Hamburg. Werktags herrscht Flaute. Nur sonnabends drängen sich die Kunden. Was Händler sagen – und wie die Zukunft aussehen könnte.
Jürgen und Ingo sind zweitbeste Freunde. Sagt Ingo jedenfalls. Aber Ingo sagt auch viel, wenn der Tag lang ist. Jürgen sagt jedenfalls, Ingos „Gesabbel“ würde ihm ganz schön auf die Nerven gehen. Als Ingo das hört, ruft er: „Du Ganove, ich mach dich gleich einen Kopf kürzer.“
Clinch unter Freunden? Keinesfalls. Im Grunde nur Zeitvertreib und auch ein bisschen Show. Ingo und Jürgen sind wie Nachbarn, die sich manchmal was über den Gartenzaun zurufen. Zumindest dienstags, donnerstags und sonnabends. Dann stehen sie sich mit ihren Ständen auf dem Wochenmarkt am Goldbekufer in Winterhude gegenüber. Ingo verkauft Gemüse und Obst, Jürgen Backwaren. Sie kennen sich seit vielen Jahren, schnacken gern und liefern sich Wortgefechte, die das Zeug zum YouTube-Hit hätten. Seit einigen Jahren allerdings vor immer weniger Publikum.
Ein Drittel Umsatzminus
Als die beiden im Marktgeschäft anfingen, war der Wochenmarkt noch eine der Haupteinkaufsquellen für viele Menschen. Damals, als das Obst- und Gemüsesortiment vieler Supermärkte noch kleiner war und Mütter auch unter der Woche Mittagessen für die Kinder gekocht haben. Das ist inzwischen lange her. Heutzutage wirken viele Wochenmärkte unter der Woche wie ausgestorben. Wilfried Thal, Vorsitzender des Landesverbands des Ambulanten Gewerbes und der Schausteller (LAGS), schätzt, dass die Märkte in den vergangenen 20 Jahren im Schnitt ein Drittel ihrer Umsätze verloren haben.
Das Problem liegt auf der Hand: Nahezu alles, was es auf Wochenmärkten gibt, ist auch im Supermarkt um die Ecke erhältlich, nur günstiger. Das gilt für Fleisch und Fisch genauso wie für Obst, Gemüse und Blumen – Discounter wie Aldi zählen bekanntermaßen längst zu den größten deutschen Anbietern für Schnittblumen. Nur an den Wochenenden scheint sich die Zeit auf den Wochenmärkten noch einmal zurückzudrehen.
Ein bisschen Lebensgefühl
Auch hier am Goldbekufer. Dann drängt sich gefühlt das ganze Viertel zwischen den Ständen entlang, mit Kinderwagen und Rattankorb, mit Rollator und Hackenporsche. Den Kühlschrank auffüllen fürs Wochenende, noch einen frisch gepressten Orangensaft am Obststand trinken, später noch einen Latte macchiato, dabei Leute treffen, vielleicht auch ein bisschen sehen und gesehen werden. Ein bisschen Lebensgefühl, ein bisschen Lifestyle, ein bisschen Freizeitbeschäftigung.
An diesem trüben Dienstag im November jedoch geht das Lifestyle-Barometer gegen null. Mühelos kann man vom einen Ende des Wochenmarktes am Goldbekplatz bis zum anderen Ende schauen. Das liegt zum einen daran, dass der Markt unter der Woche längst nicht bis zur Geibelstraße reicht, wie sonst am Wochenende, und zum anderen daran, dass einfach kaum Kundschaft da ist, die die Sicht versperren könnte.
Ingo Schwormstedt aus den Vier- und Marschlanden verkauft seit knapp 30 Jahren Obst und Gemüse auf Wochenmärkten, seit sieben Jahren auch auf dem Wochenmarkt am Goldbekufer in Winterhude. Früher verkaufte er mit drei, vier Leuten. Inzwischen wuppt er alles allein. Zumindest unter der Woche. Ein Knochenjob: Aufstehen um 3.30 Uhr, Waren einpacken, auf den Markt fahren, aufbauen, mittags wieder abbauen, einpacken und zurück. Feierabend hat er meist erst irgendwann am Nachmittag.
