Hamburg. Vor 150 Jahren gründeten Honoratioren aus Politik, Kultur und Wirtschaft den Verein für Kunst und Wissenschaft.

Der Saal im Victoria-Hotel am Hühnerposten auf den letzten Platz besetzt, die mehr als 100 versammelten Herren zeigten sich in „festlich angeregter Stimmung“, gaben abwechselnd ­ernste Trinksprüche und launige Lieder zum Besten. Ihr Vorsitzender wünschte dem „neuen Unternehmen“, dessen Taufe hier am 10. November 1868 zele­briert wurde, dass es durch die „Thätigkeit“ der jüngeren Generation blühen möge, versäumte es aber nicht, auch „die freudige Theilnahme der Greise“ hervorzuheben. Ein anderer Redner pries die „gute Vorbedeutung“, fiel doch dieser Gründungs-Festakt des Vereins für Kunst und Wissenschaft auf den gleichen Tag wie die Geburt von Martin Luther und Friedrich Schiller.

Es war ein elitärer Club, der sich vor 150 Jahren aufmachte, Hamburger aus den höchsten Kreisen zum gesellschaftlich bedeutendsten Verein der Stadt zu sammeln. Führende Politiker wie Senator Werner von Melle und Bürgerschaftspräsident Hermann Baumeister waren ebenso dabei wie Juristen, Kaufleute, Architekten wie Martin Haller, Künstler, Kunsthallendirektor Alfred Lichtwark und schließlich Wissenschaftler aller möglichen Disziplinen. Bis zu 1200 zählte der Mitgliederbestand, der seine vereinseigene Heimat im Haus der Patriotischen Gesellschaft fand.

Anstoß hatte Adolf Theobald gegeben

Den Anstoß zu dem Bündnis hatte der Bremer Privatgelehrte Adolf Theobald gegeben. Er wollte die geistigen, geselligen und kulturellen Aktivitäten der Oberschicht aus deren privaten Salons herausholen und unter einem Dach bündeln, auf dass sie kraftvoller als bisher in die Stadt hineinwirkten. „Theobald ging bei den Honoratioren regelrecht Klinken putzen, was ja eher unhanseatisch war“, sagt Fridjof Gutendorf. Der pensionierte ehemalige Leiter der Hanseatischen Sparkassenakademie war bei privater Ahnenforschung zufällig auf Adolf Theobald und damit auf den Verein für Kunst und Wissenschaft gestoßen. Inzwischen dürfte Gutendorf der kenntnisreichste Experte für die Geschichte des Vereins sein, der ansonsten völlig in Vergessenheit geraten ist.

Das Lessing-Denkmal, initiiert vom Verein für Kunst und Wissenschaft.
Das Lessing-Denkmal, initiiert vom Verein für Kunst und Wissenschaft. © HA | Andreas Laible

Miete und Umbau der Vereinsräume in der Patriotischen Gesellschaft finanzierte Theobald aus eigener Tasche beziehungsweise aus der seiner Frau. Für die Mitglieder entstanden Leseräume und Bibliotheken mit einem ­beachtlichen Bücher- und Zeitschriftenbestand. Kaufleute trafen sich am Vormittag zum Frühstück und Informationsaustausch, ehe sie hinüber in die Börse gingen.

Der Verein organisierte wissenschaftliche Vorträge zu vielfältigen Themen wie die Dichtungen Heinrich von Kleists, die Todesstrafe aus juristischer Sicht oder die Vorausbestimmung von Erdbeben. Die Referate fanden stets großes Interesse. „Man darf nicht vergessen, dass Hamburg noch keine Hochschule hatte“, betont Gutendorf.

Spottname: „Verein für Punsch und Gerstensaft“

Ebenso förderte der Verein die Künste, lobte Preise für Wettbewerbe aus und lud zu exklusiven Aufführungen in Hamburger Theater. Er arrangierte Gedenkfeiern wie zum 400. Geburtstag von Martin Luther oder das Waldfest zu Ehren Bismarcks in Friedrichsruh. Eine für Oktober 1892 angekündigte 400-Jahr-Feier zu Entdeckung Amerikas musste allerdings abgesagt werden: In Hamburg grassierte die Cholera-Epidemie. Das Fest fand ein halbes Jahr später statt.

