Hamburg. Wenn geschützte Gebäude überflüssig werden, kann eine neue Nutzung sie vor Verfall und Abriss retten. Das ist auch gut für die Umwelt.
Wer durch die alten Sprossentüren tritt, meint sofort, Hunderte Kinderfüße über den schwarz-weißen Terrazzoboden und die breiten Treppen trappeln zu hören – auf dem Weg zur Turnhalle, in die Aula, in Fach- oder Klassenräume. In der 1928 von Gustav Oelsner erbauten und heute denkmalgeschützten Pestalozzi-Schule an der Kleinen Freiheit wird aber gar nicht mehr unterrichtet. Die Turnhalle wird als Partyraum, Konzertsaal und als kommunale Sporthalle genutzt, in der Aula sitzt ein IT-Start-up, im Eingangsbereich ein vietnamesisches Restaurant, und statt Klassenzimmer gibt es hier 20 moderne Wohnungen.
Nachdem die Grundschule 2006 aufgegeben worden war, gab es lange kein Konzept für die weitere Nutzung – bis zwischen Großer und Kleiner Freiheit das Pestalozzi-Quartier geplant wurde und die Baugemeinschaft „Wohnschule Kleine Freiheit“ der Stadt das Gebäude abkaufte, umbaute und für ihre Zwecke nutzte. Oft ist eine Umwandlung wie diese die einzige Möglichkeit, ein nicht mehr genutztes Denkmal vor Leerstand und Verfall zu retten. Prominente Beispiele dafür gibt es viele: das Planetarium und das Mövenpick-Hotel waren früher Wassertürme, im Mehr!Theater wurde mit Obst und Gemüse gehandelt, in der Rindermarkthalle mit Vieh, und das ehemalige Strom- und Hafenamt beherbergt jetzt ein Hotel.
Dachterrasse greift Idee einer Freiluftklasse auf
Das Baugemeinschaft investierte mehr als drei Millionen Euro, um das Gebäude denkmalgerecht umzubauen. „Im Vordergrund stand die Frage, wie das Gebäude nicht nur in seiner äußeren Erscheinung, sondern auch in seiner inneren Struktur und Ausstattung so weit wie möglich erhalten und trotzdem weiterentwickelt werden kann“, sagt Architekt Sven Hidde vom Büro Heyden und Hidde.
So wurde die Turnhalle, in der noch Mattenwagen, Turnböcke und Sprungkästen stehen, mit Schallschutz versehen, und auf dem Dach eine 200 Quadratmeter große Terrasse erschlossen und ausgebaut. „Damit haben wir Oelsners Gedanken eines Freiluftklassenzimmers aufgegriffen“, sagt Hidde, der nicht nur der Architekt, sondern auch Teil der Hausgemeinschaft ist, die die Dachterrasse zum Grillen, Sonnenbaden oder Ausspannen nutzt.
32 Menschen leben in dem Wohnprojekt: Alleinstehende und kleine Familien, Junge und Alte. „Es ist hier wie in einer großen WG, mit viel Platz zwischen den Wohnungen“, sagt Hidde. Er selber wohnt im früheren Naturkunderaum im dritten Stock.
Bis auf das für Klassenzimmer typische breite Fensterband erinnert nichts mehr an die frühere Nutzung: Wo das Lehrerpult gestanden haben muss, befindet sich heute ein Esstisch, die beiden angrenzenden Nebenräume wurden zu Schlaf- und Badezimmer umgebaut. Es gibt einen Kaminofen und eine (Flucht-)Treppe zur Dachterrasse.
Gebäudeerhalt ist Erfolg fürs Viertel
Durch die Fenster sind zwei weiße Jugendstilvillen zu sehen – ebenfalls frühere Schulgebäude. Im einem sind Wohnungen entstanden, im anderen sitzt eine Hausverwaltung „Es ist ein Erfolg für das Viertel, dass diese alten Gebäude erhalten werden konnten“, so der Architekt.