Viele ältere Verkäufer finden keine Nachfolger mehr
Und an den Umsatz dürfe man an manchen Tagen gar nicht denken. „Neulich habe ich an einem Dienstag 120 Euro eingenommen, früher waren das meist um die 1000 Euro“, sagt der 58-Jährige. Davon ab gehen Spritkosten und vor allem die Standmiete, die dienstags bei 2,80 pro Meter liegt. Und Ingos Stand ist zwölf Meter lang. Auch der schlechteste Rechner muss sich an dieser Stelle fragen, ob das noch lange gut gehen kann. „Man muss immer die Wochenbilanz sehen“, sagt Schwormstedt. „Sonnabends ist ja mehr los. Es reicht schon noch, aber große Sprünge kann ich nicht mehr machen.“
Die Gründe für das schlechter werdende Geschäft kann er hoch und runter erzählen: „Die Konkurrenz durch die Supermärkte ist groß, unter der Woche kocht kaum noch jemand, und die teuren Mieten lassen das Geld knapp werden, und das Geld, das dann noch zur Verfügung steht, geben die Leute lieber für Urlaub aus.“ Aber Schwormstedt hat mit 58 Jahren noch ein paar Jahre vor sich. „Ich muss noch ein bisschen durchhalten“, sagt er.
Weniger Stände
Der Wochenmarkt am Goldbekufer steht stellvertretend für die Entwicklung vieler der rund 80 Wochenmärkte in Hamburg. Zwar sei die Zahl der Wochenmärkte seit vielen Jahren stabil geblieben, die Zahl der Stände aber sei teilweise spürbar gesunken. „Genaue Zahlen haben wir nicht, aber wir wissen, dass bei denen, die aufhören, in vielen Fällen kein Nachfolger nachrückt“, so Verbandschef Wilfried Thal.
Bei Jürgen Berg, Ingos zweitbestem Freund von dem Backwarenstand gegenüber, gibt es mit dem Nachfolger kein Problem. Seine Tochter will den Betrieb künftig übernehmen. Obwohl er ihr mehrfach gesagt habe, dass das „nix mehr ist zum Reichwerden“. Der 78-Jährige kommt an allen drei Markttagen ganz aus Berkenthin bei Lübeck angefahren, wo er die alteingesessene Berkenthiner Dorfbackstube betreibt. Alles, was er verkauft ist, selbst gebacken. „Nach traditionellen Rezepten, die ich in meiner Ausbildung gelernt habe“, versichert er. Früher habe er meist in Lübeck verkauft, aber dann ist er irgendwann auf Hamburg umgestiegen. Die Rechnung dahinter: „Hier gibt’s einfach mehr Menschen, und mehr Menschen erhöhen die Chance auf mehr Umsatz.“ Und tatsächlich würde es hier deutlich besser laufen, aber die richtig guten Jahre seien eben vorbei. Da hilft es wohl auch nichts, dass es bei Jürgen Berg die nach eigenen Worten „besten Franzbrötchen Hamburgs“ gebe.
Ungewöhnliches Sortiment
Den Premium-Platz, das Entree des Marktes, bildet seit 45 Jahren der Blumenstand der Familie Giambrone. Früher wurde die Ware hier ohne großen Schnickschnack aus dem Pappkarton verkauft, heute gibt es einen beheizten festen Stand und Ware, die vor 45 Jahren wahrscheinlich noch keiner gekannt hat. An diesem Dienstag steht hier Rosario Giambrone hinter dem Verkaufstresen. Der 36-Jährige hat den Stand vor ein paar Jahren von seinem Vater übernommen und „erst mal jede Menge umgestellt“. „Die einzige Chance, die wir haben, ist es, Blumen anzubieten, die es in den Discountern nicht gibt“, so Giambrone. Und so hat er in seinem Sortiment viele besondere Züchtungen, außergewöhnliche Farben, Formen und vor allen Dingen große und lange Blumen. „Die Kunden hier haben große Wohnungen mit hohen Decken, darauf haben wir uns eingestellt.“
Und tatsächlich gehen die Amaryllis an diesem Dienstag in Massen über den Verkaufstisch. Giambrone versprüht Optimismus, ein Mittdreißiger mit Geschäftssinn und vielen Ideen. Er will auf jeden Fall dabeibleiben. „Den Stand gebe ich nicht mehr her“, sagt er.
