Was für eine Geschichte: Schotti ist ein Fan von Günter Netzer und landete einen Lottogewinn. Doch der hielt nicht lange.

Es gibt Momente als Reporter, da reicht ein Kaffee, um eine spannende Geschichte zu entdecken. So wie am Ostermontag 2015 im Park-Hotel Hagenbeck. Dort logierte die Zweitligamannschaft der Düsseldorfer Fortuna, am Abend stand das Spiel beim FC St. Pauli am Millerntor an. Für Helmut Schulte, damals Sportvorstand am Rhein, war es die Rückkehr an seine alte Wirkungsstätte.

Wir plauderten über alte Zeiten. Irgendwann schaute er auf die Uhr und sagte: „Tut mir leid, ich muss los, ich muss noch zu Schotti.“ Ratloser Blick, Schulte klärte mich auf: „Schotti ist ein alter Freund, der mal für Günter Netzer einen Lottoschein ausgefüllt hat und ganz viel Geld gewonnen hat. Jetzt lebt er aber als Frührentner ziemlich verarmt in Borgfelde.“

Was für eine Geschichte.

In einer Klarsichtfolie liegt sein Beweis

Ein paar Tage später besuchte ich Schotti, der bürgerlich Helmut Dunken heißt. Auf den Regalen seiner chaotischen Zweizimmerwohnung, 50 Qua­dratmeter groß, verstaubten Tickets, Zeitungsausschnitte, Fußballfotos. Dazwischen Aschenbecher, gut gefüllt, Tabletten, Tabak, Mullbinden, schmutziges Geschirr. Die Einladung zu einem Kaffee („kannst Schotti zu mir sagen“) lehnte ich dankend ab.

Für die Reise in seine eigene Vergangenheit steuerte Dunken dann seinen Rollstuhl zur braunen Schrankwand. Vorsichtig zog er eine Klarsichtfolie mit einem vergilbten Schreiben aus der obersten Schublade.

„Dieser Brief“, sagte der 62-Jährige dann stolz, „ist mein Beweis.“

In dem Einschreiben vom 16. August 1988 gratulierte Nordwest Lotto und Toto Hamburg der „Spielgemeinschaft Netzer, G + Dunken, H“ zu einem Gewinn von 150.989,90 D-Mark. Der Beleg für die wohl gegensätzlichste Tippgemeinschaft der deutschen Lottogeschichte.

Netzer und Schotti haben eigentlich nichts gemeinsam

Hier der gelernte Isolierklempner aus Borgfelde, vorbestraft, lange arbeitslos, inzwischen Frührentner nach der Amputation des linken Beins. Dort der erste Popstar des deutschen Sports, Idol einer Fußballgeneration, erfolgreicher Geschäftsmann. Dunken. Und Netzer. Zwei, die eigentlich nichts gemeinsam haben – außer einem Lottoschein.

In acht Zigarettenlängen erzählte Dunken mir von seiner Leidenschaft für Netzer. So groß, dass er sogar als junger Mann seinen Job verlor. Der Chef wollte nicht mehr tolerieren, dass sein Isolierklempner ständig blaumachte, um zu allen Spielen seines Idols reisen zu können.

Die sechste Selbstgedrehte verglühte im Aschenbecher, als Dunken das Tattoo auf seinem linken Arm zeigte, gestochen 1972 im Jugendgefängnis Hahnöfersand, wo er einsaß wegen Haschisch-Dealerei. Natürlich ein Netzer-Konterfei.

Systemschein mit irrer Kombination

Der Netzer-Bazillus übertrug sich auf die zweite große Leidenschaft seines Lebens: Lotto spielen. Gesetzt waren immer die 9, die 14 und die 44 für den 14. September 1944, das Geburtsdatum Netzers sowie die 47 für dessen Schuhgröße, später dann die 2 für die beiden Auszeichnungen zum Fußballer des Jahres. Als Netzer seine Karriere 1977 beendete, war Dunkens Siebener-Reihe für den Systemschein komplett: Mit der 37 für die Zahl der Länderspiele, mit der 6 für die Zahl der Länderspieltore. 2, 6, 9, 14, 37, 44, 47 – diese Ziffern wurden Dunkens magische Netzer-Formel. Doch der erhoffte Hauptgewinn blieb aus.

