Hamburg . Vor 100 Jahren war Lothar Popp mit Karl Artelt Anführer des Matrosenaufstandes 1918 in Kiel. Am Ende fiel die deutsche Monarchie.

An der Kieler Quelle sprudelte der Quell der deutschen Revolution des Jahres 1918. Von hier aus setzte sich die Welle in Bewegung, die rasch alle scheinbar noch so festen Dämme und Deiche des deutschen Obrigkeitsstaates durchbrach, ganz Nord- und Süddeutschland überflutete und schon nach einer Woche über den Steinmassen Berlins mit brausender Gischt zusammenbrach.“ Mit dieser sehr bildhaften Sprache leitete Bernhard Rausch, damals Chefredakteur der „Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung“, im November 1918 seine Schrift über den Kieler Matrosenaufstand „Am Springquell der Revolution“ ein.

Es waren vor allem zwei Männer, die mit Mut und Entschlossenheit vor 100 Jahren das Ende der Monarchie und die Gründung der ersten deutschen Republik einleiteten. Karl Artelt, der Ma­trose. Und Lothar Popp, der politische Kopf. Sie standen an der Spitze der ­Revolutionsbewegung und waren die Anführer des Kieler Matrosenaufstandes am 3. November, der nur sechs Tage später dazu führte, dass der SPD-Politiker Philipp Scheidemann am 9. November 1918 vom Balkon des Reichstagsgebäudes in Berlin die neue Republik ausrief.

Erster Weltkrieg kostete 17 Millionen Menschen das Leben

Zwei Tage später endet nach vier Jahren der Erste Weltkrieg, der 17 Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Am gleichen Tag unterzeichnen Lothar Popp und der SPD-Politiker Gustav Noske als Gouverneur in Kiel einen gemeinsamen Aufruf: „In Berlin ist eine arbeitsfähige neue Reichsregierung gebildet worden. Eine sozialistische Mehrheit wird mit einigen Fachministern bestrebt sein, mit allem Nachdruck auf das Rascheste wieder Ordnung und geregelten Verkehr in Gang zu bringen, wie mir heute Morgen der Reichskanzler versichern ließ. Eine baldige ungestörte Wirtschaft auf allen Gebieten tritt wieder ein.

Lothar Popp (* 7. Februar 1887 in Furth im Wald; † 27. April 1980 in Hamburg) war ein deutscher Revolutionär und ein Führer des Kieler Matrosen- und Arbeiteraufstands. Passfoto Lothar Popps aus dem Hamburger Staatsarchiv, aufgenommen vermutlich Mitte der 1920er Jahre.
Lothar Popp (* 7. Februar 1887 in Furth im Wald; † 27. April 1980 in Hamburg) war ein deutscher Revolutionär und ein Führer des Kieler Matrosen- und Arbeiteraufstands. Passfoto Lothar Popps aus dem Hamburger Staatsarchiv, aufgenommen vermutlich Mitte der 1920er Jahre. © staatsarchiv hamburg | staatsarchiv hamburg

Der Sieg der sozialistischen Arbeiter und Soldaten ist im ganzen Reiche ein vollständiger. Jede Auflehnung gegen die neue Regierung ist aussichtslos. Die Vertreter bürgerlicher Weltanschauung mögen sich mit Würde und ohne Widerstreben in das Unabänderliche fügen und im Interesse des Reiches und des ganzen Volkes daran mitarbeiten, all das wieder aufzubauen, was in mehr als vierjähriger Kriegsdauer zerstört wurde.“

Lothar Popp kam 1904 mit 17 Jahren nach Hamburg

Wer aber war Lothar Popp, der an entscheidender Stelle mitgeholfen hat, die Monarchie in Deutschland zu beenden und nun den Sieg der sozialistischen Arbeiter und Soldaten verkünden konnte? Der schon zehn Monate zuvor in Kiel den ersten Arbeiterrat in Deutschland gegründet hatte und für seine Überzeugung ins Gefängnis ging? Der für die SPD in der Hamburgischen Bürgerschaft saß, vor den Nazis über Frankreich bis nach New York flüchtete, später nach Hamburg zurückkehrte und auf dem Friedhof Ohlsdorf begraben wurde?

