Hamburg. Zur heute in der Hansestadt beginnenden Rollstuhlbasketball-Weltmeisterschaft ein Überblick über die vielseitige Sportszene.
Die Drehung beim Wiener Walzer könnte vielleicht noch etwas akkurater ausgeführt werden und die Kombination beim Cha-Cha-Cha dafür etwas lässiger – wenn man ganz streng ist. Aber letztlich ist das auch egal. Tanzen soll ja Spaß machen. „Darum geht es bei uns in erster Linie“, sagt Trainerin Janett Stier, „wir sind keine Gruppe, die auf Turniere fährt, sondern gemeinsam Freude an der Bewegung zur Musik erlebt.“
Das gelingt. Die Handfiguren und Körperbewegungen sitzen, die Partnerin wird gedreht und geführt. Dass sie im Rollstuhl sitzt – egal. „So groß sind die Unterschiede gar nicht“, erzählt Stier. Und die Schritte für den Fußgänger im Paar sind nur minimal verändert. Jeden Mittwoch treffen sie sich zum Tanzen im Club Saltatio in Rahlstedt. Die Tanzschule ist komplett barrierefrei, geht also. Seit zwei Jahren gibt es die Gruppe, vier Paare sind es derzeit. Dazu gibt es eine weitere Rollstuhlfahrerin und eine Fußgängerin mit motorischen Einschränkungen. „Nachwuchs“ ist also herzlich willkommen. Keine Angst. „Man braucht auch keine Vorkenntnisse“, betont Janett Stier, „Schnuppern ist immer möglich.“
Zahlreiche Sportarten
Tanzen ist nur eine von zahlreichen Sportarten, die in Hamburg für Rollstuhlfahrer angeboten werden. Rollstuhlsport ist weitaus vielfältiger als „nur“ Basketball, das durch die Weltmeisterschaft in der Inselparkhalle für Aufmerksamkeit sorgt. „Rollstuhlbasketball ist bereits sehr gut organisiert. Es sollten aber auch andere Behindertensportarten im Fokus bleiben“, forderte Thomas Fromm, der Präsident des Behinderten- und Rehabilitationssportverbands Hamburg (BRS), bei einem „Runden Tisch“ der Alexander Otto Sportstiftung anlässlich der WM.
Rund um die Inselparkhalle werden sich zahlreiche Sportarten präsentieren und zum Mitmachen verführen. Rollstuhl-Stand-up-Paddling, warum denn nicht? Kann man ausprobieren. Rollstuhlskaten, das ist krass, das hat sein „Erfinder“ David Lebuser schon ein paarmal in Hamburg gezeigt, und immer mehr junge Leute probieren es auch gerne aus. Mit Mut und Helm. Tischfußball machen der FC St. Pauli und der HSV, jeder ist willkommen. Und an diesem Wochenende findet ein Fechtturnier statt. Tatsächlich. Margit Budde (65), die Vorsitzende des Hamburger Fechtverbands, hat das Turnier initiiert.
„Wir fechten immer auf dem letzten Meter“
„Wir möchten gerne Rollstuhlfechten in Hamburg bekannt machen und eine Gruppe gründen“, sagt Budde. Die Sporthalle am Horner Weg wird den Fechtern ab Sommer 2019 als Verbandshalle dienen. Sie ist dann barrierefrei und damit für Rollstuhlfahrer gut zu nutzen. „Die Alexander Otto Sportstiftung hat uns mit Geld für ein Rollstuhlgestell und einen Hochmelder geholfen“, erzählt Budde, „die Voraussetzungen für Rollstuhlfechten haben wir also schon.“
Es ist ein paralympischer Sport, in dem deutsche Athleten durchaus erfolgreich sind, aber eben noch nicht in Hamburg. Die Dynamik des Sports, die findet nur in Arm und Oberkörper statt. Ansonsten sitzt der Athlet fest – und kann seinem Gegner eben nicht nach hinten ausweichen. „Bei den Fußgängern gibt es den letzten Meter, von dem aus es kein weiteres Zurück mehr gibt“, erklärt die Rostockerin Simone Briese-Baetke ihren Sport: „Wir fechten immer auf dem letzten Meter.“
Übungsleiter werden zu schlecht bezahlt
Es ist ein weiterer Versuch, einen paralympischen Sport in Hamburg einzuführen. Bedarf ist grundsätzlich da. „Wir sehen einen großen Nachholbedarf bei Sportangeboten“ meint Andreas Meyer, der Geschäftsführer des BRS, „in anderen Ländern ist der Organisationsgrad größer.“ Knapp 200.000 Menschen haben eine sogenannte Rehasportverordnung in Hamburg und könnten Sport treiben, aber nur 19.000 tun es. „Ich sehe zwei Hauptursachen: Die Übungsleiter werden zu schlecht bezahlt, und wir haben zu wenig geeignete Sportstätten. Insbesondere bei Wasserbecken haben wir den größten Nachholbedarf“, sagt Meyer.
