Neustadt. Er galt als sehr zuverlässig. Doch dann ging es mit dem Juristen anscheinend steil bergab. Hat er eine halbe Million Euro veruntreut?

Die einen bezeichneten ihn als „absolut zuverlässig“. Die anderen empfahlen ihn mit dem Prädikat, er sei „absolut integer“. Es muss wirklich gute Zeiten im Berufsleben von Rechtsanwalt Paul E. (Name geändert) gegeben haben, dass sich der 55-Jährige einen solch achtbaren Ruf erarbeitet hat. Doch dann scheint es mit dem Juristen bergab gegangen zu sein, steil und rapide. Heute schwebt über dem Anwalt ein böser Verdacht. Hat er etwa eine halbe Million Euro von Mandanten veruntreut? Darunter auch Geld, das benachteiligten Kindern aus prekären Verhältnissen hätte helfen sollen?

Es ist nicht überraschend, dass dem Juristen Paul E. die Rolle des Angeklagten vor dem Schöffengericht nicht gefällt. Um sich der Malaise möglichst zu entziehen, wählt er unterschiedliche Strategien des Aussitzens, Verzögerns und Ignorierens, mit sehr übersichtlichem Erfolg. Bis er sich am Ende sogar gegen einen Arzt und die Polizei in seiner Wohnung verbarrikadiert und dort unter einem Tisch kauert, so als könne er auf diese Weise abtauchen und seinen Auftritt vor Gericht verhindern.

Schon zum ersten Prozesstermin glänzte der angeklagte Rechtsanwalt durch Abwesenheit. Er habe einen Autounfall gehabt, lässt der Mann das Gericht wissen. Eine Woche später macht er geltend, er sei krank und nicht verhandlungsfähig. Doch ein Amtsarzt bescheinigt nach einer Untersuchung des 55-Jährigen, dass der Prozess beginnen kann. Matt stützt sich Paul E. nun auf den Tisch, das Kinn auf der Brust, die Augen geschlossen, als sei er maßlos erschöpft. Plötzlich rutscht der beleibte blonde Angeklagte vom Stuhl.

Verteidiger in einem Schwurgerichtsprozess und zur selben Zeit Angeklagter

Wie überzeugend ist diese vermeintliche Ohnmacht; ein echter Schwächeanfall – oder eine schauspielerisch eher misslungene Leistung? Es ist erstaunlich, wie schnell sein Gesundheitszustand zwischen unbedenklich und angeblich desaströs hin und her wechselt: Erst einen Tag vor seinem fragwürdigen Zusammenbruch sowie drei Tage danach hat Paul E. noch seine Rolle als Anwalt in einem monatelangen Verfahren um einen versuchten Mord wahrgenommen, zuletzt auch sein Plädoyer gehalten.

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Welch ein Gegensatz: Verteidiger in einem Schwurgerichtsprozess und zur selben Zeit Angeklagter! Rund 500.000 Euro, so die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft, habe der Anwalt veruntreut. Beim Abwickeln einer Erbschaft soll er dem Verein SOS Kinderdorf e.V., dem eine Frau rund 231.000 Euro vermacht hatte, das Geld vorenthalten und für sich genutzt haben. In einem weiteren Fall habe er 270.000 Euro, die ein Erbe aus einem Pflichtteilsanspruch hätte erhalten müssen, ebenfalls nicht weitergeleitet und für eigene Zwecke verwendet.

Zu den Vorwürfen sagt Paul E. keine Silbe. Stumm und starr sitzt der 55-Jährige da, während die Zeugen schildern, was ihnen widerfahren ist. Ein Mann erzählt, wie er den Anwalt mit der Abwicklung einer Erbschaft beauftragt hatte, nachdem sein Vater im Jahr 2015 verstorben war und der 54-Jährige seinen Pflichtteil beanspruchen wollte. „Ich hatte ihn von einer Bekannten empfohlen bekommen. Sie sagte, er sei absolut zuverlässig.“

Doch der Mandant gewann schnell den Eindruck, dass es mit dem Pflichtbewusstsein wohl nicht weit her ist. „Ich wurde immer wieder hingehalten.“ Das Geld kam nie bei ihm an. Auch der Verein SOS Kinderdorf wartet bis heute vergeblich auf die 231.000 Euro, die ihm vererbt wurden. Paul E., der mit der Abwicklung des Nachlasses beauftragt war, habe „immer andere Ausreden“ gehabt, warum der Verein sein Geld nicht bekomme, erzählt eine Zeugin. Letztlich entzog der Verein dem Anwalt das Mandat.

Das Verfahren wird Anfang Januar fortgesetzt

Bei einem anderen Erben war Paul E. offenbar deutlich beflissener. Die Hamburger Turnerschaft e. V. hat 140.000 Euro, die ihr vermacht worden waren, sehr wohl erhalten. Pikant dabei: Der Anwalt ist Vorstandsmitglied in diesem Verein, wie der Geschäftsführer aussagt. Und bis heute ist der 55-Jährige für den Verein in einem Zivilverfahren tätig, in dem dieser mit seinem früheren Mandanten, dem SOS-Kinderdorf, weiter um die Aufteilung des Erbes streitet. Das sehe doch „stark nach einem Interessenkonflikt aus“, moniert der Verteidiger von Paul E. Das scheint dem Geschäftsführer einzuleuchten. Er werde, sagt er, „noch heute“ dem Vorstand vorschlagen, dem Anwalt das Mandat zu entziehen.

Dieser zweite Verhandlungstag findet ohne den Angeklagten statt, nachdem sich Paul E. am Morgen erneut krank gemeldet hat. Sein Verhalten gilt als unentschuldigtes Fernbleiben. Denn dem Amtsarzt, der laut Gericht überprüfen soll, ob der Angeklagte wirklich verhandlungsunfähig ist, öffnet der 55-Jährige nicht, läuft aber hörbar in der Wohnung auf und ab. Als der Gutachter schließlich in das Zuhause von Paul E. gelangt, mit Hilfe eines Schlüsseldienstes und unterstützt von mehreren Polizisten, findet er den Mann unter dem Küchentisch vor. Ein massiver Schwächeanfall, so soll es wohl aussehen, vielleicht auch eine schwere Krankheit.

Für den Gutachter deutet indes einiges darauf hin, dass der Jurist simuliert. Vorsichtshalber verfügt der Amtsarzt eine Einweisung in eine Klinik. Schon am nächsten Morgen steht Paul E. wieder auf der Matte, als Verteidiger in seinem Schwurgerichtsprozess, wo das Urteil verkündet wird. Und Anfang Januar soll sein eigenes Verfahren fortgesetzt werden. Neues Jahr – neues Glück? Für Paul E. wohl eher nicht. Ihm droht eine Freiheitsstrafe.