Und wie wichtig war er für die Revolution und den Sturz des Kaisers? „Karl Artelt und Lothar Popp waren die Anführer“, sagt Klaus Kuhl, der seit mehr als 40 Jahren über den Matrosenaufstand forscht. „Artelt war der Agitator, der mutig voranging. Popp aber hatte die größeren intellektuellen und politischen Fähigkeiten und war vielleicht noch wichtiger, weil er im entscheidenden Moment der Verhandlungen dem aus Berlin angereisten SPD-Politiker Gustav Noske, der die Revolution abwürgen wollte, Paroli geboten hat.“ Popp, sagt Kuhl, sei mutig und angstfrei gewesen. „Einer, der keinem Streit aus dem Weg ging.“

Mit 16 Jahren verließ Lothar Popp sein Elternhaus

Lothar Popp ist im Februar 1887 in Furth im Wald zur Welt gekommen, ein kleines Dorf in der Oberpfalz an der tschechischen Grenze. Er besuchte die Volksschule und machte eine Handlungsgehilfenlehre in Augsburg. Mit 16 Jahren verließ er sein Elternhaus, er kam 1904 nach Hamburg und verdiente sein Geld als Straßenhändler. Nachdem sein Vater gestorben war, holte er auch seine Mutter an die Elbe.

Lothar Popp ist in einem katholischen Haus aufgewachsen, trat aber später aus der Kirche aus. Er war ein Freidenker. „Er bezeichnete sich selbst als Pazifisten“, sagt Klaus Kuhl, der 1978 in Hamburg ein langes Gespräch mit Lothar Popp in dessen kleiner Wohnung in der Königstraße 14 nahe der Reeperbahn geführt hatte.

1912 trat der 19-Jährige in die SPD ein

Popp schloss sich deshalb zunächst dem Deutschen Monistenbund an, der 1906 in Jena gegründet worden war und dessen Grundausrichtung internationalistisch und pazifistisch war. Heute würde man wohl sagen: Der 19-jährige Lothar Popp träumte schon Anfang des vergangenen Jahrhunderts von einem multikulturellen Miteinander der Menschen in einer Welt ohne Waffen. Und ist 1912 auch deshalb in die SPD eingetreten, weil ihm imponiert hatte, dass August Bebel und Wilhelm Liebknecht 1870/71 die Kriegskredite verweigert hatten. Als die SPD aber 1914 die Kredite für den Ersten Weltkrieg bewilligte, suchte Popp schnurstracks das Curiohaus in der Rothenbaumchaussee auf. Dort hatte die Deutsche Friedensgesellschaft ihren Sitz, Popp wurde Mitglied.

Ein Jahr später wurde er eingezogen, bereits Anfang 1917 jedoch als dienstuntauglich wieder entlassen. 1916 war Popp nach dem Tod seiner Mutter von Hamburg nach Kiel gezogen und betrieb dort drei kleine Läden. Zigaretten, Zeitungen, Süßwaren.

Anfang 1918 kam es zu großen Streiks der Arbeiter

Nach seiner Entlassung aus dem Heer wurde der 30-Jährige auf der Germaniawerft in Kiel als Schlosser dienstverpflichtet. Popp gründete mit rund 1000 Gesinnungsgenossen den „Sozialdemokratischen Verein Gross Kiel – alte Richtung“, der später in die Un­abhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) aufging.

Aufgrund der immer schlechter werdenden wirtschaftlichen Lage kam es Anfang des Jahres 1918 zu großen Streiks der Arbeiter. Am 27. Januar legten sie in Kiel morgens um neun Uhr die Arbeit nieder. 30.000 Menschen zogen von der Werft und aus den Großbetrieben zum Wilhelmsplatz. „Ich bin auf eine Laterne geklettert und habe eine halbe Stunde lang zu den Massen geredet“, hat Popp später erzählt. Er forderte, den Krieg, der eben kein Verteidigungskrieg sei, wie es die Regierung immer dargestellt habe, sofort zu beenden. Dann machte er den Vorschlag, einen Arbeiterrat zu gründen. Wer soll Vorsitzender sein? „Der da spricht“, rief die Menge. So wurde Lothar Popp der Vorsitzende des ersten Arbeiterrates in Deutschland – und zwei Tage später mit zwei Genossen verhaftet. Er wurde vom Verdacht des Hochverrats freigesprochen, aber wegen des Abhaltens der verbotenen Versammlung zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, die er in Neumünster absitzen musste.

Die Menschen wurden langsam kriegsmüde

Danach bekam er auf der Werft keine Beschäftigung mehr. Freunde aus der USPD verschafften ihm einen Job bei den Gebrüder Genimb-Motorenwerken. Nach neun Tagen meldete er sich krank. Und ging bis zum Beginn der Revolution auch keiner festen Arbeit mehr nach.