Wasser hilft, Wasser trägt, Wasser ist super für Menschen mit körperlichen Einschränkungen, die sich sportlich betätigen wollen. Aber: Trainingszeiten in Schwimmhallen, ob bei Bäderland oder privaten Anbietern, ist knapp. Und damit teuer. Ein Problem, vor dem auch immer wieder Markus Werner, der Gründer und Vorsitzende von Alstersport e. V., steht.
Schwimmen ist stark nachgefragt
Zwei Trainingsbahnen für eine Stunde pro Woche kosten im Jahr 5700 Euro Miete erzählt er. Das ist viel Holz – oder besser: Kohle – für einen gemeinnützigen Verein. Auch Alstersport erhält deshalb Unterstützung der Alexander Otto Sportstiftung bei der Anmietung der Trainingszeiten. Glücklicherweise. Doch es ist eben nicht nur ein finanzielles Problem, es geht auch um Kapazitäten. „Wenn man leistungsmäßig Sport treiben will, reicht einmal Training in der Woche nicht aus.“
Zwei Schwimmerinnen von Alstersport, Franka und Mirza, Rollstuhlfahrerinnen an Land, haben gerade deutsche Rekorde aufgestellt. Die Topathletinnen sind die Spitze, Schwimmen ist aber insgesamt stark nachgefragt. „Wir sind jetzt in guten Gesprächen mit dem Sportamt über die Schwimmhallenkapazitäten für das nächste Jahr“, meint Werner, „das Problem scheint bei der Behörde inzwischen erkannt zu sein.“
Mit 167 Mitgliedern ist Alstersport der größte Sportverein mit dem Schwerpunkt Rollstuhlsport in Hamburg. 15 Sportgruppen an unterschiedlichen Standorten in der Stadt gibt es, Haupttrainingsort ist die Halle in der Eckernförder Straße. Auch Elektro-Rollstuhlsport ist im Angebot für Menschen, die oft schwerstbehindert und pflegebedürftig sind. „Sie haben genauso einen Wettkampfanspruch wie andere auch“, betont Werner.
30 Inklusionssportangebote zurzeit beim SVE
Die größte Gruppe im Verein sind die Rollstuhlrugby-Spieler um die Nationalspielerin Britta Kripke, die auch in der ersten und der zweiten Bundesliga aktiv sind. Britta Kripke leidet an CMT, einer Nervenerkrankung, die zu einer fortschreitenden Muskelschwäche führt. Davon sind nicht nur die Beine, sondern auch Arme betroffen. Beim Rollstuhlrugby müssen mindestens drei Gliedmaßen eingeschränkt sein. „Es ist großartig, einen Sport gefunden zu haben, in dem man auch mit meinen Einschränkungen erfolgreich sein kann“, freut sich die 41-Jährige.
