Hamburg. Mehr milliardenschwere Entscheidungen, wachsende Belastung der Abgeordneten. Muss das Parlament professioneller werden?

Na gut: Dass manche in der AfD behaupten, unser politisches System sei am Ende, muss einem noch nicht gleich den Schlaf rauben. „Der Verwesungsgeruch einer absterbenden Demokratie wabert durchs Land“, hatte AfD-Führerfigur Björn Höcke kürzlich behauptet. Vielleicht nimmt der thüringische AfD-Chef einen Geruch wahr, der von ihm selbst ausgeht.

Schlimmer scheint anderes: Nicht nur, dass 31 Prozent der Linken- und 41 Prozent der AfD-Wähler gar nicht mit der Demokratie zufrieden sind, wie es die ARD-Sendung „Monitor“ am Donnerstag berichtete – in einem Beitrag, der erschreckende Parallelen zwischen der Endzeit der Weimarer Republik und heute aufzeigte. Sondern auch, dass der Zuspruch zur Demokratie insgesamt zurückgeht. In einer Umfrage stimmten kürzlich nur 59 Prozent der Aussage ganz oder „eher“ zu, sie seien mit der Demokratie „sehr zufrieden“. Ein Jahr zuvor waren es noch 68 Prozent.

Was aber ist die Ursache dieser Krise? Ist es allein das unprofessionelle Gewurstel einer x-ten Immer-weiter-so-GroKo? Oder muss man auch über die Schwäche der Parlamente reden, die solche Regierungen nicht auf den richtigen Weg bringen? „Das Herz der Demokratie schlägt im Parlament, oder es schlägt nicht“, hat Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) gesagt. Dabei musste er auch noch betonen, dass das Parlament nicht Erfüllungsgehilfe der Regierung sei, sondern deren „Auftraggeber“, mithin: oberster Souverän, nicht kleinmütiger Abnicker.

Politikwissenschaftler: Wir haben eine Senatsdemokratie

Im Alltag ist der Eindruck oft ein anderer. Und das hat auch mit der schlechten Ausstattung mancher Parlamente zu tun – womit wir bei der Hamburger Bürgerschaft wären. „Wir haben de facto in Hamburg keine parlamentarische Demokratie, sondern eine Senatsdemokratie“, konstatierte jetzt der Politikwissenschaftler Prof. Elmar Wiesendahl. „Die Bürgerschaft ist so viel schlechter ausgestattet als der Senat, dass sie nicht auf Augenhöhe agieren kann. Sie kann ihren Aufgaben von Kritik und Kontrolle nicht gerecht werden.“

Daher plädiere er dafür, die immer noch als Teilzeitparlament mit berufstätigen Abgeordneten arbeitende Bürgerschaft zu professionalisieren. So nebenbei könnten die Abgeordneten sich nicht tief genug in komplexe, milliardenschwere Themen wie HSH Nordbank oder Fernwärme-Rückkauf einarbeiten. Mögliche Folge sind gravierende Fehlentscheidungen, die der Demokratie insgesamt schaden.

Mit dem Ruf nach Umwandlung der Bürgerschaft in ein Vollzeitparlament knüpft Wiesendahl an die Debatte an, die der Rücktritt der Grünen-Abgeordneten Stefanie von Berg in dieser Woche ausgelöst hat. Die Schulpolitikerin hatte ihr Mandat niedergelegt, weil sie Beruf, Familie und Parlamentsarbeit nicht mehr vereinbaren könne.

30-49 Stunden pro Woche für die Parlamentsarbeit

Tatsächlich ist es für beruflich engagierte Menschen, die nebenbei Wert auf ihr Familienleben legen, kaum noch möglich, sich als Abgeordnete für das Gemeinwesen einzusetzen. Die Bürgerschaftssitzungen beginnen alle zwei Wochen bereits um 13.30 Uhr, die Sitzungen der fast 30 Ausschüsse und Kommissionen starten um 17 Uhr und ziehen sich oft bis spät in die Abende. Dazu kommen Fraktionssitzungen, Einarbeitung in Fachthemen und die Arbeit im Wahlkreis. Fast die Hälfte der Abgeordneten wendet nach Befragungen pro Woche 30–49 Stunden für die Parlamentsarbeit neben dem Vollzeitberuf auf – und das für vergleichsweise mickrige 2833 Euro pro Monat, die niedrigste Diät aller Landtage.