In Deutschland wurden die Menschen langsam kriegsmüde. Im Lande setzte sich die Erkenntnis durch, die auch an den Schützengräben angeschrieben stand: „Der Krieg geht für die Reichen, die Armen zahlen mit Leichen!“

Obwohl die Oberste Heeresleitung die Reichsregierung am 29. September zu sofortigen Waffenstillstandsverhandlungen mit US-Präsident Wilson aufgefordert hatte, wollte die Marineführung vier Wochen später, am 29. Oktober, eigenmächtig von Wilhelmshaven aus einen Flottenvorstoß gegen England durchführen. Urheber des Plans waren Kapitän zur See, Magnus von Levetzow, späterer Polizeipräsident von Berlin und NSDAP-Politiker, und Konteradmiral Adolf von Trotha. Der Chef des Stabes der Hochseeflotte schrieb: „Der Flotte steht ein solcher Schlusskampf als höchstes Ziel vor Augen, auch wenn er ein Todeskampf wird, daraus wird eine neue deutsche Zukunftsflotte hervorwachsen. Einer durch schmachvollen Frieden gefesselten Flotte ist die Zukunft gebrochen.“

Die Revolte begann also in Wilhelmshaven

Die Matrosen aber verweigerten den Befehl. Die Revolte begann also in Wilhelmshaven. Zuerst rissen die Heizer die Feuer heraus und verhinderten das Auslaufen. Es kam zu massenhaften Verhaftungen, allein 100 Mann von der „Markgraf“ wurden nach Kiel gebracht und dort inhaftiert. „Das schlug dem Fass den Boden aus“, schreibt Popp.

Zehntausende meuternde Matrosen und Heizer bei einer großen Demonstration am 4. November 1918 auf dem Marktplatz in Kiel. Auf Transparenten wird die Kieler Bevölkerung aufgerufen, ruhig  zu bleiben.
Zehntausende meuternde Matrosen und Heizer bei einer großen Demonstration am 4. November 1918 auf dem Marktplatz in Kiel. Auf Transparenten wird die Kieler Bevölkerung aufgerufen, ruhig zu bleiben. © KEYSTONE / Keystone | Keystone Pressedienst

Es ist der 1. November 1918. Im Kieler Gewerkschaftshaus versammeln sich die Marinesoldaten und beschließen, die Kameraden zu befreien. Sie werden von den Offizieren abgewiesen. Tags darauf wollen sie erneut ins Gewerkschaftshaus, aber die Eingänge sind mit Schutzleuten besetzt. „Wie wir das Zwecklose unseres Verharrens im Gewerkschaftshaus eingesehen hatten, beschlossen wir, unsere Versammlung auf dem großen Exerzierplatz hinter der Waldwiese abzuhalten“, schreibt Popp.

Tausende Flugblätter verteilt

Dort trifft er Karl Artelt, den er als USPD-Mitglied kennt. Der schlägt vor, am nächsten Tag nachmittags um fünf Uhr eine Volksversammlung auf dem Exerzierplatz abzuhalten. Popp sagt ihm jede Unterstützung zu. Und hat glücklicherweise zu Hause eine Schreibmaschine. Er setzt sich an das Gerät und tippt: „Kameraden, schießt nicht auf eure Brüder! Arbeiter, demonstriert in Massen, lasst die Soldaten nicht im Stich!“ Von den Flugblättern werden per Vervielfältigungsmaschine Tausende Zettel gedruckt und am Sonntag überall verteilt.

Sonntag, der 3. November. „Am entscheidenden Sonntag befand sich ganz Kiel in höchster Spannung“, schreibt Popp. „Überall wurden die Köpfe zusammengesteckt und geheimnisvoll diskutiert.“ Die meisten Soldaten hatten nach Mittag die Kasernen verlassen, weil sie befürchteten, dass danach der Ausgang verboten werden würde.

Vor dem „Kaisercafé“ kommt es zu den ersten tödlichen Schusswechseln

Um fünf Uhr nachmittags versammelt sich eine riesige Menschenmenge – Soldaten, Frauen, Werftarbeiter – auf dem Exerzierplatz. Karl Artelt ist der erste Redner. Als er fertig ist, wird beschlossen, die inhaftierten Kameraden zu befreien. Der riesige Demonstrationszug setzt sich in Bewegung. „Gewaltig klang und brauste die Arbeitermarseillaise von Zehntausenden gesungen einher“, schreibt Popp. „Dazwischen wurden Hochrufe auf die Internationale und die Republik ausgebracht. Aber auch ­Rufe wie: ,Weg mit dem Kaiser!‘ lösten begeisterte Zustimmung aus.“