Adolf Theobald (1836–1882) gab den Anstoß für die Vereinsgründung vor 150 Jahren.
Adolf Theobald (1836–1882) gab den Anstoß für die Vereinsgründung vor 150 Jahren. © Verein für Kunst und Wissenschaft

Ganz weit oben auf der Agenda des Vereins stand die Geselligkeit. Allem voran waren die prachtvollen Kostümbällen, mit denen er den Karneval in der Hansestadt zu etablieren suchte, legendär in jener Zeit. Über ein Fest im Fe­bruar 1873 berichtete der „Hamburgische Correspondent“ geradezu euphorisch. Man hatte die Sagebielschen Etablissements ebenso kunstvoll wie aufwendig in ein monumentales Schloss verwandelt. 600 Gäste erschienen in den Trachten aller Stände des 17. Jahrhunderts. „Auch die Damen der besten Kreise hatten der Aufforderung zum ­Feste so bereitwillig entsprochen, wie man es wohl kaum gehofft hatte, und waren ebenso zahlreich vertreten wie das starke Geschlecht.“ Ein Wiener Feuilletonist fand angesichts der Vorliebe fürs Feiern den Spottnamen „Verein für Punsch und Gerstensaft“.

Neun Jahre später, 1882, blickte das Motto eines Kostümfestes mit einem Anflug von hellseherischen Fähigkeiten in die Zukunft: „Im Jumbojet zur Weltausstellung 1982 in Hamburg“. Man wollte zeigen, wie sich die Gäste eine Welt in 100 Jahren vorzustellen hätten. Der Jumbo war freilich kein Flugzeug, sondern ein fliegender Elefant mit Passagieren zierte die Eintrittskarten.

Sichtbares Vermächtnis

Eines der wenigen heute noch sichtbaren Vermächtnisse des Vereins ist das Lessing-Denkmal auf dem Gänsemarkt, das anlässlich dessen 100. Todestags 1881 auf seine Initiative dort errichtet wurde. Aus seinen Reihen stammten auch die meisten Mitglieder der Kommission, die über Gestalt und Ausführung zu befinden hatte. Der sitzende Lessing, entworfen vom Berliner Bildhauer Fritz Schaper, bekam gegenüber fünf stehenden Varianten den Vorzug, was eine heftige Debatte in der Stadt auslöste. Darf man den Dramatiker so zeigen, als säße er im Theater und griffe ins Bühnengeschehen ein? Man durfte, die benötigten Spenden kamen nach mehreren Aufrufen zusammen.

Kunstvolle Einladung für eine exklusive Aufführung von Schillers „Die Verschwörung des Fiesco zu Genua“ im Jahr 1906
Kunstvolle Einladung für eine exklusive Aufführung von Schillers „Die Verschwörung des Fiesco zu Genua“ im Jahr 1906 © Staatsarchiv Hamburg

Dass dem Verein für Kunst und Wissenschaft trotz seiner tiefen Verankerung unter Hamburgs Nobilitäten nicht einmal 50 Jahre Existenz beschieden waren, hatte verschiedene Gründe. Einen entscheidenden nennt Fridjof Gutendorf: „Das aufkommende staatliche Vorlesungswesen, das jedermann, nicht nur ein Elitekreis, nutzen konnte, drängte die privaten Expertenveranstaltungen mehr und mehr in den Hintergrund.“ Außerdem übernahm sich der Verein finanziell, als er nach dem Umzug der Bürgerschaft ins neu errichtete Rathaus die frei gewordenen Räume in der Pa­triotischen Gesellschaft mietete und aufwendig renovieren ließ, zugleich aber die zahlenden Mitglieder deutlich weniger wurden. 1912 war der Verein pleite.

Eine andere, grundsätzlichere Ursache für das Scheitern sah der bekannte Kunstkritiker und Mäzen Gustav Schiefler. In einer Abhandlung über Hamburgs Kulturgeschichte 1890–1920 notierte er schonungslos: Im Verein sei keine gleichgeartete gesellige Schicht entstanden. „Gemeinsam war nur das äußere Band, das alle umschlang; es trug den Stempel des im Banausen-Fett schwimmenden Bürgertums der Zeit nach 1870.“