Hamburg. Vor den Bezirkswahlen 2019 werden „Ärger-Punkte“ wie die schlechte Baustellenkoordination in Hamburg abgeräumt.

Von Bombenstimmung zu sprechen, wäre in diesem Fall wohl nicht angebracht. Während Bürgermeister Peter Tschentscher am Mittwoch im Energiebunker in Wilhelmsburg die „Fahrradwerkstatt“ leitete, wurde nur wenige Hundert Meter entfernt eine alte Weltkriegsbombe gefunden, die später unter großen Sicherheitsvorkehrungen entschärft werden musste. Sehr gut war die Stimmung in der Runde der mit Radverkehr befassten Behördenvertreter im achten Stock des Bunkers dennoch. „Wir sind auf dem Weg zu einer fahrradfreundlichen Stadt“, bilanzierte Tschentscher zufrieden und präsentierte allerlei Fakten aus einem mehr als 100 Seiten dicken Bericht, den das „Bündnis für den Radverkehr“ erstellt hat.

Ein Wort jedoch benutzte er nicht: „Fahrradstadt“. Auf die Frage, ob er das vom grünen Koalitionspartner immer wieder propagierte Ziel teile, Hamburg zur „Fahrradstadt“ zu machen, wich der Bürgermeister geschickt aus: Das sei „nicht das Ziel einer Partei“, so Tschentscher, sondern mit dem Ausbau der Radwege komme der Senat dem Wunsch vieler Bürger nach. Das belege eine aktuelle Umfrage.

Auch als er gefragt wurde, welche Zielmarke er sich für den Radverkehrsanteil – der seit 2002 von neun auf 15 Prozent gestiegen ist – setze, zeigte sich Tschentscher geschmeidig. Die Stadt könne nur ein möglichst gutes Angebot schaffen, sagte er. Wie hoch der Anteil werde, hänge davon ab, „wie die Menschen das annehmen“.

Bürgermeister meidet Wort „Fahrradstadt“

Interessant daran: Im Koalitionsvertrag von SPD und Grünen gibt es ein eigenes Kapitel mit der Überschrift: „Hamburg wird Fahrradstadt“. Man sei sich einig, heißt es dort, „den Radverkehrsanteil in den zwanziger Jahren auf 25 Prozent zu steigern“. Zu behaupten, Tschentscher rücke davon ab, wäre jedoch zu einfach.

Nicht nur die Grünen registrieren erfreut, dass der Bürgermeister, viel stärker als sein Vorgänger Olaf Scholz, grünen Themen sehr zugeneigt ist und auch im kleinen Kreis gern betont, wie sinnvoll und vergleichsweise günstig es doch sei, den Radverkehr zu fördern. Allerdings achtet Tschentscher im Gegenzug sehr genau darauf, bei den Bürgern nicht den Eindruck zu erwecken, er bevorzuge ein Verkehrsmittel oder wolle gar die Nutzung von oben verordnen. Daher steht das bei der SPD nie sonderlich beliebte Wort „Fahrradstadt“ mittlerweile auf dem Index.

Sechs Monate vor den wichtigen Bezirkswahlen, bei denen die Sozialdemokraten die Vorherrschaft in allen sieben Bezirken verteidigen müssen, ist die Partei ohnehin auffällig bemüht, alles zu vermeiden, was die Bürger verärgern könnte – beziehungsweise möglichst viel von dem zu tun, was die Wähler mutmaßlich goutieren. Prägnantestes Beispiel dafür ist die Baustellen-Koordination. Zu Scholz’ Zeiten herrschte noch die Haltung: „Die CDU hat die Straßen verloddern lassen, wir bringen das jetzt in Ordnung, daher gibt es halt viele Baustellen, die Leute sollen sich gefälligst darüber freuen, anstatt zu meckern.“ Doch mittlerweile ist bei den Genossen die Einsicht gereift, dass es den Bürgern relativ egal ist, warum sie im Stau stehen oder warum ihr Stadtteil wochenlang abgesperrt ist – es ärgert sie einfach, dass die Baustellen oft schlecht aufeinander abgestimmt sind.

Kurswechsel bei Baustellen

Eingeleitet wurde dieser Kurswechsel auf einer Bezirke-Klausur der SPD im September. Damals wurden mehrere „Ärger-Punkte“ benannt, die gelöst werden müssten. Unter anderem kam der deutliche Hinweis, dass die Baustellen besser koordiniert und die Bezirke daran stärker beteiligt werden müssten. Beschlossen wurde die neue Strategie auf dem SPD-Parteitag im Oktober. Es war der Bürgermeister selbst, der deutlich machte, dass der Frust der Bürger im Rathaus angekommen ist: „Das nervt ja schon“, sagte Tschentscher mit Blick auf die vielen Baustellen – ein selbstkritischer Satz, der seinem Vorgänger nie über die Lippen gekommen wäre.

Mittlerweile haben SPD und Grüne ein ganzes Maßnahmenpaket beschlossen: Unter anderem bekommen die Bezirke eigene Verkehrskoordinatoren, und es soll mehr Schichtarbeit auf den Baustellen geben – wenn sich denn die nötigen Firmen dafür finden. Weitere „Ärger-Punkte“, die auf der Klausur abgeräumt wurden: Die umstrittenen P+R-Gebühren werden gesenkt, und die Anträge der Bürger auf Tempo 30 sollen schneller bearbeitet werden.

Dressel war treibende Kraft bei Hauskauf

Das Bemühen um Bürgernähe hat auch viel mit den (neuen) handelnden Personen zu tun. Im Gegensatz zum sendungsbewussten Scholz, der es gewohnt war, die Richtung vorzugeben, berichten Rathaus-Insider über Tschentscher, dass er sich auch andere Meinungen anhöre und bereit sei, seine zu ändern. So dringen kritische Stimmen eher durch – siehe Baustellen. Auch Sozialsenatorin Melanie Leonhard, die von Scholz den SPD-Vorsitz übernommen hat, drängt intern wie öffentlich immer wieder darauf, sich der ganz konkreten Sorgen der Menschen anzunehmen. Sie hat in dem Zusammenhang auch schon klargestellt, dass sich die SPD nicht als Radfahrerpartei verstehe, sondern alle Verkehrsteilnehmer im Blick habe.

Ein wichtiger Baustein ist auch der neue Finanz- und Bezirkssenator An­dreas Dressel: Er interpretiert seine Rolle deutlich freier als sein Vorgänger Tschentscher und mischt wie früher als SPD-Fraktionschef auf diversen Feldern mit. So hat er das Thema Baustellen mit den Bezirken vorangetrieben und war auch bei einer anderen bedeutenden Entscheidung die treibende Kraft: dem erstmals ausgeübten Vorkaufsrecht der Stadt bei einem Wohnhaus auf St. Pauli.

Weil andere Behörden zögerten, eine umstrittene Wohnungsfirma auszubooten, ließ Dressel den Altbau mit 32 Wohnungen halt durch eine Tochterfirma seiner Behörde ankaufen. Bei den Bürgern kam das an: Auf abendblatt.de begrüßten 80 Prozent die Entscheidung.