Absperrungen werden durchschnitten, am Bahnhof wird eine Unteroffizierpatrouille entwaffnet, andere Offiziere werden unterwegs von den Matrosen beschimpft: „Geht lieber in die Schützengräben!“ Popp schreibt: „Erschreckt und erstaunt stürzten die überraschten Bürger an die Fenster und vor die Türen, aber es gaben auch viele durch Tücherschwenken und Zurufe ihrer freudigen Zustimmung Ausdruck.“

Ein Zusammenstoß gilt als Beginn des Kieler Matrosenaufstandes

In der Karlstraße, vor dem „Kaisercafé“, kommt es zu den ersten tödlichen Schusswechseln. Dort steht Leutnant Oskar Steinhäuser von der 1. Torpedo-Division mit einer 48 Mann starken Pa­trouille. „Die Genossin Haberger bat den Leutnant, um Himmels Willen nicht auf die Menge zu schießen“, schreibt Popp. „Doch dieser Herr war unnahbar. Wie die Menge wieder vorging, ließ er schießen und Männer und Frauen lagen in ihrem Blute.“ Immer mehr Soldaten dringen vor. „Doch unbarmherzig folgte Salve auf Salve, sodass bereits 30 unserer Kameraden teils tot, teils schwer verwundet am Boden lagen.“ Aber auch den Henkersknecht, so Popp in seinen Aufzeichnungen, ereilte sein Schicksal, er wurde von einem Kameraden niedergeschlagen. „Blut war geflossen, die ersten Opfer der Revolution waren gefallen, aber allen war es anzusehen, dass diese Sache noch lange nicht zu Ende sei.“

Popp: „Grauen und Schmerz erfüllte unsere Herzen, aber auch heiliger Zorn. Eine ungeheure Erbitterung und der entschlossene Wille, die Bewegung erfolgreich zu gestalten, damit die Opfer nicht umsonst gefallen seien, beherrschte alle. An den Leichen der Gefallenen gelobten sich die Genossen durch Handschlag, das Werk der Gefallenen zu vollenden. Tausende waren entschlossen, die Freiheit zu erringen oder zu sterben.“ Dieser Zusammenstoß gilt als Beginn des Kieler Matrosenaufstandes, der dann zur Novemberrevolution führte.

„Ein entsetzliches Blutbad war vermieden“

Montag, 4. November. In Kiel tagt die erste Soldatenratssitzung Deutschlands. Karl Artelt wird Erster Vorsitzender und nennt dem Divisionskommandeur Rudolf Bartels seine Forderungen: „Freilassung aller Kameraden, aller im Zuchthaus sitzenden und sämtlicher politischer Gefangener.“ Und die Einführung des geheimen Wahlrechts für beide Geschlechter. „Ja, meine Herren“, antwortet Bartels, „das ist ja ein politisches Programm.“ Das war es in der Tat. Und es war auch eine Antwort auf den Auftritt von Bartels. Der Kapitän zur See war vormittags auf dem Kasernenhof auf einen Tisch gestiegen und hatte eine flammende Ansprache gehalten. „Wir Soldaten haben keine Ahnung von Politik, also haben wir uns auch nicht mit Politik zu befassen. Soldat soll gehorchen, Soldat muss gehorchen und Soldat gehorcht.“

Karl Artelt und Gustav Noske

Der Matrose

Karl Artelt wurde am 31. Dezember 1890 in Salbke bei Magdeburg geboren. Nach der Volksschule lernte er Maschinenschlosser. 1908 heuerte er bei der HAPAG an, arbeitete als Heizer und trat der SPD bei, später dann der USPD. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde er zur Marine eingezogen, war ab Mai 1916 einer der ersten Streikführer. Nach dem Matrosenaufstand kehrte Artelt nach Magdeburg zurück, gehörte dort im Frühjahr 1919 zu den Gründungsmitgliedern der KPD und wurde 1946 SED-Mitglied. Später referierte er in Betrieben und Schulen über seine Rolle als Revolutionär. Karl Artelt war verheiratet und starb am 28. September 1981 in Halle.

Der Politiker

Gustav Noske wurde am 9. Juli 1868 in Brandenburg an der Havel geboren. Er war Korbmacher, trat 1884 in die SPD ein, arbeitete ab 1893 als Redakteur. 1906 zog er in den Deutschen Reichstag ein. 1918 schickte ihn Reichskanzler Max von Baden nach Kiel, um den Matrosenaufstand zu beenden. Das Übergreifen der Revolution auf ganz Deutschland konnte er nicht  verhindern. Er wurde Reichswehrminister, musste aber nach dem Kapp-Putsch wegen „Begünstigung der Konterrevolution“ zurücktreten. Er arbeitete im Widerstand gegen Hitler, wurde verhaftet und überlebte das Lager Fürstenberg. Noske starb am 30. November 1946 in Hannover.

