Hamburg. Bei Aurubis prallen Digitalisierung und Industrialisierung aufeinander: die Arbeit an den Schmelzöfen und die an den Computern.

Manchmal gibt es Momente, da weiß er noch nicht mal, welche Tageszeit ist. Ob er gerade Nachtschicht hat oder Frühdienst. Momente, losgelöst von Raum und Zeit, reduziert auf die Arbeit. Meistens passiert es, wenn er in der Hütte ist. Weil es dort keine Fenster gibt, kein Tageslicht, an dem er sich orientieren könnte. Keine Radios. Keine Verbindung nach draußen. Nur die Arbeit. Das Kupfer. Die Schmelzöfen. Die Hitze.

Es ist 22 Uhr, und die Nachtschicht von Nils Awiszus (30) hat gerade begonnen. Er ist Verfahrenstechnologe bei Aurubis, einem der weltweit größten Kupferproduzenten und Kupferrecycler. Als er vor fast 14 Jahren hier seine Ausbildung begonnen hat, direkt nach dem Realschulabschluss, hieß das Unternehmen noch Norddeutsche Affinerie und sein Job Verfahrensmechaniker. Sein Einsatzort ist in all den Jahren jedoch gleich geblieben. Die Rohhütte Werk Ost. RWO genannt. Es ist eine der leistungsfähigsten Kupferhütten auf der Welt, in der jährlich mehr als eine Million Tonnen Kupferkonzentrat verarbeitet werden.

Es ist eine Welt, in der Gegensätze aufeinanderprallen. Auf der einen Seite die Hütte mit Glut, Lärm und Schwefelgeruch. Mit ihren gewaltigen Schmelzöfen, Inbegriff der Industrialisierung, in der unter extremen Bedingungen schwere körperliche Arbeit geleistet wird. Auf der anderen Seite die digitalisierte Messwarte mit ihren Computern und Monitoren, auf denen alles überwacht wird.

Zwischen Computer, Schmelzofen, Kupferstich

Nils Awiszus wandelt zwischen den Welten, sein Arbeitsplatz wechselt ständig. Vor ein paar Tagen hat er den Steinstich gemacht und bei 65 Grad Umgebungstemperatur mit einem Meißel Ablagerungen aus der Kupferrinne gebrochen. Heute sitzt er vor acht Bildschirmen am Schreibtisch und kontrolliert Tabellen, Diagramme und Kurven. Er checkt Abgaswerte, überprüft die Temperatur des Schmelzofen und nimmt immer wieder kleine Nachbesserungen vor. Am Computer. In dieser Nacht, das weiß er, wird er nicht überlegen müssen, welche Tageszeit ist. Das muss er nie in der Messwarte. Weil die Uhrzeit auf jedem Bildschirm angezeigt wird. Und weil er jede Stunde einen Bericht schreiben muss. Mit Uhrzeit.

Nils Awiszus wandelt zwischen den Welten: Hier überwacht er in der Messwarte die prozesstechnischen Abläufe
Nils Awiszus wandelt zwischen den Welten: Hier überwacht er in der Messwarte die prozesstechnischen Abläufe © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez

Die Messwarte liegt nur ein paar Meter von den Kupferöfen entfernt – und doch in einer anderen Welt. Klimatisiert, digitalisiert. Ganz anders als draußen in der Ofenhalle, wo die Kollegen von Nils Awiszus gerade den heißen Kupferstein aus dem Schmelzofen in einen riesigen Kübel fließen lassen und zur weiteren Veredelung vorbereiten. Händisch. Eine Kamera überträgt die Bilder in die Messwarte, in der Nils Awiszus gerade die Temperatur des Kühlwassers überprüft. Um die 40 Grad Celsius muss das Wasser haben, mit dem der Ofen von außen gekühlt wird. „Klingt zwar nicht gerade kalt, aber wenn man bedenkt, dass im Ofen 1200 Grad sind ...“, sagt Nils Awiszus.

Er weiß, wie wenig sich andere unter seiner Arbeit vorstellen können. Wie schwer die aufwendigen thermo- und hydrochemischen Prozesse zu beschreiben sind, die hier ablaufen, damit aus Kupferkonzentrat jenes rote Gold wird, das als wichtigstes Metall in unserem Alltag gilt. „Das hier ...“, sagt Nils Awiszus und zeigt auf die Bildschirme, die Bilder aus der Ofenhalle übertragen: „... ist eine andere Welt.“

Die Kupfergewinnung ist komplex

Unbeschreiblich. Unvorstellbar. Selbst ihm fällt es schwer, die komplexe Kupfergewinnung so zu erklären, dass Laien sie verstehen. Er spricht von Reaktionsabläufen, Schwebeschmelzverfahren, Oxidation und Feuer-Raffination. „Ganz vereinfacht könnte man sagen: Da das Kupferkonzentrat zunächst aus jeweils rund 30 Prozent Kupfer, Eisen und Schwefel sowie zehn Prozent anderen Elementen besteht, muss es verschiedenen Prozesse durchlaufen, bis man Kupfer mit einem Kupfergehalt von 99,99 Prozent erhält.“

Awiszus will noch mehr sagen, wird aber von einer blechernen Stimme unterbrochen. Das Mikrofon ist angesprungen, überträgt eine Stimme aus der Kupferhütte in die Messwarte. Es ist der Eisenmann, wie Nils Awiszus ihn nennt. Er weiß genau, welcher Kollege heute auf welchem Posten ist. „Er will Eisen in den Ofen chargieren, daher müssen wir von hier drinnen den Ofenzug einstellen“, sagt Nils Awiszus und klickt mit der Maus das entsprechende Feld auf seinem Bildschirm an. Noch einmal knackt das Mi­krofon. „Gib mal Zug auf den Ofen“, ruft der Eisenmann. Nils Awiszus lacht und stellt am Computer den Ofenzug neu ein.

