Hamburg. Erster Praxistest für die direkte Demokratie auf Bezirksebene. In Niendorf wollten Bürger Grünflächen retten.

Der Start war wenig spektakulär und das Ergebnis streng genommen ein Flop: Vor genau 20 Jahren, am 19. Oktober 1998, reichte die Initiative „Niendorfer für den grünen Ring“ das erste Bürgerbegehren in Hamburg ein. Erstmals wehrten sich Bürger auf Bezirksebene mit den Mitteln der direkten Demokratie – nicht mit einer Demons­tration oder einer Klage vor dem Verwaltungsgericht, sondern auf gesetzlicher Grundlage in einem geregelten Verfahren – gegen eine Entscheidung der Politik und der Verwaltung.

Die Bezirksversammlung Eimsbüttel hatte beschlossen, mit dem Bebauungsplan „Niendorf 83“ auf einer grünen Wiese im Bereich Wendlohstraße/Hadermanns Weg 60 Eigentumswohnungen zu errichten. Das wollte die Initiative verhindern, denn die 12.000 Quadratmeter große Fläche war Teil des „grünen Rings“, einer Anzahl zusammenhängender Grünflächen nördlich des Niendorfer Zentrums. Das nicht bebaute Areal war schon 1961 als Grün- und Erholungsfläche ausgewiesen. Das erste Bürgerbegehren war ein klassischer Fall der direkten Demokratie: Anwohner wollen ihre als attraktiv empfundene (grüne) Umgebung erhalten und wehren sich gegen geplante Veränderungen.

Die Niendorfer waren schnell. Das Gesetz zur Einführung von Bürger­begehren und -entscheiden hatten die Hamburger erst kurz zuvor, am 27. September 1998, in einem Volksentscheid beschlossen, in Kraft war es vom 6. Oktober 1998 an. Ein halbes Jahr hatte die Initiative „Niendorfer für den grünen Ring“ Zeit, um die Unterschriften von mindestens drei Prozent der wahlberechtigten Einwohner des Bezirks Eimsbüttel zu sammeln. Im Erfolgsfall würde sich ein Bürgerentscheid anschließen, bei dem die Mehrheit der abgegebenen Stimmen den Ausschlag geben würde.

Bezirksamt setzte Zahl der Stimmen herauf

Es kam anders. Als die Initiatoren ihre Unterschriften Anfang März beim Bezirksamt Eimsbüttel abgaben, waren sie zwar voller Zuversicht, schließlich unterstützten angeblich rund 7000 Eimsbütteler den Erhalt der Wiese – weit mehr als die 5580 Einwohner, die nach der Dreiprozentregel erforderlich waren. Doch die genaue Nachzählung im Bezirksamt ergab, dass offensichtlich etliche­ Bürger doppelt unterschrieben hatten, nicht im Bezirk wohnten und also nicht stimmberechtigt waren oder keine vollständigen Angaben gemacht hatten.

Bei der ersten Auszählung verfehlte das Bürgerbegehren das Quorum nur äußerst knapp um zwölf Stimmen. Eine von der Initiative durchgesetzte zweite Zählung kam auf 5700 Unterschriften. Doch jetzt hatte das Bezirksamt die Zahl der Einwohner aufgrund von Zuzügen noch einmal aktualisiert und gab nun plötzlich ein Quorum von 5857 Unterschriften vor. Das Bürgerbegehren war gescheitert. Eine Klage vor dem Verwaltungsgericht wurde abgewiesen. Trotzdem konnten die Initiatoren am Ende einen Teilerfolg verbuchen: In Verhandlungen mit der Bezirksversammlung wurde ein Kompromiss erzielt: Zwei Drittel der Fläche wurden bebaut, ein Drittel als öffentlicher Park genutzt.