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Wenig später wird Artelt aufgefordert, für Verhandlungen zum Gouverneur, Admiral Wilhelm Souchon, ins Stationsgebäude zu kommen. Souchon reicht ihm die Hand: „Ich danke Ihnen, dass Sie die Courage gehabt haben und hierhergekommen sind.“ Artelt fragt zurück: „Erkennen Sie uns als Soldatenräte an?“ Souchon: „Ja.“ Man einigt sich darauf, dass es kein weiteres Blutvergießen geben dürfe. Souchon sagt zu, dass die bereits anrückende Infanterie zurückgeschickt und er keine neuen Truppen mehr nach Kiel ordern werde. Außerdem sollen die Gefangenen befreit werden.

Auf dem Weg dorthin, vor der Post in Wyk, treffen Popp und Artelt auf zwei Kompanien Infanterie mit Maschinengewehren. Artelt steigt aus dem Auto und ruft: „Kameraden, der Militarismus in Kiel ist gebrochen, die Macht liegt in den Händen der Marinesoldaten. Ihr seid hierhergeschickt, um Bruderblut zu vergießen. 20.000 bis an die Zähne bewaffnete Marinesoldaten sind entschlossen, für die eben errungene Freiheit zu sterben. Kameraden, schießt nicht auf eure Brüder. Hoch die Internationale, nieder der Krieg, es lebe die Freiheit!“ Brausendes Hurra der Infanteristen, schreibt Popp: „Sie nahmen ihre Maschinengewehre und kehrten um, ein entsetzliches Blutbad war vermieden.“

Anschließend werden unter großem Jubel Gefangene aus dem Gerichtsgefängnis befreit. Artelt hält an Straßenecken Ansprachen und fordert die Menschen auf, um 20 Uhr zum Wilhelmsplatz zu kommen und dann am Bahnhof die SPD-Abgeordneten Gustav Noske und Staatssekretär Conrad Hausmann zu empfangen, die sich aus Berlin auf den Weg zu den Revolutionären gemacht haben. Artelt und Noske halten Ansprachen auf dem Wilhelmsplatz vor einer jubelnden Menschenmenge, dann ziehen sie sich zu Verhandlungen ins Gewerkschaftshaus zurück.

Zäher Zweikampf zwischen Lothar Popp und Gustav Noske

21 Uhr. Neben Popp und Artelt sitzen Gustav Noske und Admiral Souchon sowie Vertreter von Politik, Soldaten und Arbeiterräten. In der Versammlung geht es zunächst um Straffreiheit für die Ma­trosen und die Beendigung der Revolte. Da ergreift Popp das Wort: „Sie reden immer noch von einer Revolte. Wir befinden uns hier jedoch am Anfang der deutschen Revolution, sie ist unabwendbar. Es handelt sich um den Beginn der deutschen Republik.“ Deshalb müssten folgende Maßnahmen unverzüglich getroffen werden: Absetzung aller Monarchien in ganz Deutschland, Einführung des Wahlrechts für Männer und Frauen vom 20. Lebensjahr, Freilassung aller politischen Gefangenen. „Jene Stunden waren die Götterdämmerung einer alten Welt“, schreibt Popp. „Frei und bestimmt meldeten dort die Vertreter des revolutionären Proletariats ihr Erbe an und gaben kund, dass jetzt ein neuer ­Abschnitt der Geschichte Deutschlands und damit der ganzen Welt begann.“

Doch auch am 6. November ist noch nichts entschieden. Wird sich die Revolution auf das ganze Land ausbreiten? In einer Versammlung nennt Noske die Bedingungen der Regierung: Straffreiheit, Amnestie, beschleunigte Herbeiführung des Waffenstillstandes, weitere Reformen und Demokratisierung des Staates. Die Matrosen, so Noske, hätten einen großen Sieg errungen, Kiel sei in ihrer Hand: „Aber Kiel ist ein isolierter Punkt, wovon wollt ihr Sold und Lebensmittel bezahlen?“

Noske wollte die Revolution abwürgen

Wieder steht Popp auf. „Nicht die Regierung hat Bedingungen zu stellen, sondern wir.“ Darüber wird abgestimmt. „Und Noske erhielt keine einzige Stimme.“ Wenige Stunden später zeigt sich, wie richtig Popp, der viele USPD-Mitglieder ins Land geschickt hatte, mit seiner Einschätzung lag. Aus Rendsburg, Lübeck, Schleswig, Schwerin, Cuxhaven und Brunsbüttel melden sich telephonisch Soldaten- und Arbeiterräte. „Spät in der Nacht erhielten wir die Meldung, auch über Hamburg weht die rote Fahne. Nun war natürlich froher Jubel, denn jetzt konnte kein Zweifel mehr sein, dass unsere Zuversicht auf den Sieg der Revolution uns nicht betrogen hatte.“

Wilhelm II. 1935 im Exil im niederländischen Haus Doorn, wo ihm Königin Wilhelmina Asyl gewährte. Reichskanzler Max von Baden hatte am 9. November 1918 die Abdankung des letzten deutschen Kaisers und dessen Sohnes, Kronprinz Wilhelm von Preußen, verkündet. Wilhelm II. starb in Doorn am 4. Juni 1941 im Alter von 82 Jahren. Er wurde in einem Mausoleum im Park beigesetzt
Wilhelm II. 1935 im Exil im niederländischen Haus Doorn, wo ihm Königin Wilhelmina Asyl gewährte. Reichskanzler Max von Baden hatte am 9. November 1918 die Abdankung des letzten deutschen Kaisers und dessen Sohnes, Kronprinz Wilhelm von Preußen, verkündet. Wilhelm II. starb in Doorn am 4. Juni 1941 im Alter von 82 Jahren. Er wurde in einem Mausoleum im Park beigesetzt © picture-alliance / akg-images | akg-images

Im Grunde, hat Popp später gesagt, war es „ein Zweikampf zwischen Noske und mir“. Noske wollte die Revolution abwürgen, Popp wollte die Sache aufrechterhalten. Auch der Historiker Volker Ullrich, der in den 1970er-Jahren zweimal mit Popp in Hamburg gesprochen hat, sagt, dass Popp für die Revo­lution wichtiger als Artelt gewesen sei. „Popp hatte die USPD mit aufgebaut, und die hat für die Revolution, die die Mehrheits-SPD gar nicht wollte, die entscheidende Rolle gespielt.“

Lothar Popp hat seine Rolle mit zeitlichem Abstand differenziert beschrieben: „Wir waren keine Revolutionäre, denn wir kämpften nicht für eine Sache, sondern wir wollten eine verrückte Sache beenden. Als wir dann plötzlich die Macht in den Händen hatten, da wollte ich aus dem Zusammenbruch des Kaiserreichs was machen. In Abstimmungen konnte ich Noske – der gekommen war, um alles abzuwürgen – noch schlagen, aber in der praktischen Arbeit war meine Gruppe dem Noske unterlegen. Wir wurden müde. Die Revolutionäre wollten nicht die Revolution, sie wollten die Nationalversammlung in Berlin.“

Räterepublik oder Parlamentarismus?

Die Frage war: Was würde aus Deutschland werden – Räterepublik oder Parlamentarismus? Lothar Popp sieht in der Verlagerung der politischen Verantwortung von den Arbeiter- und Soldatenräten zu den politischen Machern der Nationalversammlung, die – wie er zugibt – von den Arbeitern und Soldaten gewollt war, den „ersten Schritt zum späteren Untergang der Weimarer Republik“.

Anfang 1919 geht er zurück nach Hamburg. Er betätigt sich als Straßenhändler und Schausteller auf dem Hamburger Dom und begründet den Verband der ambulanten Gewerbetreibenden und der Schausteller. Auf dem Vereinigungsparteitag in Halle tritt er 1922 wieder der SPD bei. Von 1924 bis 1931 ist Lothar Popp Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft, kandidiert erfolglos für den Reichstag. Gegen Ende des Jahres 1931 zieht er nach Danzig, verkauft dort Spielzeug und selbst hergestelltes Putzpulver. 1933 geht er nach Prag. Als dort die Nazis einmarschieren, fährt er mit der Bahn über Linz und die Schweiz nach Paris. Als die Nazis auch Frankreich besetzen, flieht Lothar Popp nach Marseille.

Lothar Popp fährt nach New York

1941 will er von dort mit der „Winnipeg“ auf die Karibik-Insel Martinique fahren. Die Organisation der Menschenrechtsaktivistin und US-Präsidentengattin Eleanor Roosevelt nutzt das Schiff, um Verfolgte aus Deutschland herauszuschaffen. Lothar Popp schafft es, einen Tag vor dem Auslaufen an Bord zu kommen, weil er einen Matrosen kennt. Die „Winnipeg“ kommt aber nicht nach Martinique, sondern wird von einem britischen Kriegsschiff aufgebracht und nach Trinidad geleitet. Dort werden die Emigranten in ein Lager gesperrt. Nach einiger Zeit dürfen jedoch jene, die US-Visa besitzen, ihre Reise fortsetzen.

Lothar Popp fährt nach New York. In den Passagierlisten findet sich dazu folgender Eintrag: Lothar Popp, 54 Jahre alt, Single, Kaufmann, geboren in Furth, Germany, Visa ausgegeben in Marseille, Frankreich, letzte permanente Adresse: France, Marseille, trifft am 6.6.1941 an Bord der S.S. Evangeline von Trinidad in New York ein. Dort wird Popp von seinen Hamburger Parteifreunden Max Brauer und Herbert Weichmann, die späteren Bürgermeister, sowie Rudolf Katz, dem späteren Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, empfangen und vorübergehend in einem von SPD-Emigranten angemieteten Haus untergebracht.

Popp eröffnetauf der 68th Street ein Süßigkeitengeschäft

Er erhält die amerikanische Staatsbürgerschaft und eröffnet in New York ein Geschäft: „Lothar Popp Import and Export, Manufacturer of Educational Toys Microscopes and Musical In-
­­s­truments, 446 East Str. 84th Street New York“. Er gründet mit Richard Kramer das Geschäft „ELK Company“, 240 East 86th Street in New York, in dem Süßigkeiten, insbesondere von Hand gefertigtes Marzipan, verkauft werden. Und er schreibt Artikel für die in Amerika erscheinende „Neue Volks-Zeitung“.

Ende 1949 kehrt Lothar Popp nach Deutschland zurück. Zunächst nur für einige Monate, weil er die amerikanische Staatsbürgerschaft behalten wollte. Bald schon kommt er öfter und dann auch für mehrere Monate nach Deutschland, bis er sich schließlich wieder in Hamburg niederlässt. Er blieb aber Zeit seines Lebens amerikanischer Staatsbürger.

Zum 90. Geburtstag von Lothar Popp im Februar 1977 kam auch der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt und gratulierte dem langjährigen SPD-Parteigenossen
Zum 90. Geburtstag von Lothar Popp im Februar 1977 kam auch der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt und gratulierte dem langjährigen SPD-Parteigenossen © Familienarchiv Popp | Familienarchiv Popp

Lothar Popp, Vater von fünf Söhnen, wird Ehrenvorsitzender des Verbands der ambulanten Gewerbetreibenden und Schausteller. Sein Sohn Werner Popp war nach dem Krieg zeitweilig erster Vorsitzender. Nach dem Tod seiner ersten Frau Anna, mit der er auch eine Farm in Maryland hatte, heiratet Popp 1957 erneut. Er beginnt in Hamburg als Schausteller, betreibt dann mit seiner Frau Martha einen Kiosk im U-Bahnhof Lohmühlenstraße und ein Café in Volksdorf. In Trappenkamp gründet er danach eine Firma, die optische Linsen herstellt.

„Opa war ein brillanter Märchenerzähler“

„Mein Opa“, sagt seine Enkeltochter Dorothee Popp, „war ein brillanter Märchenerzähler.“ Er habe eine unerschöpfliche Fantasie gehabt und konnte fesselnd erzählen. Wenn er zu Besuch kam, haben sie ihn immer sofort bedrängt: „Opa, bitte ein Märchen!“ Und dann erzählte er von Bären und Indianern, von Lederstrumpf und vom Wilden Westen.

Martina Bloss (links), ihre Schwester Dorothee Popp und deren Sohn David Brezinsky, Lothar Popps Urenkel
Martina Bloss (links), ihre Schwester Dorothee Popp und deren Sohn David Brezinsky, Lothar Popps Urenkel © Roland Magunia | Roland Magunia/Hamburger Abendblatt

„Ich war 14 Jahre alt, als er gestorben ist“, sagt David Brezinsky, sein Urenkel, der heute als Staatsanwalt in Hamburg arbeitet. Er war als kleiner Junge sehr oft bei seinem Uropa zu Hause in der Königstraße. „Dort durften wir alles. Pfannkuchen backen und am Wochenende bis in die Puppen fernsehen.“ Sein Uropa, sagt er, hätte bei ihm mit seinen Geschichten erst das Interesse an Politik und Geschichte geweckt.