Anders als beim Blumenstand haben Bernd und Angela Wobbe, die alle nur die „Wobbes“ nennen, keinen Nachfolger für ihren Obst- und Gemüsestand gefunden, mit dem sie 48 Jahre lang auf den Goldbekmarkt gekommen sind. Vor ein paar Wochen war dann Schluss. „Wir sind in den verdienten Ruhestand gegangen“, sagt Angela Wobbe. Aber zum Schluss habe es sich ohnehin auch kaum noch gelohnt. „Zuletzt war es so, dass man im Grunde im Sommer schon für den Winter mitverdienen musste, weil die kalten Monate so schlecht liefen.“
„In zehn Jahren ist Schluss mit Wochenmärkten"
Die älteren Kunden, die jahrelang gekommen waren, seien verstorben oder im Heim, und die neue Kundschaft habe „keine Zeit mehr für irgendwas“. „Es hat wirklich viel Spaß gemacht, auch zuletzt noch, und wir hatten viele gute Jahre, aber nun ist es auch gut, dass es vorbei ist“, so die 65-Jährige. Ihre Prognose: „In zehn Jahren ist Schluss mit Wochenmärkten, dann gibt’s die nicht mehr.“
Verbandschef Wilfried Thal sieht das Ganze deutlich optimistischer. „In zehn Jahren wird es auf jeden Fall noch Wochenmärkte geben, aber der Markt der Zukunft wird anders aussehen und auch anders aussehen müssen“, sagt Thal. „Überleben werden vor allen Dingen diejenigen, die Nischenprodukte anbieten, Spezialitäten, die es im Supermarkt nebenan eben nicht gibt.“
Waren, wie es sie an Sonnabenden zum Teil auch am Goldbekufer gibt: italienische Wurstwaren, portugiesisches Gebäck, Delikatessen aus Frankreich und selbst gemachte Pasta. Angebote wie diese hätten wahrscheinlich dazu geführt, dass die Umsätze zuletzt stabil geblieben seien. „Wir haben gute Hoffnung, dass die Talsohle nun durchschritten ist“, sagt Thal.
Trend geht zu kleinerem Angebot
Für Erzeuger von Obst- und Gemüseprodukten aus der Region aber würde es schwierig bleiben. „Der Trend geht weg von den meterlangen Ständen hin zu einem kleineren und speziellerem Angebot.“ Grundsätzlich müsse man sich als Wochenmarkt viel mehr auch als Dienstleister positionieren. Seine Idee: „Die Post könnte zum Beispiel mit einem Postbus auf die Märkte kommen. In Zeiten, wo Filialen schließen, würde das sicher gut angenommen werden. Genauso würde es sicher auch mit einem Stand der Bücherhallen funktionieren“, so Thal. Etliche weitere Beispiele seien denkbar. Konkrete Pläne gebe es zwar nicht. „Aber wer weiß, was sich da in den nächsten Jahren tut.“
Gegen 13 Uhr packen auf dem Goldbekplatz die Händler wieder zusammen. Mal wieder eher ein schlechter Tag. Zudem grau und kalt. „Die Leude sind alle im Urlaub“, glaubt Ingo Schwormstedt vom Gemüsestand. Sein letzter eigener Urlaub ist viele Jahre her. Vier Tage Harz. Und eine Kur hat er auch mal gemacht, aber nach zwei Wochen wieder abgebrochen. „In Gedanken war ich doch immer auf dem Markt“, erzählt er. „Was schnackst du da schon wieder?“, ruft Jürgen rüber. „Das geht dich nix an, du alter Verbrecher“, ruft Ingo zurück und als er gerade ansetzt zu erzählen, wer denn nun eigentlich der erstbeste Freund ist, kommt dann doch endlich mal Kundschaft.
„Mien Deern, was kann ich dir Gutes tun?“ Er verkauft fünf Möhren und eine Gurke. Das wird die Bilanz nicht nach oben reißen. „Aber Spaß macht es mir trotzdem“, sagt Ingo. Und so wie er es sagt, klingt es ganz und gar nicht nach „Gesabbel“. Obwohl Jürgen das bestimmt schon wieder anders sieht.