Hamburg. Zu wenige neue Anlagen in Deutschland. Norden verlor schon Tausende Jobs. Weltgrößte Branchenmesse beginnt in Hamburg.
Wer durch die neun Hallen der am morgigen Dienstag beginnenden Messe WindEnergy Hamburg geht, wird den Eindruck haben, hier präsentiere sich eine florierende Branche: Die dort gezeigten Getriebe, Generatoren und Rotorköpfe sind größer als in den Vorjahren, mehr als 1400 Aussteller aus 40 Ländern sind auf der „Weltleitmesse“ vertreten, die Veranstalter erwarten bis zum Freitag rund 35.000 Fachbesucher aus 100 Nationen. Damit sei die Messe internationaler denn je.
Tatsächlich wächst der Windenergiemarkt global ungebrochen. Doch ausgerechnet am Veranstaltungsort Hamburg ist die Stimmung bei den Unternehmen dieses Wirtschaftszweigs mies. Einer Umfrage des Clusters Erneuerbare Energien Hamburg (EEHH) zufolge beurteilen 70 Prozent der Manager von Mitgliedsfirmen die Aussichten für die Windenergie an Land (Onshore) in Deutschland in den kommenden Jahren als „eher schlecht“ oder „schlecht“.
Entsprechend trüb sind die Beschäftigungsperspektiven. Die IG Metall warnt vor „dramatischen Folgen“ für die Mitarbeiter. Seit Anfang 2017 hätten die Unternehmen der Windbranche den Abbau von 3500 bis 4000 Jobs allein in den norddeutschen Küstenländern angekündigt, „und es sieht so aus, als würden die Arbeitsplatzverluste eher noch zunehmen“, sagt ein IG-Metall-Sprecher. Laut Handelskammer Hamburg gingen allein in der Hansestadt bereits im Jahr 2017 mehr als 1000 Arbeitsplätze im Sektor der erneuerbaren Energie verloren – „und das in einer potenziellen Wachstumsbranche.“
Norddeutschland, Firmen und Gewerkschaften sind sich einig
Vor diesem Hintergrund demonstrieren die Regierungen der fünf norddeutschen Bundesländer, die Gewerkschaft und die Firmen eine bemerkenswerte Geschlossenheit: Am Dienstag unterzeichnen die fünf Energieminister der Länder, die IG Metall und die Branchenverbände auf der Fachmesse einen gemeinsamen Appell, mehr für den Ausbau der Windenergie in Deutschland zu tun. „Schluss mit dem Kahlschlag in der Windbranche“, sagt Meinhard Geiken, Bezirksleiter IG Metall Küste: „Wenn die Bundesregierung und die Unternehmen nicht schnell gegensteuern, droht ein Desaster. Wir brauchen einen stärkeren Ausbau der Windenergie – für den Klimaschutz sowie für Arbeit und Wertschöpfung an der Küste und bei Zulieferern in ganz Deutschland.“
In einem „Eckpunktepapier“ forderte die Handelskammer die Bundesregierung auf, die gesetzlichen Ausbaugrenzen für erneuerbare Energien zu streichen und die Zubau-Menge dem Markt zu überlassen. Nach Einschätzung von EEHH-Geschäftsführer Jan Rispens sind von der vorigen Regierung in Berlin „handwerkliche Fehler“ gemacht worden: Bei den Ausschreibungen für neue Windenergieanlagen an Land hatte man sogenannte „Bürgerwindparks“ zugelassen, obwohl sie noch gar keine immissionsschutzrechtliche Genehmigung eingeholt hatten.
Diese Gesellschaften nutzten die für sie erleichterten Teilnahmebedingungen und warfen nahezu alle anderen Wettbewerber aus dem Rennen. Die Folge: „Solche Projekte werden nun frühestens 2022 oder 2023 realisiert – ein erheblicher Anteil von ihnen aber auch gar nicht, weil sie keine Genehmigung erhalten werden“, sagt Rispens. Dies sorgt für eine tiefe Delle des Windenergieanlagen-Zubaus in Deutschland in den Jahren 2019/2020. Zwar hat die Bundesregierung Sonderausschreibungsrunden in Aussicht gestellt, um die Lücke zu füllen, bislang blieben sie aber aus.
Digitalisierung könnte Engpässen beim Netzausbau entgegenwirken
Zudem setzte die Regierung für das kommende Jahrzehnt die Ausbauziele sehr knapp und begründete dies damit, dass der Bau der Übertragungsnetze, die den Strom von den Windparks zu den Nutzern transportieren, nur schleppend vorankommt. „Von den für die Energiewende erforderlichen 7700 Leitungskilometern sind gerade einmal knapp 1000 Kilometer gebaut“, sagt Lars Quandel, Leiter des Bereichs Energie & Infrastruktur bei der HSH Nordbank.
