Hamburg. Beim Elbphilharmonie-Gastspiel vom Bergen Philharmonic überzeugte vor allem der Pianist Leif Ove Andsnes.
Können Klavierkonzerte, die durchaus über Seele und Eigenleben verfügen, so etwas wie bipolar verstörend sein? Falls ja – das einzige Klavierkonzert, das Benjamin Britten schrieb, wäre für diese Diagnose ein idealer Kandidat. Vier Sätze lang verweigert sich dessen Solopart den Erwartungen; der Motor, der den Virtuosen durch die sehr gute halbe Stunde treibt und kaum je durchatmen lässt, startet rasant und läuft ebenso schnell heiß. Entweder sind die Ideen, die dabei unentwegt aus dem Klavier heraussprudeln, derart manisch überdreht, dass sie bei einem Dopingtest sofort durchfallen würden. Oder sie sind – egozentrisch vergrübelt wie im Impromptu-Satz – in ihrer eigenen Welt unterwegs, gedanklich knapp neben dem Tutti-Geschehen.
Kein Wunder also, dass die meisten Tastenzauberer die Finger von Brittens op. 13 lassen und sich diese Mühen ersparen. Der Norweger Leif Ove Andsnes – ohnehin gern anders als die meisten anderen – schonte sich nicht. Der spielte das Stück im Zentrum eines Konzerts im Großen Saal der Elbphilharmonie als überraschend lohnendes, dankbares Bravourstück, das sich um Applaus und Zuneigung von außen nicht schert.
Das Orchester produzierte zu viel nur gut Gemeintes
Er spielte es nicht nur, wie man viele unhandliche Noten halt so wegspielt. Andsnes hielt mit kluger, elegant gelassener Übersicht dagegen – und das sich an Vorbildern wie Liszt, Ravel oder Prokofjew orientierende Stück damit stramm auf Kurs. Besonders gut gelungen: der Schlusssatz, diese garstige, sarkastisch geschliffene Portion Rausschmeißer-Schärfe. Britten zeigte sehr clever arrangiert einen Marsch im Zerrspiegel, der sich Mühe gab, keinen Gleichschritt aufkommen zu lassen. So kam es, dass man eine Rarität bestaunen konnte, die diesen Abend ins Besondere rettete und letztlich auch, zumindest ein Stück weit, adelte.
Denn so wacker sich das Bergen Philharmonic Orchestra unter seinem englischen Chefdirigenten Edward Gardner auch ins Zeug legte und sich rechtschaffen Mühe gab: Mühe allein genügt bei solchen Anlässen nicht. Übrigens ist es dieses Orchester aus Edvard Griegs Geburtsstadt, bei dem Hamburgs spätere Generalmusikdirektorin Simone Young um die Jahrtausendwende praktische Chefin-Erfahrungen sammelte. Mühe genügt erst recht nicht in einem so eigenwilligen Saal wie diesem, in dem das Orchester zum ersten Mal saß und prompt ein Schicksal erlitt, mit dem sich schon ganz andere Klangkörper konfrontiert sahen: Wenn man da alles hört, hört man nun mal einfach alles.
Wagner und Sibelius gelangen nicht
In diesem Fall hieß das zunächst: Man hörte zu viel des gut Gemeinten, in Wagners „Holländer“-Ouvertüre, die – leicht um die Ecke gedacht – eine feine Visitenkarte für das Orchester war, spielt diese Oper doch an der norwegischen Küste. Doch was nützen der gute Wille und der ganze Eifer, wenn deswegen praktisch alles zwei Stufen zu laut, zu undifferenziert und arg klangfarbendetailvernebelnd passierte? Wagner blieb Wagner, das schon, doch überzeugend ginge anders.
Ebenfalls noch auf dem suchenden Weg zu einer runden Interpretation war nach der Pause auch die Zweite von Sibelius. Ein finnisches Nationalheiligtum, ein Stück, in dem der Mut zur Fläche, zum ausgebreiteten Themenpanorama der Schlüssel zum Genuss ist. Es passiert oberflächlich nicht allzu viel, das allerdings ausgiebig. Doch auch hier ging mit Gardner und seinem Orchester die gute Absicht durch. Das Pizzicato der tiefen Streicher zu Beginn des zweiten Satzes war mitunter ein launiges Durch- und kein einheitliches Miteinander, im Finalsatz klangen die euphorischen Ausbrüche eher wie aufgeschäumter Tschaikowsky und nicht wie gut gekühlter Sibelius. Man kann das so exaltiert spielen. Sollte man aber nicht.
Aktuelle Andsnes-CD: „Chopin – Ballades & Nocturnes“ (Sony Classical) erscheint am
7. September.