Hamburg. Sie sind gar nicht so biologisch arm wie gedacht. Sie zählen bis zu 400 Arten. Je seltener man mäht, desto größer die Vielfalt.
Schön ist was anderes, dachte ich, leicht deprimiert. Traurig sah er aus, der Rasen in unserem kleinen Mühlenpark im Wendland. Gut, unser Rasen ist kein Zierrasen, wie man ihn aus den Prospekten der Gartenindustrie kennt. Mehr Wiese. Weil meine Frau Anke Gänseblümchen (Bellis perennis) so sehr liebt, hatte ich sogar eigens welche gepflanzt. Nur Rasen, fand sie, sei eine ökologische Wüste. Ich hatte auch Wildblumensamen unter die Saatmischung gemixt. Und Klee. Hab ich schon erwähnt, dass wir, rein gärtnermäßig, blutige Laien waren – damals vor fast 20 Jahren, als wir mit der Anlage unseres Mühlenparks begannen? Wildkräuter musste man mit der Lupe suchen, nach drei bis vier Jahren bestand der Rasen nur noch aus Klee – und fetten Nestern aus Löwenzahn.
Er habe da was, nahm mich mein Nachbar, ein Landwirt, zur Seite. Ich fragte vorsichtshalber nicht nach. Als Anke mal nicht da war, streute er die fast 500 Quadratmeter mit irgendwas ein, was wohl eine chemische Keule war. Der Klee war, ruck, zuck, fast weg, Gänseblümchen und Löwenzahn blieben. Mit den Gänseblümchen habe ich meinen Frieden gemacht, mit dem Löwenzahn nicht. Der wird erbarmungslos ausgestochen, nur Restexemplare überleben. Die dürfen blühen, bis ich mit der Akku-Sense komme, damit der Wind die Samen der Pusteblume nicht verstreuen kann.
Ist unser Rasen also eine ökologische Wüste? Lange habe ich das gedacht – bis ich auf den Wissensseiten der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) von einer Studie der TU Braunschweig las. Die Abteilung Pflanzenbiologie, die sich schon seit Längerem mit der „synanthropen“, also der von Menschen beeinflussten Vegetation befasst, hatte sich unter anderem in Braunschweig 30 häufig gemähte Rasenflächen genauer angeschaut. Solche Scherrasen-Gesellschaften, wie das botanisch heißt, „stehen ja nicht gerade in dem Ruf, Juwelen der Vielfalt zu sein“ (FAZ). Sie zählten, das haute mich wirklich um, 426 Arten. Hauptsächlich Gräser und Kräuter, denen der Rasenmäher nix anhaben kann. Als sogenannte Hemikryptophyten kauern dicht am Boden oder überleben als kurzlebige, meist einjährige Therophyten, die bei passender Gelegenheit, also entsprechendem Wetter, blitzschnell aufblühen, um gleich wieder Samen zu verbreiten.
Samen sind widerstandsfähig
Diese Samen können jahrelang unter widrigsten Bedingungen wie Trockenheit, extremer Hitze oder Kälte überleben, manchmal sogar jahrzehntelang. Die Älteren unter uns können sich vielleicht noch an den 1953 entstandenen Dokumentarfilm „Die Wüste lebt“ erinnern, den ich in meiner Schulzeit im Biologie-Unterricht gesehen habe. Die Jüngeren vielleicht an Berichte über die Atacama-Wüste in Chile und Peru, wo es nur alle fünf bis zehn Jahre regnet. Wenn, dann verwandelt sich der unwirtliche Landstrich, in dem Astronauten die Landung auf fernen Planeten trainieren, mit einem Schlag in eine blühende Landschaft.
An dieses Wunder der Natur habe ich da manchmal gedacht, als in diesem Sommer unser Rasen immer unansehnlicher wurde – braun, mit vielen kahlen Stellen. Schon im Oktober, nach den ersten kräftigen Schauern, war alles wieder grün. Keine braunen Stellen mehr, die Gänseblümchen blühten, sogar noch bis Anfang Dezember. Ich weiß jetzt auch nicht mehr, welche Rasenmischung wir mal gesät haben. Beim Bundessortenamt sind 350 verschiedene Rasengräser gelistet. Jährlich kommen Dutzende hinzu.
Zu den wichtigsten Grasarten gehören Rotschwingel, Wiesenrispe und das Deutsche Weidelgras (Lolium perenne), das in nahezu jeder Mischung enthalten ist. Es wächst in Horsten und treibt über kurze Ausläufer neue Tochterpflanzen. Die unterirdischen Rhizome überleben auch Trockenheitsperioden. Ungeschnitten kann das Weidelgras, das es von Sibirien bis zum Himalaja gibt, 70 Zentimeter hoch werden. Weil es trittfest ist, wird es gern in öffentlichen Anlagen verwendet. Quecke, Malven- oder Hirsearten kommen von allein dazu.
Um all die Pflanzen im Rasen zu erkennen, muss man schon Botaniker sein. Und wer nicht gerade Anhänger des Zierrasens nach englischer Art ist, kann aus seiner Grünfläche ein Biotop botanischer Vielfalt werden lassen. Geht ganz einfach: weniger mähen. Forscher der Uni Massachusetts haben in dem US-Staat 16 ganz normale Vorgärten untersucht. Wer nur alle 14 Tage den Rasenmäher anwirft, bietet Bienen und Schmetterlingen zweieinhalbmal mehr Blüten als bei einer wöchentlichen Mahd, schreiben die Forscher im Fachjournal „Biological Conservation“. Danach wären faule Gärtner gut für die ökologische Vielfalt. Ach.
Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth