Hamburg. Mit Christina Wildner fuhren die Helfer des ASB in den Harz. Das Sterben ist dabei allgegenwärtig, genau wie das Leben.
Zum Frühstück wünscht sich Christina Wildner ein Gläschen Sekt. Für den Kreislauf, sagt sie leise. Statt ihrer Tabletten. Sekt haben sie hier im Hamburger Hospiz an der Helenenstraße in Altona-Nord, allerdings nicht gekühlt. Jetzt kommt die Flasche kurz zum Kühlen ins Eisfach. Aber Frau Wildner bekommt ihren Sekt, natürlich. „Hier kriegt man, was man möchte“, sagt eine Pflegerin.
Denn im Hospiz steht das Leben im Mittelpunkt. Der Tod kommt ohnehin. Bis dahin sollen es die Menschen so angenehm wie möglich haben.
Christina Wildner nimmt Platz in der Hospiz-Küche. Weil es ein besonderer Tag ist, hat die 62-Jährige roten Lippenstift aufgetragen, dazu trägt sie ein rotes Kleid und ein buntes Seidentuch mit feinem Muster. Farbenfroh sieht das aus, fröhlich. Gut sieht Frau Wildner aus, elegant und würdevoll, aber auch zart und zerbrechlich. Sie kann nur wenige Schritte allein gehen. Zu schwach ist ihr vom Krebs zerfressener Körper, die Krankheit zu weit fortgeschritten.
Das Sterben ist allgegenwärtig an diesem Tag, genau wie das Leben. Dieser Tag wird ein besonderer sein. Besonders anstrengend, besonders traurig, aber dieser Tag wird sie auch besonders fröhlich machen, noch ein Mal. Ein Tag, der ein Geschenk sein wird für sie und für ihre Familie.
Während Frau Wildner dann frühstückt, mit Obstsalat zum Sekt, einem geviertelten Brötchen mit Frischkäse, wie sie es mag, gekochtem Schinken und Marmelade, stehen Rettungssanitäterin Lisa Vogel und Altenpflegerin Gabriele Prüfer in der Hospizküche und warten, dass ihr Fahrgast startklar ist. „Wir sind Ihr Glücksteam“, sagt Gabriele Prüfer. Die beiden ASB-Mitarbeiterinnen werden an diesem Tag knapp 600 Kilometer fahren, um Christina Wildner ihren letzten Wunsch zu erfüllen.
Einmal noch an die Nordsee
Was wäre der letzte Wunsch, wenn das Leben zu Ende geht? Diese Frage bleibt theoretisch, solange man gesund ist und der Tod so weit weg scheint. Ist es ein Tag am Meer? Ein letztes Mal die Weite an der Nordsee genießen? Ein letzter Sonnenuntergang? Einmal noch in die Elbphilharmonie, einmal noch nach Travemünde, einmal noch zur Sternwarte – das sind Träume, die der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) bereits ermöglicht hat. Die Mitarbeiter des ASB in Hamburg erfüllen mit ihrem Wagen seit einem Jahr letzte Herzenswünsche und fahren Todkranke an ihre Sehnsuchtsorte.
Für Christina Wildner ist diese Frage nach dem letzten Wunsch nicht mehr spekulativ, sie ist real. Ihre letzte große Fahrt wird sie überwiegend liegend in einem umgebauten Rettungswagen verbringen. Einmal noch ihre Familie in Bad Lauterberg im Harz besuchen. Bruder Hans-Joachim Wildner feiert an dem Tag seinen 69. Geburtstag. Dass seine schwer kranke kleine Schwester aus Hamburg kommt, um ihn zu besuchen, weiß er nicht. Das soll eine Überraschung werden.
