Hamburg. Vor 100 Jahren vereinbarte Carl Legien mit dem Großindustriellen Hugo Stinnes neue Rechte für die deutschen Arbeiter.
Auf den ersten Blick sind die Gegensätze dieser beiden Männer extrem. Da ist der Großunternehmer und Multimillionär Hugo Stinnes, der neben den Krupps und Thyssens zum Inbegriff des Ruhr-Industriellen geworden war. Und da ist der Hamburger Drechsler-Geselle Carl Legien, aufgewachsen im Waisenhaus, der zum Inbegriff des Gewerkschaftsführers geworden war. Das Dokument, das die beiden Männer am 15. November 1918 im Berliner Hotel Continental unterschreiben, trägt ihre Namen und ist als Stinnes-Legien-Abkommen in die Geschichte eingegangen. Und nicht wenige meinen, dass Deutschland ohne dieses Abkommen im Bürgerkrieg versunken wäre.
Einschneidende Wirkung hat es bis heute. Der Achtstundentag, die Tarifautonomie, die Wahl von Betriebsräten – was heute so selbstverständlich scheint, wurde vor 100 Jahren erstmals vereinbart. Dass sich die Arbeitgeber auf all das einließen, was sie zuvor noch als sozialistischen Wahnsinn verteufelt hatten, erklärt sich mit einem Wort: Panik.
Schon 1917 hatten Wirtschaftsvertreter das Gespräch mit den Gewerkschaften gesucht. Der Weltkrieg dauerte schon drei Jahre, und den Unternehmern war klar, dass ein vergleichsweise reibungsloser Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft ohne die Mitwirkung der Arbeitervertreter kaum möglich wäre. Allerdings gingen sie noch davon aus, dass es ein Siegfriede sein würde – und kein Zusammenbruch, wie er dann im Herbst 1918 geschah.
Stinnes war kein Fantast
Auch Hugo Stinnes war im Krieg zum Annexionspolitiker geworden. Hatte ihn der Kriegsausbruch 1914 noch entsetzt (auch weil sein Konzern international stark verflochten war), mutierte er später zum Falken. Er forderte die „Germanisierung“ der belgischen Industrie und war führend daran beteiligt, 20.000 Belgier als Zwangsarbeiter nach Deutschland zu verschleppen. Doch Stinnes war kein Fantast. Als Ende September 1918 die deutschen Militärs die Niederlage für unabwendbar erklärten, versuchte Stinnes zu retten, was zu retten war – und ihm war klar, dass das nur mit Zugeständnissen an die Gewerkschaften ging.
Deren unumstrittener Führer war Carl Legien. Mit sechs Jahren war er Waise geworden und in ein Heim in Thorn im heutigen Polen gekommen. Mit 13 begann er eine Drechsler-Lehre, ging anschließend zum Militär und dann als Geselle auf Wanderschaft, bis er sich 1886 in Hamburg niederließ. Noch im selben Jahr wurde er Vorsitzender der Drechsler-Gewerkschaft in Hamburg, gründete 1887 einen landesweiten Verband und übernahm auch dort den Vorsitz. Und schon 1890 war er Chef der neuen Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands mit Sitz in Hamburg, einem Vorläufer des DGB.
Für Gewerkschaften war es ein Triumph
Auch Legien wandelte sich: vom marxistischen Kämpfer für die reine Lehre („Zwischen Proletariern und Unternehmern gibt es nur sozialen Krieg“, sagte er in jungen Jahren) zum Pragmatiker, dem die konkrete Verbesserung der Lebensumstände der Arbeiter wichtiger war als schöne Theorien vom kommunistischen Idealzustand. Doch grundsätzliche Forderungen wie Koalitionsfreiheit, Achtstundentag und Tarifverträge für alle Branchen waren bislang ins Leere gelaufen.
