Hamburg. Vor 40 Jahren versank das hochmoderne Schiff von Hapag-Lloyd mit 28 Menschen an Bord. Es dauerte lange, bis man wusste, warum.
Bordfunker Jörg Ernst vertreibt sich die Nacht auf dem Hapag-Frachter „München“ mit Klönschnack. Auf einer speziellen Frequenz, der „Quatschwelle“, morst er einen Freund auf dem viele Seemeilen entfernten Bremer Kreuzfahrtschiff „Caribe“ an. Das Wetter sei sehr schlecht, eine Welle habe sogar ein Bullauge zerschlagen, sonst sei aber alles okay.
Drei Stunden später, um 3.25 Uhr, meldet sich der Funker erneut. Diesmal aber kommt er auf der Notfrequenz 500 Kilohertz. Es ist ein Hilferuf in höchster Verzweiflung. Ein Kollege auf dem griechischen Frachter „Marion“ fängt die schwachen SOS-Signale auf. Ernst schafft es gerade noch, das Kennwort DEAT und die Position durchzugeben: 46°15’ nördliche Breite; 27°30’ westliche Länge. Dann bricht der Kontakt ab. Die „München“ schweigt für immer.
In dieser Nacht, am Mittwoch, dem 12. Dezember 1978, geht das hochmoderne Großschiff mit 28 Besatzungsmitgliedern nördlich der Azoren unter. Die Rettungsaktion mit 13 Flugzeugen und bis zu 110 Schiffen endet nach zehn Tagen ohne Erfolg. Drei Leichter, vier unbenutzte ölverschmierte Rettungsinseln, ein zerstörtes Rettungsboot und eine Notfunkbake – das ist alles, was von der „München“ bleibt.
Einziger LASH-Carrier unter deutscher Flagge
Kein Überlebender kann berichten, was damals wirklich geschah. Verrutschte die Ladung und brachte das Schiff zum Kentern? Brach das Schiff durch? Das Seeamt Bremerhaven kommt im Sommer 1980 zu einem ganz anderen Ergebnis. Doch erst moderne Forschungsergebnisse liefern eine wirklich überzeugende Erklärung.
Die „München“ ist der einzige LASH-Carrier unter deutscher Flagge. Auf dem 261 Meter langen „Lighter Aboard Ship“ hievt ein Bordkran schwimmfähige Container aus dem Wasser und staut sie quer zur Fahrtrichtung an Deck. Die Leichter oder Bargen sind 10 x 19 Meter groß und wiegen bis zu 460 Tonnen. Sie werden in Flusshäfen an Rhein oder Weser beladen und dann in die Seehäfen geschleppt.
Das neuartige System verlangt besondere Vorsicht. Eine Risikomitteilung der Versicherung warnt, den binnenländischen Beladern seien die Anforderungen an die Stauung im Seetransport „nicht immer bewusst“.
Am 7. Dezember läuft die „München“ in Bremerhaven nach Savannah (US-Staat Georgia) aus. Auf Deck sind 83 Leichter gestapelt, davon 60 mit Maschinen und Stahlprodukten. Kapitän Johann Dänekamp hat den sechs Jahre alten 37.000-Tonnen-Frachter schon zwölfmal über den Nordatlantik gefahren. Seine 13. Tour führt bald in schwere See. Über den östlichen Nordatlantik türmt ein Orkan bis zu 16 Meter hohe Wellen auf.
Rettungsboot lieferte Hinweise auf die Ursache
Für Großschiffe solchen Kalibers eigentlich kein Problem. Allerdings wissen Experten aus Modellversuchen: Bei schwerem Seegang können die „München“ und ihr baugleiches Schwesterschiff „Bilderdyk“ im Bereich der Brücke „Grünes Wasser“ nehmen. Demnach sind dort harte Seeschläge möglich, die schon mal Scheiben eindrücken und sogar Aufbauten abreißen können.
Das Rettungsboot der „München“ hängt in 20 Metern Höhe auf der Steuerbordseite an Metallbolzen. Als es gefunden wird, sind die dicken Bolzen total nach hinten verbogen. Berichte über Brecher von solcher Kraft gelten damals noch als Seemannsgarn. Trotzdem kommt das Seeamt Bremerhaven zu dem Schluss, eine ungewöhnlich hohe Welle habe die Brücke getroffen und damit die schweren Schäden verursacht, die schließlich zum Untergang führten.
Die These wird lange angezweifelt. Stattdessen machen fantastische Begründungen bis hin zum Zusammenstoß mit einem U-Boot die Runde. Erst Jahre später, in der Neujahrsnacht 1995, dokumentiert die automatische Wellenmessanlage der norwegischen Ölbohrplattform Draupner-E in der Nordsee eine 26 Meter hohe Woge.
Es gibt sie also doch, die sagenhaften „Monsterwellen“! Und als kurz darauf, am 11. September 1995, der britische Luxusliner „Queen Elizabeth 2“ über der Neufundlandbank von einer 30 Meter hohen Monsterwelle überrollt und stark beschädigt wird, gilt auch das Schicksal der „München“ als möglicherweise geklärt. Doch was passierte genau?
Etwa um 3.20 Uhr treffen mehrere 25 bis 35 Meter hohe Riesenwogen die Brücke, wird das Seegericht später festhalten. Danach liegt das Schiff mit 50 Grad Schlagseite in der tobenden See. Einen solchen Neigungswinkel, da sind sich die Experten einig, kann das Schiff nicht halten, ohne zu kentern. Weil der Strom sofort ausfällt, funktioniert der Antrieb nicht mehr. Damit ist das Schiff manövrierunfähig. Der Funker kann keine Funksprüche mehr empfangen und seine Hilferufe nur noch mit stark verminderter Leistung absetzen.
Die Brücke ist so stark zerstört, dass die Besatzung in den Maschinenraum flüchtet. Dort harren 21 Deutsche, darunter zwei Stewardessen und die Ehefrau eines Offiziers, mit zwei Österreichern, zwei Türken sowie je einem Spanier, Chinesen und Malaien aus. Sie hoffen, dass Ernsts SOS-Signal irgendwo angekommen ist. Überprüfen können sie das nicht: Sie sitzen ohne Strom in Kälte und Dunkelheit, bis ihr Schiff in die Tiefe sinkt.
Helmut Schmidt ließ Bundesmarine weitersuchen
Später stellt sich heraus: In seiner Panik hat der Funker offenbar falsche Koordinaten durchgegeben. Deshalb suchen die Retter 180 Kilometer zu weit nördlich. GPS oder Satellitentelefonie gibt es damals noch nicht.
Bei der Rettungsaktion machen alle Schiffe mit, die zu dieser Zeit auf der stark befahrenen Route nördlich der Azoren unterwegs sind. Um ein möglichst großes Gebiet überprüfen zu können, fächern sie eine Suchkette mit Abständen von jeweils fünf Kilometern auf. Die zehn deutschen Flugzeuge starten von Land’s End an Englands Westspitze und dem US-Stützpunkt Lajes Field auf den Azoren. Als der internationale Einsatz am 20. Dezember aufgegeben wird, befiehlt Bundeskanzler Helmut Schmidt der Bundesmarine, noch zwei Tage lang weiter zu fliegen – vergeblich. Wo genau die „München“ unterging und wo das Wrack liegt? Niemand weiß es. Der Atlantik ist in diesem Seegebiet fast 6000 Meter tief.