Damit sich die sterbenskranken Menschen trotz ihrer Schmerzen, trotz der Umstände, die ihre Krankheit mit sich bringt, so wohl wie möglich fühlen, wurde der Wünschewagen umgebaut. Der ehemalige Rettungswagen ist auf die Bedürfnisse der Fahrgäste abgestimmt: spezielle Stoßdämpfer und ein Licht – und Farbkonzept sollen die Reise zu einem angenehmen Erlebnis machen. Statt in weißer oder rosafarbener Krankenhaus-Bettwäsche liegt Christina Wildner nach dem Sektfrühstück unter blau-weißer Sternenbettwäsche, und über ihr leuchtet ein blauer LED-Himmel. Von ihrer Trage aus kann sie hinausschauen durch die abgedunktelten Fenster rundherum. Ein Rettungswagen in gemütlich. Alle 17 bundesweiten Wünschewagen sind auch für den medizinischen Notfall ausgerüstet. Mindestens ein Rettungssanitäter sitzt im Wagen.
Heute steuert Lisa Vogel das Fahrzeug, während Gabriele Prüfer hinten neben Christina Wildner sitzt und ihr behilflich ist. Beide machen das ehrenamtlich, und beide machen das sehr gern. Diese Wünschewagen-Fahrten seien besonders, sagen sie. „Der Fahrgast ist für uns Gott“, sagt Lisa Vogel. Klingt pathetisch, aber trifft es gut. Der Sterbenskranke steht im Mittelpunkt. Er soll sich wohlfühlen. Es geht nur um ihn. Es geht einzig um Christina Wildner an diesem Tag. Nicht um ihre Familie, nicht um die ehrenamtlichen Helfer. Aber ohne sie geht es eben auch nicht.
Für eine junge Frau wie Lisa Vogel bedeutet das viel Tod im Alltag. Die 21-Jährige winkt aber ab und sagt, man müsse herzlich sein, empathisch, aber auch distanziert. „Sonst geht man kaputt.“ Zum Leben gehöre aber eben auch das Sterben. Lisa Vogel macht gerade eine Ausbildung zur Krankenschwester und weiß, wovon sie spricht.
Heute aber zählt das Leben. Die Wünsche derjenigen, denen nicht mehr viel Zeit bleibt, haben Priorität. Und wenn es nur ein Getränkewunsch ist. Also haben sie an Bord auch mal Bier oder ein Alsterwasser.
Was ist am Ende eines Lebens bedeutend? Für manche Menschen ist es die Musik. Sie kann genau wie der Sekt am Morgen die beste Entspannung sein. Christina Wildner sind die bretonischen Lieder der französischen Sängerin Nolwenn Leroy wichtig. Lieder können Trost geben und Erinnerungen wecken. Bei Christina Wildner an ihre unglückliche Liebe zu einem Bretonen, ihrer Liebe zur Bretagne generell. „Eigentlich wollte ich jetzt um diese Zeit in einem Haus in der Bretagne sein. Ich liebe die Landschaft“, erzählt sie. Sie wollte dort längere Zeit bleiben und Qigong-Kurse geben, diese chinesische Meditations- und Bewegungsform. „Das war alles geplant, und dann kam der Hammer“, sagt Christina Wildner.
Der Krebs kam zurück
Der Hammer war, dass der Krebs zurückkam. Bereits vor fünf Jahren hatte sie eine Krebsoperation. Und nun Metastasen in der Leber und ein Riesentumor im Darm. Es folgte die Prozedur mit Chemotherapie, so wie sie so viele krebskranke Menschen ertragen müssen. „Alles schön und gut, und dann gab es nur Komplikationen“, erzählt Christina Wildner während der Fahrt auf der A 7 Richtung Harz. Bauchfellentzündung, vier Tage künstliches Koma, Bauchraumspülung, künstlicher Darmausgang, Nähte, die nicht verheilten.
Sechs Operationen, 20 Narkosen. „Ich konnte nicht mehr. Das war so anstrengend. Und jetzt bin ich hier. Entweder ich packe das noch eine Weile oder nicht“, sagt sie. Sie hat sämtliche Therapien abgebrochen, ihre Wohnung in Harvestehude verlassen, in der sie so gern lebte, ihr Leben liebte, bis zur Frührente arbeiten ging als Zahnarzthelferin. Die Tür dann zuzog für immer, um zum Ende des Lebens ins Hospiz zu ziehen.
Sie berichtet über all das überraschend sachlich. Sie wirkt zupackend, belastbar, auch mit dem Tod vor Augen. Sonst hätte sie diese Autobahnfahrt mit eineinhalb Stunden Stau und Schmerzen in den Organen, die von keiner Muskulatur mehr geschützt werden, nicht auf sich genommen.
Abschied von einem Leben, das so aktiv war. Jeden Tag ging sie nach der Runde mit ihrer Mischlingshündin Tiffy zum Kaffee ins Café Philo an der Grindelallee. Sie ist Mitglied im Verein der Bretonen in Deutschland, sie liebt und tanzt bretonische Volkstänze. Sie strickt, häkelt, näht, hatte sogar einen Auftritt im NDR-Fernsehen mit selbst gebackenem Kuchen. „Das Stricken geht noch, bloß das mit den bretonischen Tänzen klappt nicht mehr“, sagt sie. Ihren Humor hat sie jedenfalls nicht verloren.
Abschiede sind das Schlimmste
Innerhalb weniger Wochen hat sich ihr Leben komplett geändert. „Ich war erst guten Mutes mit der Chemo. Was mich umgeschmissen hat, waren die Komplikationen. Ich dachte, ich würde das noch rumreißen.“ Sie ist eine Frau mit einem starken Willen. Wie passend heißt ein Lied von ihrer CD „Mna Na H-Eireann“, das von starken Frauen handelt. Aber manchmal reicht stark zu sein einfach nicht. Immer wieder sagt sie an diesem Tag den Satz: „Ich dachte, ich schaffe das.“ 62 Jahre ist sie. Kein Alter zum Sterben. „Das Sterben nimmt man an“, sagt sie.
Auch wenn sie immer dachte, sie würde so alt werden wie ihre Großeltern. Die waren über 90. „Aber vielleicht schafft es mein Bruder ja noch.“
Was am Sterben so schlimm ist, sind die Abschiede. Der Abschied von ihrer Hündin Tiffy war so ein schwerer Moment. „Das wäre eine große Last, wenn es ihr nicht gut ginge.“ Tiffy hat es gut in ihrem neuen Zuhause bei einer Bekannten, und manchmal besucht Tiffy Christina Wildner auch. Aber es ist eben nicht mehr ihre Hündin. „Ich kann sie nie wiederhaben.“ Sie vermisst Tiffy so sehr, und das tut weh. Christina Wildner weint. Immer noch spielt die Musik im Hintergrund. Musik kann auch Hoffnung geben. Hoffnung auf das Danach.
Christina Wildner ist gläubig, aber nicht im kirchlichen Sinn. „Ich glaube nicht an einen lieben Gott mit Rauschebart, für mich ist alles göttlich.“ Sie hat sich in schamanischer Heilarbeit fortbilden lassen, wonach alles mit allem verbunden ist. „Wir sind mit jedem Staubkorn verbunden. Wenn es jemandem schlecht geht, sind wir mit dem verbunden und können helfen“, ist sie überzeugt. Es tröstet sie, dass sie weiß, es geht nach dem Tod weiter. „Der Tod ist ein Hinübergehen, ist etwas Schönes, mich werden viele liebe Menschen auf der anderen Seite in Empfang nehmen.“
Ihre Beerdigung hat sie bereits geplant. „Jedenfalls bekomme ich eine tolle Trauerfeier“, sagt sie. Ihre Gäste bekommen Kerzen in die Hände, es wird eine Bank mit Bildern aus ihrem Leben geben, und in einem Korb werden persönliche Sachen liegen, die mitgenommen werden dürfen. Sie ist froh, dass sie Teile ihres Schmucks schon verschenkt hat. „So sehe ich, wie sich andere darüber freuen.“
Abschiednehmen ist nicht nur traurig
Und auch nach ihrem Tod wird die Musik eine große Rolle spielen – auf der Trauerfeier. Das Repertoire: das 1. Klavierkonzert op. 11 in e-Moll von Chopin, „Here Comes The Sun“ von den Beatles, bretonische Volkslieder, „Wenn ich ein Vöglein wär“, „Der Mond ist aufgegangen“. Und zum Schluss soll es tierisch laut werden, dann kommt „der absolute Knaller“, wie Christina Wildner sagt: „Made In Heaven“ von Freddy Mercury. Sie hat schon alles organisiert. Und dann sagt sie einen Satz, der eher komisch als traurig ist: „Da freue ich mich jetzt schon drauf!“ Dann kommt Christina Wildner unter die Erde, im Friedwald unter einem Baum auf dem Friedhof Holstenkamp.