„Mein Großvater hat in Hamburg als Schausteller wieder angefangen und ist dann in die Gastronomie gewechselt“, sagt seine Enkelin Martina Bloss. „Er hatte eigentlich immer irgendwelche ausgefallenen Ideen, die er auch verfolgte.“ So habe Lothar Popp noch in hohem Alter auf dem Weihnachtsmarkt an der Petrikirche Blumenaquarien verkauft.

Eines der letzten Fotos von Lothar Popp mit seinen Enkeltöchtern Martina Bloss (l.) und Dorothee Popp im Februar 1980 beim „Ball der 1000 Lichter“ im CCH.
Eines der letzten Fotos von Lothar Popp mit seinen Enkeltöchtern Martina Bloss (l.) und Dorothee Popp im Februar 1980 beim „Ball der 1000 Lichter“ im CCH. © Prviat | Privat

Er sei neugierig und wissbegierig gewesen. Und hat mit 90 Jahren „Das Gesundheitsbrevier“ veröffentlicht. „Weil es ihn immer geärgert hat, dass die Fachbücher und Lexika voll waren mit lateinischen medizinischen Begriffen, die niemand verstanden hat“, sagt Martina Bloss. Ihr Großvater hat in mühevoller Kleinarbeit alles übersetzt und mit anatomischen Schautafeln für jeden verständlich gemacht. „Für Laien war das ein wirklich tolles Buch.“

Popp wollte nicht Hamburger Bürgermeister werden

Lothar Popp war Zeit seines Lebens auf der Suche nach neuen Herausforderungen. „Mit 87 Jahren hat er in Italien noch schwimmen gelernt“, erzählt Dorothee Popp. „Er hatte im Grunde kein Gefühl für Grenzen.“ Bis ins hohe Alter habe er auch noch getanzt. Es gibt ein Foto aus dem Februar 1980, das ihn mit seinen beiden Enkelinnen beim „Ball der 1000 Lichter“ im CCH zeigt. „Da war er 93 Jahre alt, hatte einen Gehstock und war schon etwas klapperig“, sagt Dorothee Popp. Zwei Monate später ist Lothar Popp gestorben.

Ein fröhlicher Mensch sei er gewesen. „Wenn er lachte, wackelte sein ganzer Körper.“ Weihnachten hat er seinen Enkeln immer Bücher geschenkt. „Er wollte, dass wir viel lesen.“ Hinten im Buch habe immer ein Geldschein gelegen. Die Enkeltöchter sagen, dass ihr Opa bei ihnen und seinem Urenkel wohl das nachgeholt habe, was er bei seinen eigenen fünf Söhnen versäumt habe.

Das Grab Lothar Popps wurde im Dezember 2004 aufgelöst

Um ein Haar wäre Lothar Popp sogar Hamburger Bürgermeister geworden. Sein Sohn wohnte mit seiner Familie eine Zeit lang im gleichen Haus wie Max Brauer, An der Alster 65. „Aber als sie ihn gefragt haben“, sagt Dorothee Popp, „soll er mit der Begründung abgelehnt haben, dass er dann ja jeden Morgen so früh aufstehen müsse.“

Sie glauben, er habe sein politisches Talent ein wenig verschenkt. Streitbar und schlagfertig sei er gewesen, aber selten pünktlich. Ein Freigeist. „Er hat mit seiner Rolle beim Matrosenaufstand nie geprahlt, obwohl er redselig war.“ Einmal hat er seine Enkelin in die Schule begleitet. „Ich war 15. Opa ist zum Gemeinschaftskundeunterricht in die Schule Lerchenfeld mitgekommen und hat sehr spannend über den Matrosenaufstand berichtet“, sagt Martina Bloss.

Lothar Popp muss 90 Jahre alt gewesen sein, als er anfing, seine Geschichte aufzuschreiben. „Leider ist er darüber gestorben.“ Und die Aufzeichnungen? „Seine Frau Martha hat alles weggeschmissen. Sämtliche Fotos und Texte.“ An seinem 90. Geburtstag, im Februar 1977, kam der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt zum Gratulieren vorbei. Am 27. April 1980 ist Lothar Popp in Hamburg gestorben. Er wurde auf dem Friedhof Ohlsdorf begraben.

Sein Grab aber ist nach 25 Jahren im Dezember 2004 aufgelöst worden. Und so erinnert kein Grabstein mehr an diesen Hamburger Politiker und buchstäb­lichen Unternehmer, der die Geschichte Deutschlands mit seinem Mut und seiner Courage, seinem Friedenswillen und seiner Vorstellung von einer gerechten Gesellschaft in den revolutionären Novembertagen vor 100 Jahren so entscheidend beeinflusst hat.