Durch Umnutzungen stadtteil- und epocheprägende Denkmäler zu erhalten sei ein großes Ziel des Denkmalschutzes, sagt Jörg Seifert, Sprecher des Denkmalschutzamts. „Doch es geht auch um Nachhaltigkeit, da jeder verhinderte Abriss die Umwelt schont.“ In jedem Gebäude stecke eine große Menge sogenannter Grauer Energie, die bei einem Abriss verschwendet werde. So verbrauche die Sanierung eines schlechten 50er-Jahre-Baus mit 95,8 Kilowattstunden pro Quadratmeter deutlich weniger Energie als der Abriss und ein Ersatzneubau in Passivhaus-Standard, was 108,5 Kilowattstunden verschlinge.
Abriss und Neubau schädlicher als Autoverkehr
Auch für Architektin Anna Zülch ist Nachhaltigkeit ein entscheidendes Argument für Denkmalumnutzungen. „Bauaktivitäten verursachen weit mehr als die Hälfte des weltweiten Materialverbrauchs, die Hälfe des Abfallaufkommens sowie jeweils 35 Prozent des Energieverbrauchs und der Emissionen. Damit schadet abreißen und neu bauen der Umwelt mehr als der Autoverkehr“, sagt sie.
Die Zahlen stammen aus dem gerade veröffentlichten Baukulturbericht der Stiftung Baukultur, der sich in diesem Jahr besonders mit dem Thema Nachhaltigkeit beim Bauen und in der Denkmalpflege beschäftigt. Da er auch in der Bundesregierung Beachtung finde, hofft Anna Zülch, dass in der Stadtplanung endlich ein Umdenken einsetze „Wir müssen uns über das Zerstören und Abreißen , das neu Bauen und die verwendeten abgängigen und neu eingesetzten Baumaterialien Gedanken machen“, fordert sie. Dazu gehöre auch, Denkmäler wie das Deutschlandhaus am Gänsemarkt oder den City-Hof am Johanniswall zu erhalten, statt eine Abrissgenehmigung für sie zu erteilen.
Im Bestreben, möglichst viele Denkmäler einer Umnutzung zuzuführen, wird das Denkmalschutzamt von der Hamburgischen Architektenkammer, der Freien Akademie der Künste und dem Bund Deutscher Architekten unterstützt. In der gemeinsamen Veranstaltungsreihe „Weiterbauen“ präsentieren sie anhand beispielhafter Projekte, wie Altbauten weiterentwickelt und umgenutzt werden können.
Ein Discounter im Bauernhof
Die größte Herausforderung dabei sieht Architekt Christian Herbert im Finden der richtigen Balance. „Man muss genau überlegen, was bleibt, was weg- und was dazukommt“, betont Herbert, dessen Büro Kunst + Herbert vor Kurzem einen Rewe-Supermarkt in die ehemalige Schiffsschraubenfabrik Zeise gebaut hat. „Uns ist es gelungen, die Merkmale eines Supermarkts aufzunehmen, ohne dabei das Denkmal zu zerstören.“ Tatsächlich ist die alte Stahlskelettkonstruktion noch deutlich sichtbar und lässt keinen Zweifel an der ursprünglichen Nutzung der Halle: Neben dem Eingang stehen hinter Glas die Originalöfen, und mitten im Laden ist eine alte Schiffsschraube in den neuen Glasboden eingelassen.
Auch in Meiendorf residiert ein Discounter in einem Denkmal. Der 1919 erbaute Krögerhof war einst der größte Hof in Meiendorf und ist heute Sitz einer Aldi-Filiale. Beim Umbau konnten sowohl das Wohn- als auch das Wirtschaftsgebäude erhalten bleiben. Aldi ließ mehrere Fenster nachbauen und ersetzen, restaurierte die historischen Fliesen und stattete das Treppenhaus mit Böden und Türen aus. Heute ist der größte Teil des Hofs Ladenfläche, im Obergeschoss sind Büros und Praxen entstanden.
Ein früherer Klinikstandort an der Bülowstraße in Altona wird heute ebenfalls komplett anders genutzt: Die 1920 eröffnete Altonaer Frauenklinik, in der während der NS-Zeit auch Zwangssterilisationen stattfanden, sowie der gegenüber liegende OP-Bunker wurden zum Luxuswohnquartier umgebaut. In dem zweigeschossigen Klinikgebäude entstanden 22 Wohnungen mit Balkonen und einer Terrasse, die Treppenhäuser erhielten einen Aufzug. Hinter den dicken Mauern des Bunkers, der zuvor als Bürohaus genutzt worden war, wurden acht Wohnungen und ein zweistöckiges Penthouse errichtet.