Vor lauter Neugier zappelte ich auf seinem verschlissenen Sofa hin und her, so sehr, dass Helmut Dunken mahnte: „Leg das Kissen wieder ordentlich hin.“ War von Borussia Mönchengladbach, Netzers Club, da war Dunken pingelig.

Dann kam Dunken endlich zu dem Tag im August 1988, nach dem nichts mehr so sein sollte, wie es mal war. Der Tag, an dem er einen Lottoschein mit den Netzer-Zahlen höchstpersönlich seinem Idol nach einem Benefizkick überreichen durfte. Die Tippgemeinschaft hatte er eine Stunde zuvor an einer Lottobude am Rathaus gegründet. Und genau dieser Schein mit fünf Richtigen und Zusatzzahl machte Dunken reich, zumal er auch noch selbst einen Schein ausgefüllt hatte. Insgesamt 221.000 D-Mark wurden auf sein Sparbuch überwiesen, Dunken hatte nicht einmal ein Girokonto. Netzer selbst kassierte über 75.000 D-Mark.

Das Idol und sein größter Fan. Endlich ein Team.

Dunkens Augen schimmerten, als er von „der geilsten Zeit meines Lebens“ erzählte: „Der Günter hat mich sogar zu Spielen in den VIP-Raum mitgenommen.“ Seinen Eltern spendierte er eine Luxus-Rundreise für 20.000 D-Mark in die USA. Er selbst wollte nicht nach Amerika. Deutschland reichte, als Edelfan begleitete er den FC St. Pauli zu allen Spielen. Klönen mit Helmut Schulte, damals Trainer des Kiezclubs, inklusive.

Für Arztbesuche mussten ihn Pfleger heruntertragen

Die Glückssträhne endete, als sich sein Lottogewinn herumsprach. Die Neider konnte Dunken noch abwehren: „Sucht euch doch selbst einen Star und tippt dessen Zahlen.“ An den Schnorrern kam er nicht vorbei. Irgendwann, sagt Dunken, „war die ganze Kohle dann leider weg.“

Auch privat ging alles schief. Petra, die Liebe seines Lebens, starb bei einer Schlägerei in der Rockerszene. Netzer schickte einen Trauerkranz mit der Schleife„Ein letzter Gruß von Günter“.

Der Lottokönig kehrte wieder zurück auf Anfang.

Ein paar Jahre arbeitete er noch als selbstständiger Fuger auf dem Bau. Doch dann kamen die gesundheit­lichen Probleme. Magengeschwüre, Durchblutungsstörungen. Vor zwei Jahren amputierten die Ärzte das linke Bein, mehrfach musste der entzündete Stumpf operiert werden.

Für ihn, der einst zu Fußballspielen durch Deutschland flog, war nun die Treppe vom vierten Stock runter ins Erdgeschoss ein fast unüberwindbares Hindernis. „Auf Krücken packe ich die Stufen nicht mehr“, sagte er, für Arztbesuche mussten ihn Pfleger heruntertragen. Von den einstigen Weggefährten blieb ihm nur Helmut Schulte. Auch als viel beschäftigter Profimanager nahm sich Schulte die Zeit, um mit dem Frührentner alte Videos von großen Spielen zu gucken.

Vergebens bat Schulte seinen Freund, sich eine neue behindertengerechte Wohnung zu suchen. Dunken wollte nie: „Wo soll ich denn hin mit meinem ganzen Kram?“ Mit den Trikots, mit den Postern und den Bergen von ausgefüllten Lottoscheinen. Denn Dunken investierte 150 Euro seiner Frührente von 1000 Euro in den Traum vom zweiten großen Glück. Allein die Netzer-Formel wollte nicht mehr funktionieren.

Beim Abschied fragte Dunken noch: „Mal ehrlich, so eine verrückte Geschichte hast du doch noch nie gehört, oder?“

Nein, hatte ich noch nie.