Matthias Petzold und Tobias Rieger waren die Köpfe des ersten Bürgerbegehrens 1998.
Matthias Petzold und Tobias Rieger waren die Köpfe des ersten Bürgerbegehrens 1998. © Michael Zapf

Schwierigkeiten und Verlauf des ersten Bürgerbegehrens waren symptomatisch für die Anfangsphase. Dass die Bezirksverwaltungen­ die neue Form direkter­ Bürgerbeteiligung begeistert aufgenommen hätten, lässt sich nicht direkt­ behaupten. „Die Situation war in den Bezirken sehr unterschiedlich, in Wandsbek lief es von Beginn an gut, in Altona gab es große Widerstände“, sagt Manfred Brandt, Gründer und bis heute Motor des Vereins „Mehr Demokratie“. Der Verein hatte die Volksinitiative zur Einführung von Bürgerbegehren auf den Weg gebracht und war maßgeblich an der Ausgestaltung der Volksgesetz­gebung und des Wahlrechts beteiligt.

Bis heute 144 Verfahren

Brandt erzählt, wie anfangs um die Gültigkeit von Unterschriften gerungen wurde. „Da ging es darum, ob eine Unterschrift leserlich war und alle Angaben vollständig. Die Praxis der Anerkennung war nicht einheitlich“, sagt Brandt. Einige Bezirksämter seien sehr penibel, andere etwas konzilianter gewesen.

Seine Forderung wird jetzt erfüllt: Die Stadt kauft die Fernwärme zurück.
Seine Forderung wird jetzt erfüllt: Die Stadt kauft die Fernwärme zurück. © dpa | Georg Wendt

Trotz aller Hürden und Hemmnisse haben die Hamburger von der direkten Demokratie auf Bezirksebene regen Gebrauch gemacht. „Mehr Demokratie“ zählt bis heute 144 Verfahren, die regional sehr unterschiedlich verteilt sind: Wandsbek ist mit 42 Bürgerbegehren Spitzenreiter, Mitte mit sieben Schlusslicht. Nur in 27 Fällen kam es zum Bürgerentscheid, wobei das Anliegen in gut 55 Prozent der Verfahren eine Mehrheit fand, also angenommen wurde. Bei den Bürgerbegehren setzten sich die Initiatoren in rund 45 Prozent der Fälle formal durch, weil die erforderliche Zahl der Unterschriften erreicht wurde. Bei einem Drittel der Fälle übernahm die Bezirksversammlung das Anliegen, sodass ein Bürgerentscheid entfiel.

Bürgerentscheide sind nicht verbindlich

Das Problem liegt aus Sicht von „Mehr Demokratie“ an einer anderen Stelle. Bürgerbegehren und -entscheide sind im Gegensatz zu Volksentscheiden auf Landesebene nicht verbindlich. Die Bezirksversammlungen können die Forderungen übernehmen oder Kompromisse schließen, müssen aber nicht. Und: Der Senat kann Entscheidungen „evozieren“, also an sich ziehen und selbst entscheiden. „Wir haben als Einheitsgemeinde keine kommunale Ebene mit abschließender Kompetenz. Bürgerentscheide können so ausgehebelt werden, seit 2012 auch zunehmend durch fachliche Weisungen des Senats. Das erzeugt alles sehr viel Frust“, sagt Brandt.

Manfred Brandt und Angelika Gardiner vom Verein „Mehr Demokratie“.
Manfred Brandt und Angelika Gardiner vom Verein „Mehr Demokratie“. © picture alliance / dpa

Finanz- und Bezirkssenator Andreas Dressel (SPD), der als Abgeordneter aufseiten der Bürgerschaft an der Volks­gesetzgebung mitgewirkt hat, zieht ein anderes Fazit: „Ich habe den Eindruck, dass die Einführung von Bürgerbegehren und -entscheiden dazu geführt hat, dass heute bei Planungen viel stärker und viel früher der Dialog gesucht wird.“ Das Evokationsrecht sei aber im Stadtstaat Hamburg „letztlich eine unverzichtbare Ergänzung“, auch wenn es besser sei, strittige Fragen konsensual zu lösen. Die ehrgeizigen Ziele beim Wohnungsbau etwa seien nur erreichbar, wenn Hamburg eine Einheitsgemeinde bleibe.

Auch deswegen fällt Brandts Bilanz nach 20 Jahren Bürgerbegehren eher negativ aus: „Wir sind heute schlechter dran als vor zehn Jahren.“