Zwar berät derzeit eine Kommission über eine Erhöhung, manche aber glauben, dass eine Umwandlung in ein Vollzeitparlament bei Reduzierung der hohen Zahl von 121 Abgeordneten die beste Lösung wäre. Die Grünen etwa plädieren dafür. Ihr Fraktionschef Anjes Tjarks will das Ganze sogar zum Wahlkampfthema machen. „Ich denke, wir Grünen sollten die Forderung nach einer Professionalisierung der Bürgerschaft in unser Wahlprogramm für 2020 aufnehmen“, sagte Tjarks dem Abendblatt.

Demokratie macht immer mehr Arbeit

CDU-Fraktionschef André Trepoll hält dagegen nichts von einem Vollzeitparlament. „Im Gegensatz zum Wunsch vieler Grüner wollen bei uns nicht alle Berufspolitiker werden“, so Trepoll. Die Hamburger Teilzeitabgeordneten stünden gerade durch die parallele Berufstätigkeit „mit beiden Beinen im Leben“. Allerdings sei die „Arbeitsbelastung der Parlamentarier enorm gestiegen“, so Trepoll. Sie müssten besser unterstützt werden.

Tatsächlich macht die Demokratie immer mehr Arbeit. Das zeigt sich an der steigenden Zahl von Drucksachen, also Anträgen, Anfragen, Ausschussprotokollen usw. Die liegt mit mehr als 4100 pro Jahr weit über der vieler Berufsparlamente. Bisweilen hat man den Eindruck, die Bürgerschaft arbeite am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Veit: "Spagat zwischen Mandat und Beruf kaum noch tragbar“

Wie mit der stetig steigenden Belastung umzugehen sei, müsse „ausgiebig diskutiert werden“, konstatiert auch SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf. Die „zukünftige Struktur des Parlaments“ könne „eine Frage für die Abgeordneten der nächsten Wahlperiode sein“. Linken-Fraktionschefin Sabine Boeddinghaus fordert ebenfalls eine Debatte über eine Reform. „Eine 80-Stunden-Woche ist vor allem für Abgeordnete der kleinen Fraktionen eher die Regel als die Ausnahme“, so Boeddinghaus.

Die FDP-Fraktionschefs Anna von Treuenfels-Frowein und Michael Kruse fürchten dagegen, dass eine Professionalisierung und Verkleinerung des Parlaments zu noch kleineren Fraktionen führen und die Arbeitsbelastung für die Abgeordneten weiter erhöhen könnte. AfD-Fraktionschef Alexander Wolf will beim Teilzeit-Parlament bleiben, damit „die Parlamentarier nicht die Bodenhaftung verlieren“. Allerdings seien die Fraktionen finanziell viel zu schlecht ausgestattet, um die hohe Belastung etwa durch Zuarbeit von Mitarbeitern abzufedern.

Auch Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) sieht die Probleme. Für viele Abgeordnete sei „der Spagat zwischen Mandat und Beruf kaum noch tragbar“, sagt sie. Deshalb überprüfe nun eine Diätenkommission, „ob die Ausstattung der Abgeordneten der Arbeitsbelastung angemessen ist“, so Veit. „Realistischerweise würde eine Umstellung zum Vollzeitparlament mit der nötigen Änderung der Verfassung und des Wahlrechts mehr als eine Legislaturperiode dauern. Wir brauchen aber zügig einen substanziellen Schritt zur Entlastung der Abgeordneten.“

Morgens um sechs soll nur der Milchmann klingeln

Dass jede Reform gut erwogen sein will, hat einen weiteren Grund: Ein radikaler Umbau würde eine Änderung des Wahlrechts nötig machen – und den Verein Mehr Demokratie auf die Bildfläche rufen. Der könnte das Ganze per Referendum stoppen. Eines ist in der Bürgerschaft weitgehend Konsens: Änderungen sind dringend nötig, wenn das Parlament arbeitsfähig bleiben soll.

„Wenn es morgens um sechs Uhr an meiner Tür läutet und ich sicher sein kann, dass es der Milchmann ist“, hat Winston Churchill einmal gesagt, „dann weiß ich, dass ich in einer Demokratie lebe.“ Insofern gehören zu einem ruhigen Schlaf auch starke Parlamente – als Herz eines politischen Systems, das schlecht sein mag, aber doch besser ist als alle anderen.