Schule informiert. Die Namensgeberin unterrichtete dort von Ostern 1949 bis Frühjahr 1962, also 13 Jahre lang. Ein Rundgang über das weitläufige Gelände zwischen Bernadottestraße und der Klinik Altona, am Rande einer Schrebergartenkolonie grün gelegen, zeigt den großzügigen Charakter der Grundschule.

Es gibt eine „Baumrallye“, eine Natur AG, die Initiative „Grünes Klassenzimmer“ mit Unterricht unter freiem Himmel und eine intensive Zusammenarbeit mit dem Loki Schmidt Haus im Botanischen Garten. „Wir pflegen Hannelore Schmidts Ideale“, fasst Meike Messerschmidt das Prinzip zusammen. Und am 19. März, direkt nach den Ferien, wird der 100. Geburtstag der Namenspatin nachgefeiert. Mit der Einweihung eines neuen, großen Blumenbeets am Haupteingang, zwei von den Schülern geübten Frühlingsliedern und einer Dauerausstellung.

Schülerin durfte Schmidt im Kanzleramt besuchen

Und nun zurück in die Bibliothek, zum Ehemaligentreffen. „Ihr solltet nicht so offen, sondern geschickter schummeln“, zitiert Birgit Burmeister die Lehrerin Schmidt rückblickend. John Langley wurde von ihr nicht aus dem Klassenraum geschmissen, sondern „an einen anderen Lernort“ versetzt. Georg Winter berichtet vom Protokoll einer Lehrerkonferenz. Thema war unter anderem ein Schüler, dessen Eltern ein Fischgeschäft in Altona betrieben. Entsprechend roch der Junge hin und wieder.

Loki Schmidt habe couragiert Partei ergriffen. Und Barbara Wiechmanns Sohn befand einst anerkennend: „Du kennst dich aber gut aus im Hafen.“ Die Erklärung: viele Hafen-Besuche mit Klassenlehrerin Loki Schmidt. Von Neumühlen aus ging’s mit dem Fährdampfer in den Freihafen: Erst Kaianlagen, Schuppen, Schiffe, Flaggenalphabet, dann ab ins Köhlbrand-Freibad. „Wir haben Frau Schmidt verehrt“, sagt Günter Prinzing, „auch wegen ihrer speziellen Ausstrahlung und ihres gradlinigen Naturells.“ Und eben diese Wertschätzung halte posthum nicht minder an. Oftmals gingen die Beziehungen weit über die Schulzeit hinaus.

Bei einem Interview für den NDR im Schmidt-Haus am Neubergerweg in Langenhorn wurde der heute in Husum lebende Gartenkenner John Langley von Loki gefragt: „Darf ich rauchen?“. Die Antwort habe sie sich dann doch selbst gegeben: „Aber ist ja egal, ich wohne schließlich hier.“ Und griff zur Zigarette.

Reger Briefwechsel

Bei einem Besuch in Bonn während Helmut Schmidts Kanzlerschaft habe Barbara Wiechmann spontan zum Telefon gegriffen. Etwas später saß sie bei Kaffee und Keksen im Kanzleramt – mit ihrer früheren Lehrerin. Frau Schmidt habe solche Kontakte kultiviert, ebenso wie Brieffreundschaften.

Wie zum Beweis holt Georg Winter Auszüge aus seinem neuen Buch hervor, das passend zum 100. Geburtstag erscheint. Darin sind rund 30 Briefwechsel zwischen der Lehrerin und ihrem ehemaligen Schüler dokumentiert – und teilweise abgedruckt. Alle sind handgeschrieben, von Schalk und Wortwitz geprägt, manche mehrseitig. Ohne Zweifel verweisen sie auf eine persönlichkeitsstarke, höchst engagierte Frau, die alles war, nur kein Mensch von der Stange.

Besonders die ersten Monate nach der Einschulung 1949 blieben dem Unternehmer, Schriftsteller, vielseitigen Künstler und im Guinnessbuch der Rekorde verzeichneten „Schnellsprecher“ lebenslang haften. Und umgekehrt. Auf dem Schulhof ist längst Stille eingekehrt; der Lehrplan geht weiter. „Was ist das für ein Segen, eine solche Persönlichkeit wie Frau Schmidt ewig in Erinnerung zu haben – und im Herzen“, sagt Jutta Milde, geborene Tede. Die anderen sechs Ehemaligen stimmen zu.

Das Buch „Der Schüler mit dem Wegerich“, 16 Euro, gibt es auch in der AbendblattGeschäftsstelle (Großer Burstah 18–32) und auf www.abendblatt.de/shop
Das Buch „Der Schüler mit dem Wegerich“, 16 Euro, gibt es auch in der AbendblattGeschäftsstelle (Großer Burstah 18–32) und auf www.abendblatt.de/shop

Dann erzählen sie von Unterrichtsinhalten damals. Im Klassenraum standen Terrarien und Aquarien. Dort gediehen kleine Frösche, Molche, Gelbrandkäfer. Und dann wurden die Kleinen von Lehrerin Schmidt ins Parzellengebiet nebenan geschickt, ausgerüstet mit Löffel und einem leeren Blumentopf. Auftrag: Ausgraben einer Pflanze. Diese wurde später in der Schule gehegt und gepflegt. So wuchs Respekt vor der Natur. Georg Winter buddelte einen Breitblättrigen Wegerich aus. Daher der Buchtitel. Die Erinnerungen blieben lebendig. So, als sei es gestern gewesen.