Immer gibt es ein letztes Mal, wenn man stirbt. So wie diese letzte Fahrt in den Harz zu ihrem Bruder. Es regnet, als der Wünschewagen viel später als geplant endlich in Bad Lauterberg ankommt. Ihr Neffe öffnet die Tür, Andreas. Bis auf Hans-Joachim, das Geburtstagskind, waren alle Kaffee- und Kuchengäste eingeweiht, wussten von dem Besuch. Schwägerin Monika weint, als Gabriele Prüfer und Lisa Vogel Christina Wildner im Rollstuhl zur Tür bringen. Die letzten Treppenstufen ins Haus geht sie mit Unterstützung. Aber geschafft. Angekommen.
Und der große Bruder? „Wie hast du das geschafft?“, fragt er und umarmt seine Schwester. „Das ist eine tolle Sache“, sagt er. Große Emotionen können auch klein, leise und dezent rüberkommen.
„Die Korken knallen lassen“
Neffe Andreas streichelt beim Kaffeetrinken ihren Rücken, massiert „das Tantchen“ oder „Tante Christina“, wie sie hier nur genannt wird. Das ist Familie. Hier hat Hospizbewohnerin Christina Wildner eine andere Rolle. Hier ist sie nicht nur die sterbenskranke Frau, hier ist sie die coole Tante, die sie für ihren Neffen Andreas und ihre Nichte Stefanie immer war. Die Tante, die vor mehr als 30 Jahren aus dem eher konservativen Harz in die liberale Großstadt Hamburg gezogen war. Die allein lebte, immer selbstständig war.
Die eben nicht nur Krankheit ist. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie noch einmal herkommt“, sagt die Schwägerin. „Aber sie hat auch einen starken Willen.“ Auf den letzten Metern, so drückt Neffe Andreas Wildner es aus, wolle man „das Tantchen“ so oft wie möglich sehen. Bald schon wieder in Hamburg, um die Wohnung endgültig aufzulösen.
Dieses Abschiednehmen ist nicht nur traurig. „Wir sind glücklich, dass man sich darauf einstellen kann“, sagt der Neffe. Wichtig sei das Hier und Jetzt. „Wir nutzen die Zeit, die wir noch haben, und erfüllen ihr jeden Wunsch.“ Er wird es sein, der während der Trauerfeier auch die Urne seiner Tante tragen wird. „Das ist eine große Ehre“, sagt der 40-Jährige.
2019 wird Hans-Joachim Wildner 70 Jahre alt. Dann will er „eine große Sause machen, die Korken knallen lassen.“ Mit seiner kleinen Schwester. „Nee, das schaffe ich nicht mehr“, sagt sie. Sie sehen sich an, sie und ihr Bruder. Gehen dann, wie es geplant war für diesen Tag, auseinander. Christina Wildner muss zurück, Gabriele Prüfer und Lisa Vogel helfen ihr, legen sie auf die Liege. Die Tür vom Wagen schließt, durch das Fenster schaut Christina Wildner auf ihre Familie, die vor das Haus gekommen ist. Sie steht im Regen. Zum Winken ist Christina Wildner zu schwach. Sie ist erschöpft, aber glücklich.
Nachtrag: Christina Wildner ist acht Tage nach der Tour mit dem Wünschewagen friedlich eingeschlafen. Ihr Neffe und ihre Nichte waren bei ihr.
Mit ihren Wünschewagen ermöglichen die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Arbeiter-Samariter-Bunds seit 2014 Menschen in ihrer letzten Lebensphase einen Herzenswunsch.In Hamburg ist seit einem Jahr ein solcher Wagen unterwegs. Das Projekt wird ausschließlich durch Spenden finanziert und ist für die Passagiere und deren Angehörige kostenlos. 700 Ehrenamtliche haben bislang bundesweit rund 1000 Wünsche erfüllt. Informationen gibt es unter www.wuenschewagen.de