Auch bei den Verhandlungen im Herbst 1918 schien es so, als ließe sich das erneut nicht durchsetzen. Am 8. November gab es einen unterschriftsreifen Entwurf. Dass dieser so nicht unterzeichnet wurde, lag an den Vorkommnissen nur einen Tag später: Am 9. November dankte Kaiser Wilhelm II. ab. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann rief die Republik aus, kurz darauf der Kommunist Karl Liebknecht die Räterepublik. Im ganzen Reich bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte, viele träumten von einer Revolution nach russischem Vorbild. Legien stellte weitergehende Forderungen, und Stinnes sowie die anderen Industriellen akzeptierten lieber Tarifverträge und den Achtstundentag, als die Enteignung zu riskieren. Und so war es für die Gewerkschaften ein Triumph, als das Papier am 15. November unterschrieben wurde.
Das sah unter anderem vor, dass die Unternehmen alle heimkehrenden Soldaten (rund sechs Millionen Männer) wieder einstellen mussten – was dann auch geschah. Das hatte einerseits zur Folge, dass Millionen Frauen, die während des Krieges die Arbeitsplätze ihrer Männer eingenommen hatten, nun wieder „an den Herd geschickt“ wurden. Andererseits entstand aber kein Heer traumatisierter und enthemmter arbeitsloser Ex-Soldaten.
Das, so urteilen Historiker, hätte die Wahrscheinlichkeit sozialer Unruhen, einer bolschewistischen Revolution und eines anschließenden Bürgerkrieges dramatisch erhöht. Das Stinnes-Legien-Abkommen habe als „Bollwerk“ dagegen gewirkt. Carl Legien träumte zwar weiter von einer sozialistischen Gesellschaft, die die krassen sozialen Gegensätze überwindet – einer „Diktatur des Proletariats“ konnte er aber nichts abgewinnen. „Wir sind Demokraten, nicht nur Sozialdemokraten“, sagte er.
Stinnes benannte eines seiner Schiffe nach Legien
Das Abkommen zeigte Wirkungen. Schon im Frühjahr 1919 war das Sechs-Millionen-Heer vollständig demobilisiert; die Soldaten gingen an ihre Arbeitsplätze und zu ihren Familien zurück. Im Laufe des Jahres wurden Dutzende Tarifverträge in verschiedenen Branchen abgeschlossen, der Achtstundentag war flächendeckend eingeführt.
Aber es zeigte sich, dass es nicht nur für die Gewerkschaften ein Abkommen auf Zeit war – auch die Unternehmer warteten nur auf die Gelegenheit, das Rad der Zeit zurückzudrehen. Stinnes selbst war es, der 1923 den „Ruhrkampf“ dazu nutzte. Weil Deutschland mit Reparationszahlungen im Rückstand war, besetzten die Franzosen das Ruhrgebiet. Es kam zum passiven Widerstand und zu Massenstreiks – die Reichsregierung bezahlte die Arbeiter, indem sie die Gelddruckpressen anwarf und so eine Hyperinflation auslöste. Stinnes nutzte die Notsituation, um den Achtstundentag wieder abzuschaffen. Dennoch waren die Gewerkschaften als gleichberechtigter Verhandlungspartner etabliert.
Carl Legiens größte Stunde aber war der Generalstreik im März 1920. Der Deutschnationale Wolfgang Kapp putschte mit Unterstützung der Reichswehr und erklärte sich zum Reichskanzler. Während die Regierung floh und paralysiert war, rief Legien zum Generalstreik auf, an dem sich auch nahezu alle Beamten und die christlichen Gewerkschaften beteiligten. Kapp musste fliehen – und fand Asyl im schwedischen Sommerhaus von Hugo Stinnes.
Legien starb Ende 1920 im Alter von 59 Jahren – er hatte ein Magengeschwür viel zu spät behandeln lassen. Stinnes stieg zum mächtigsten Industriellen Deutschlands auf. Ein Schiff seiner Handelsflotte benannte er nach General Ludendorff, der auch am Kapp-Putsch beteiligt war – ein anderes nach Carl Legien. Stinnes verstand es sogar, aus der Inflation Gewinn zu zielen. 1923 war er als „neuer Kaiser von Deutschland“ auf dem Titel von „Time“ zu sehen. Doch im April 1924 starb er 54-jährig an den Folgen einer fehlgeschlagenen Bauchoperation. Sein Imperium zerbrach rasch an der Unfähigkeit seiner Erben.