Hamburg. Die Stadtteilschule am Hafen ist eine von 43 Schulen, die am Modellprojekt „Deutsch als Zweitsprache im Fachunterricht“ teilgenommen hat.

Alle Augen sind auf das Gemälde von Jacques-Louis David gerichtet, das Geschichtslehrer Martin Teichmann mit dem Projektor an die Wand geworfen hat. Es zeigt den berühmten Ballhausschwur in Paris 1789, der den Beginn der Französischen Revolution markiert. Ein wuchtiges Thema, ohne Zweifel spannend – aber auch kompliziert. Besonders wenn man bedenkt, dass von 28 Kindern, die das Bild gerade betrachten, zu Hause nur fünf Deutsch sprechen. Und so gibt es erst mal andere Fragen zu klären als die Bedeutung dieser Versammlung. Nämlich: Was ist eigentlich ein Schwur? Ein Schüler vermutet, dass das von „schweigen“ kommt, eine andere sagt, das komme von „isch schwöre“, am Ende löst Emre auf: „Das ist so was wie ein Indianer-Ehrenwort.“

Das lässt Geschichtslehrer Martin Teichmann gelten. Nachdem auch noch geklärt ist, was ein Ballhaus ist, geht es an die Bildbeschreibung. Verschiedene Satzanfänge hat Lehrer Teichmann dafür neben das Bild projiziert: „Man erkennt, dass ...“, „Es sieht aus wie ...“, „Das Bild zeigt ...“ Und dann gehen die ersten Hände nach oben. „Das Bild zeigt eine Versammlung“, sagt einer, Sakariya zeigt auf ein Detail des Bildes und sagt: „Das sieht aus wie eine Kirche.“

Die vorgeschlagenen Satzanfänge sind nur ein Beispiel für den neuen Lehransatz, der hier an der Stadtteilschule am Hafen neuerdings verbindlich für Gesellschaft und Mathe gilt. Weitere Fächer sollen folgen. Der Standort ist eine von 43 Schulen, die an dem Modellprojekt „Deutsch als Zweitsprache im Fachunterricht“ teilgenommen haben. Ein Konzept, mit dem Kinder mit Mi­grationshintergrund, aber auch Kinder mit deutscher Muttersprache bei Sprachdefiziten auch außerhalb des Deutschunterrichts gefördert werden sollen. Dafür haben hamburgweit Mathe-, Gesellschafts und Naturwissenschaftslehrer in speziellen Schulungen gelernt, mit welchen Methoden und Übungen man Sprachtraining in den Fachunterricht einbinden kann. Auch Geschichtslehrer Martin Teichmann hat so eine Schulung gemacht.

Sein Unterricht hat sich verändert

Das ist etwa zwei Jahre her. Sein Unterricht hat sich seitdem verändert: „Wir arbeiten weniger mit dem Buch und dafür mehr mit unseren eigens erarbeiteten Arbeitsmaterialien, die für Kinder mit Sprachdefiziten besser geeignet sind.“ Konkret heißt das etwa: Lange Texte sind in kleine Portionen unterteilt, schwierige oder unbekannte Wörter und Redewendungen werden in Wörterlisten erfasst, Zugänge zu Themen über Bilder geschaffen, und auch für komplexere Texte wurden Methoden zur sprachlichen Unterstützung entwickelt.

Viele Schüler sprechen zu Hause kein Deutsch.
Viele Schüler sprechen zu Hause kein Deutsch. © HA | Marcelo Hernandez

Für Teichmann, der auch Fachleiter Gesellschaft an der Schule ist, ist das inzwischen alles längst eine Selbstverständlichkeit. „Am Anfang ist es vielleicht mehr Arbeit, aber danach erleichtern die Methoden den gesamten Unterricht und schaffen Erfolgserlebnisse für die Kinder“, so der 32-Jährige. Gemeinsam mit seiner Kollegin Michaela Frank hat er als Erster die Fortbildung am Landesinstitut für Lehrerbildung gemacht. Als sogenannte Multiplikatoren bilden sie nun selber sukzessive das Kollegium fort.

Auch Michaela Frank ist überzeugt: „Mit der neuen Methode trauen sich Lehrer wieder, komplexere Themen durchzunehmen, die sie früher angesichts des Sprachniveaus in einigen Klassen eher ausgeklammert hätten“, so die 48-Jährige. „Bestenfalls hätten die Schüler eine Zusammenfassung des Themas gelesen und auswendig gelernt. Für einen echten Lerneffekt oder gar eine Auseinandersetzung mit dem Thema bringt das nicht.“

Gehobene Sprache wird gut portioniert

Mit dem neuen Sprachförderansatz soll am Ende nicht nur Wissen über Sachverhalte vermittelt werden, sondern auch Kompetenzen: Wie erschließe ich mir ein Thema? Wie kann ich meine Gedanken ausdrücken? Was sind die Unterschiede der „Bildungssprache“ im Vergleich zur Alltagssprache? Michaela Frank sagt: „Aus Angst davor, dass die Schüler die Texte nicht verstehen, wurden diese früher oftmals so weit vereinfacht, dass den Schülern gar keine Chance mehr gegeben wurde, mit Bildungssprache in Kontakt zu kommen.“

In Martin Teichmanns Unterrichtsstunde gibt es durchaus noch gehobene Sprache – aber nicht mehr als langen Textblock, sondern portioniert. In der Stunde mit dem Ballhausschwur etwa sind es Kleinsttexte, die dem Bild zugeordnet werden sollen. „Übersichtliche Einheiten sollen die Hürde geringer machen“, sagt Teichmann. Aber er sagt auch: „Wer die Schüler zum Sprechen bringen will, der muss sich Zeit nehmen und Hilfestellungen geben.“ Zum nächsten Tag soll die achte Klasse von Martin Teichmann eine Bildbeschreibung anfertigen. Dazu bekommen sie ein Merkblatt mit Satzbausteinen an die Hand. Etwa: „Auf der linken Seite ist ...“, „Im Vordergrund ...“, „Im Hintergrund ...“.

Martin Teichmann mit seinem Schüler Cumhur, der etwas erklärt.
Martin Teichmann mit seinem Schüler Cumhur, der etwas erklärt. © HA | Marcelo Hernandez

Weil diese Herangehensweise für viele Fachkollegen erst mal neu war, gab es anfangs auch Bedenken, dass sie ihren gesamten Unterricht umstellen müssen. Die konnten aber längst zerstreut werden. „Zum einen stellen wir die Materialien allen Kollegen der Schule zur Verfügung, zum anderen können Methoden wie Wortschatzlisten ganz einfach in den normalen Unterricht integriert werden.“ Wie die Schulbehörde mitteilte, seien die Erfahrungen mit dem neuen Lernansatz auch an anderen teilnehmenden Schulen positiv. Nun soll das Projekt auf freiwilliger Basis auch auf andere Schulen ausgeweitet werden.

Für die Klasse 8d ist der Unterricht heute nach 65 Minuten vorbei. 65 Minuten, in denen sie gelernt haben, warum so viele Menschen damals im Ballhaussaal zusammengekommen sind und dass es der Anfang einer großen Veränderung war. Und sie haben verstanden, dass das weit geöffnete Fenster des Ballhauses sinnbildlich für etwas steht, dass man im Deutschen als „neuen oder ­frischen Wind“ bezeichnet, der einen neuen Anfang und Chancen mit sich bringt. Der „neue Wind“, der seit zwei Jahren an der Stadtteilschule am Hafen weht, ist auch ohne Fenster-Metapher zu spüren.