Rispens hat dennoch kein Verständnis für die wenig ambitionierten Windenergie-Ausbauvorgaben des Bundes: „Schon im Hinblick auf die Klimaschutzziele, auf die man sich verpflichtet hat, kann das keine ernsthafte Perspektive sein“ – immerhin sollen 2030 erneuerbare Energien 65 Prozent des deutschen Stromverbrauchs abdecken. Rispens denkt, dass die Digitalisierung helfen kann, Engpässen beim Netzausbau entgegenzuwirken: „Mit intelligenter Technik wird man die Stromnetze künftig besser nutzen können als bisher, indem man die Verteilung der Energie optimiert. Solche Lösungen werden auf der Messe zu sehen sein.“
Anlagen auf See haben 220 Meter Rotordurchmesser
Auch die Speicherung des Stroms aus Wind- und Solarparks ist dort ein wichtiges Thema. Eine innovative Speicherlösung, die von Siemens Gamesa entwickelt wird, soll im Frühjahr 2019 in Hamburg auf dem Gelände des Aluminiumherstellers Trimet in Betrieb gehen: Etwa 1000 Tonnen Gesteinsmaterial in einem isolierten Behälter werden mittels Windstrom auf rund 600 Grad Celsius erhitzt. Diese Hitze kann dann bei Bedarf durch eine Dampfturbine wieder in Strom umgewandelt werden.
Allerdings hat es die Windenergiebranche nicht nur in Deutschland mit veränderten Rahmenbedingungen zu tun. Nach Angaben der Commerzbank nutzten 2017 weltweit schon 84 Staaten ein wettbewerbsorientiertes Auktionsmodell zur Vergabe von Fördermitteln für Wind-Projekte: Während die Förderung früher vom jeweiligen Staat festgelegt war, erhält nun derjenige Betreiber, der die niedrigste Förderung pro erzeugter Kilowattstunde verlangt, den Zuschlag. „Das führt zu einem extremen Preisdruck bei den Anlagenherstellern und vor allem bei ihren Zulieferern“, sagt Berthold Bonanni, Leiter des Kompetenzzentrums Energie bei der Commerzbank. Infolge des Preisdrucks liegen die Stromerzeugungskosten aus Windparks an Land teils sogar schon unterhalb des Preises, der sich an der Leipziger Strombörse bildet.
Zu den Treibern der Kostensenkung gehört jedoch auch die immer höhere Effizienz der Anlagen: Waren für Onshore-Windturbinen vor wenigen Jahren noch Kapazitäten von 1,5 Gigawatt üblich, bewegt man sich nun auf die Schwelle von 5,0 Gigawatt zu, der Rekord für den Rotordurchmesser liegt derzeit bei 160 Metern. Bei den Anlagen auf See (Offshore) geht es in Richtung zwölf Megawatt und 220 Meter Rotordurchmesser.
Erneuerbare Energien: 10.000 Arbeitsplätze in Hamburg
Zwar hofft die Branche angesichts fehlender Neubauprojekte in Deutschland auch auf den Ersatz bestehender Anlagen an Land durch modernere „Wind-Spargel“. Doch dazu ist stets eine neue Genehmigung erforderlich – und die Klageneigung von Anwohnern nimmt zu. Daher setzen die Hersteller stärker auf die Wachstumsmärkte im Offshore-Bereich und in Asien. Nur: „Die Produktion geht dahin, wo die Absatzmärkte sind“, sagt der IG-Metall-Sprecher. Angesichts der Windenergie-Flaute in Deutschland fürchtet auch Rispens, dass weitere Jobs und weiteres Know-how in der Metropolregion Hamburg verloren gehen könnten.
Bisher sorgt das Geschäft mit erneuerbaren Energien für mehr als 10.000 Arbeitsplätze in Hamburg. „Drei der weltweit führenden Anlagenhersteller – Siemens Gamesa, Nordex und Senvion – haben ihren Hauptsitz oder Teile ihres Hauptsitzes hier“, so Rispens. „Eine solche Ballung sehe ich nirgendwo sonst in Europa.“ Alle vier großen Energieversorger in Deutschland – E.on, die RWE-Tochter Innogy, ENBW und Vattenfall – betreiben laut EEHH ihr Geschäft mit erneuerbaren Energien mit jeweils mehr als 100 Beschäftigten von Hamburg aus. Zwei Drittel aller deutschen Offshore-Windparks würden von hier aus geplant und koordiniert.
Aber auch die beiden in Deutschland führenden Windenergie-Finanzierer, die Commerzbank und die HSH Nordbank mit Kreditvolumina von 4,5 Milliarden beziehungsweise rund fünf Milliarden Euro, sind mit etwa 50 Mitarbeitern in dem Bereich von Hamburg aus aktiv. Die veränderten Marktbedingungen stellen sie vor neue Herausforderungen. So haben zuletzt Technologiekonzerne wie Google, Facebook oder Apple langfristige Lieferverträge mit Betreibern von Wind- und Solarparks abgeschlossen, um ihre gigantischen Computerserver-Zentren mit „grünem“ Strom zu versorgen. „Damit stellen sich uns als Finanzierer von Windparkbetreibern ganz ungewohnte Fragen“, sagt Quandel: „Wie schätzt man die Bonität von Google oder Facebook für die nächsten zehn Jahre ein?“