„Denkmäler enthalten spannende Informationen“
Der Hamburger Kunsthistoriker Hermann Hipp teilt die Ansicht der modernen Denkmalpflege, dass die Nutzung eines Denkmals sehr wichtig ist. Aber es dürfte dadurch nicht seinen ästhetischen Wert verlieren. „Denkmäler enthalten spannende Informationen über ihre Vergangenheit, die auch bei einer Umnutzung noch ablesbar sein müssen.“
Bei dem Verwaltungsgebäude des Amtsgerichts Wandsbek weiß man sofort, dass man ein ehemaliges Gefängnis vor sich hat: Hier sind alle Fenster vergittert – egal, ob dahinter das Büro des Direktors, eines Amtsrichters oder der Geschäftsstelle ist. Nachdem die 1906 erbaute Jugendarrestanstalt lange ungenutzt war, kauften Privatinvestoren den vierflügeligen Bau, bauten ihn um und vermieteten ihn vor rund vier Jahren an die Stadt.
Während der Sanierung wurde altes Sichtmauerwerks freigelegt und die historische Farbgestaltung – Grau, Pastellgelb und -grün – wiederhergestellt. Die Büros bestehen aus zusammengelegten Zellen und sind über gefängnistypische Galerien erreichbar, von denen niedrige Holztüren abgehen – mit Luken, durch die der Wärter das Essen hereinreichen oder die Anwesenheit des Gefangenen kontrollieren konnte. Im Innenhof entstand ein neuer Haupteingang mit behindertengerechter Treppen- und Rampenanlage, im ehemaligen Ausgangshof ein zweigeschossiger Neubau.
Zwei Millionen Euro für Sanierung der Amsinck-Villa
Ebenso ablesbar, um bei Hermann Hipps Worten zu bleiben, ist auch die frühere Nutzung der Amsinck-Villa in Lokstedt. Wilhelm Amsinck ließ das herrschaftliche Anwesen 1868 von Rathaus-Architekt Martin Haller als Sommersitz für seine Frau und seine zwölf Kinder bauen. Heute ist die Villa wieder fest in Kinderhand: Die Ballin-Stiftung hat dort vor einem Jahr eine Kita eröffnet. Damit dürfte das Denkmal endgültig gerettet sein. Nachdem hier von 1939 bis 1946 die Hundestaffel untergebracht war und in den 50er-Jahren 13 Sozialwohnungen eingebaut und wieder verlassen wurden, stand es von 2007 bis 2015 leer.
Die Stadt ließ es so stark verfallen, dass erst einmal eine zwei Millionen Euro teure Schwamm- und Schadstoffsanierung nötig war, bevor die Villa dann für weitere vier Millionen Euro in enger Absprache mit dem Denkmalschutzamt umgebaut werden konnte. Heute präsentiert sie sich so prächtig wie früher: Da ist die zentrale Treppe, deren Stufen aus floraler Gusseisen-Ornamentik und dunklem Holz bestehen. Da sind die vielen hohen Räume, in denen die Farben und Schablonenmalereien an den Wänden der Originalgestaltung entsprechen, die an manchen Stellen auch freigelegt und erhalten wurde. Da sind die hohen Fenster, von denen etliche original sind.
Ein Miniaturbadezimmer, ein weiteres, modern gehaltenes Treppenhaus, Heizungen und Haustechnik wurden so eingebaut, dass sie sich dem historischen Ambiente unterordnen. „Das Haus ist mächtig und wunderschön und hat eine ganz besondere Atmosphäre“, findet Kita-Leiterin Sukonjic. Da macht es auch nichts, wenn es manchmal zu kleinen Konflikten zwischen Alt und Neu kommt – etwa der mächtigen Haustür, die noch aus dem Jahr 1868 stammt, und der Schließanlage. Es ist eben doch ein Unterschied, ob hier eine Familie und ihre zwölf Kinder ein- und ausgehen. Oder 65 Kinder samt Eltern und Erzieher.