Rollstuhlbasketball bietet Alstersport nicht an. Für Kinder und Jugendliche gibt es allerdings Spiel- und Spaßgruppen, in denen sich sportlich bewegt wird. Oft sind auch die Geschwister mit dabei, das belebt die Gruppen sehr. Ein Konzept, das auch der Eidelstedter SV in seinen Ballspielgruppen praktiziert. Rund 30 Inklusionssportangebote gibt es zurzeit beim SVE, der damit Hamburgs größter Anbieter unter den Universalsportvereinen ist. Wassergewöhnung, Fußball, Psychomotorik, alles ist dabei. Fünf Angebote richten sich speziell an Rollstuhlfahrer. „Nur zwei Prozent der im HSB organisierten Vereine treiben überhaupt inklusiven Sport“, sagt Abteilungsleiter Stefan Schlegel (54), „unser Wunsch wäre, dass es solche Angebote flächendeckend in der Stadt gibt. Der Bedarf ist zu 100 Prozent da.“
„Bedarfe an Sportstätten sehr unterschiedlich“
Eidelstedt ist neben dem HSV der einzige Verein, in dem Rollstuhlbasketball gespielt werden kann. Das bedeutet zum Teil extrem weite Wege für die Sportler im Rollstuhl. Die Stadt hat im Rahmen des „Active City“-Programms nun zwar für jeden Stadtteil den Bau einer barrierefreien Dreifeld-Halle beschlossen, Geschäftsführer Meyer vom BRS bezweifelt aber, ob das überhaupt nötig ist. „So viele Nutzer haben wir gar nicht“, sagt er. Nur knapp 300 aktive Rollstuhlsportler gebe es in der Stadt, überwiegend Querschnittsgelähmte. „Die Zahl wird nicht wesentlich größer, auch nicht mit besseren Angeboten“, meint er, „Sporttreiben ist nämlich vielen Behinderten nicht ein Leben lang möglich. Zu- und Abgänge halten sich so die Waage.“
Der BRS wünscht deshalb statt großer barrierefreier Hallen mehr kleine Einheiten: „Wir brauchen Gymnastik- und Einfeldhallen, die im Winter auf 20 Grad geheizt werden.“ Der Hamburger Sportbund (HSB) forderte durch seinen Präsidenten Jürgen Mantell beim runden Tisch auch, genau zu analysieren, was wo wie gebraucht wird: „Die weitere Planung sollte mehr noch Bedarfsplanung sein. Die Bedarfe an die einzelnen Sportstätten sind sehr unterschiedlich.“
Spezielle Boote
Die Bedürfnisse aber auch. Und manchmal wächst eine Nachfrage auch durch Angebote. Beispiel Parakanu. „Der ideale inklusive Sport“, sagt Ex-Weltmeisterin Edina Müller, die den Sport durch Zufall einst für sich entdeckt hat, „Behinderte und Nichtbehinderte können in einem Boot gemeinsam fahren.“ Durch ihre Erfolge ist auch Hamburg sozusagen aufgewacht. Trainer Arne Bandholz wurde zum Honorarbundestrainer ernannt, Hamburg ist ein Stützpunkt.
Die Wassersportanlage in Allermöhe soll nun mit einer besonderen Einstiegsanlage behindertengerecht ausgebaut werden. Mithilfe der Otto-Stiftung wurden auch schon spezielle Boote angeschafft. Vier, fünf Sportler sind inzwischen regelmäßig dabei, die zum Teil auch über das BG Klinikum an das Kanufahren herangebracht wurden. „Schnuppern ist jederzeit möglich“, sagt Arne Bandholz, „wir freuen uns über neue Interessenten.“
Leichtathletik liegt in Hamburg völlig brach
Doch mit der Nachfrage ist das so eine Sache. Leichtathletik zum Beispiel liegt in Hamburg völlig brach: keine Trainer, keine Halle, keine Sportler. Seit dem Rücktritt von Dorothee Vieth 2016 gibt es auch keine Handbiker mehr, die den Sport ernsthaft betreiben. Mit dem HSV plant die Paralympicssiegerin von 2016 nun den Aufbau einer Gruppe, Flyer liegen rund um die WM aus. „Der HSV hat auch adaptive Bikes zur Verfügung“, sagt sie, „wer Interesse hat, kann sich gerne beim Verein melden.“
Sie selbst ist nach dem Ende ihrer Leistungssportkarriere zum Tennis gewechselt – und muss beim TC Stelle im Landkreis Harburg spielen. Dort hat sich eine Gruppe von zehn Spielern zusammengefunden. Der Versuch des Hamburger Tennisverbands, mit einem Rollstuhltennistag für mehr Spieler zu werben, brachte dagegen vor zwei Jahren praktisch nichts. „Es gibt keine Nachfrage“, heißt es beim Verband.
Nachfrage lässt sich nicht planen – und manchmal kommt sie aus einer überraschenden Richtung. Das berichtet Markus Werner: „Wir haben seit einiger Zeit viele Anfragen für Rollstuhl-Volleyball. Das kannte ich noch gar nicht“, erzählt er, „das sind fast alles Zugezogene aus muslimischen Ländern. Der Sport ist dort offenbar sehr beliebt. Damit müssen wir uns mal beschäftigen.“