Ein letzter Blick auf die Bildschirme, dann schiebt Nils Awiszus seinen Schreibtischstuhl zurück und steht auf. Zeit für den Kontrollgang durch die Rohhütte. Zeit, sich selbst ein Bild zu machen – und sich nicht nur auf den Computer zu verlassen. Zweimal pro Schicht geht er raus, spricht mit seinen Kollegen und begutachtet die Arbeitsprozesse dort, wo sie stattfinden. „Ist schon was anderes, das selbst zu sehen, und nicht nur am Bildschirm zu hocken“, sagt Nils Awiszus, während er sich ein Paar Handschuhe, Ohropax und eine Atemschutzmaske vom Regal nimmt. In der Rohhütte gelten strenge Sicherheitsmaßnahmen.

Die Macht der Hütte kann man nur fühlen

Als er das erste Mal in der Hütte war, hat es ihn umgehauen. Die Hitze, der Lärm, die Größe. Diese Ursprünglichkeit, diese pure Industrie. Manchmal, wenn er auf der Brücke steht, das Vibrieren des Bodens unter den Füßen spürt und das Feuer in den Öfen sieht, überwältigt es ihn noch immer. „Wo sonst hat man so einen Arbeitsplatz. Wo sonst kann man mit 1300 Grad heißer Schmelze hantieren. Wo sonst an der Herstellung eines so wichtigen Rohstoffes mitwirken.“ Es ist keine Frage. Sondern eine Feststellung. Klar, manchmal fragt er sich, ob er sich nicht einen anderen Job suchen sollte. Mit normalen Arbeitszeiten, einem geregelten Alltag. Wo nicht rund um die Uhr gearbeitet wird, es kein Drei-Schichten-System gibt. Mit Sonn-und Feiertagen. Familienfreundlicher eben! Aber wenn er dann hier ist ...

Nils Awiszus kontrolliert im Schutzanzug  das Feuer im Konverter
Nils Awiszus kontrolliert im Schutzanzug das Feuer im Konverter © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez

Er stockt, sucht nach den passenden Worten. Und findet sie nicht. Er zuckt mit den Achseln. Die Macht der Hütte kann man nicht beschreiben, verstehen. Nur fühlen. Kurzes Gespräch mit dem Vorarbeiter. Er sagt, was Sache ist. Was man nicht auf den Bildschirmen sieht. Die Kupferschlacke läuft schlecht. Und Kran 2 ist kaputt. Der Schlosser ist bereits an der Arbeit. Nils Awiszus hört zu, nickt. Alles unter Kontrolle weiter. Er checkt den Kühlwasserbereich, überprüft die Flussmenge, geht weiter in Richtung Steinstich. Je näher er den Öfen kommt, desto höher wird die Strahlungswärme. 65 Grad sind es am Steinstich. Durch eine chemische Reaktion im Schwebeschmelzofen ist das Kupferkonzentrat hier so weit aufgeschmolzen, dass Kupferstein und Schlacke entstanden sind.

Die schwere Arbeit ist kaum zu beschreiben

„Während sich der schwerere, flüssige Kupferstein am Boden des Ofens absetzt, schwimmt die leichtere Schlacke oben und muss abgestochen werden“, sagt Nils Awiszus und erklärt, was das bedeutet: „Wie bei einem Weinanstich wird der Ofen aufgebrannt, die Schlacke durch eine Rinne abgeleitet und der Ofen wieder verschlossen.“ Er weiß, dass das nichts als Worte sind. Nichts die schwere körperliche Arbeit beschreiben kann, die sich dahinter verbirgt. Die Hitze, die schweren Gerätschaften, die steinharten Ablagerungen, die man mit einem Meißel herausbrechen muss. „Das ist ein Knochenjob“, sagt Nils Awiszus. Letzte Woche hat er selbst den Steinstich gemacht. Zwei Tage lang, jeweils acht Stunden.

Wenn er am Steinstich ist, ist er zeitlos. Dann weiß er nicht, ob es draußen Tag oder Nacht ist, ob er erst eine Stunde arbeitet oder schon drei. „Der Steinstich bringt dich an deine Grenzen – und darüber hinaus“, sagt Nils Awiszus. Er kennt das, geht oft über seine Grenzen. Beim Sport, beim Triathlon. Dem Ironman. Zehn bis 15 Stunden trainiert er dafür pro Woche. Schwimmen, Laufen, Rad fahren. Fast jeden Tag, sonst ist es nicht zu schaffen. Meistens fährt er mit dem Rad zur Arbeit, oft läuft er aber auch. Von Neugraben bis zur Veddel, zu Aurubis. 21 Kilometer sind es, pro Strecke. Manchmal gibt es aber auch Tage, da schafft er nur eine Tour. Nur den Hinweg. Wenn er am Steinstich ist. Oder wenn er Nachtschicht hat.

Gearbeitet wird jeden Tag, zu jeder Zeit

Zweimal Frühschicht, zweimal Spätschicht, zweimal Nachtschicht. Dann drei oder vier Tage frei. So läuft es. Egal, ob Weihnachten oder Ostern ist, Silvester oder Neujahr. Gearbeitet wird jeden Tag, zu jeder Zeit. Früher war das kein Problem, aber jetzt, wo er Vater ist, zwei kleine Kinder hat, das jüngste gerade mal zehn Monate ... „Da ist es manchmal schon ganz schön hart“, sagt Nils Awiszus. Er ist auf dem Weg zu den Schlackemännern. Die Brücke führt über eine Rinne mit glühender Schlacke. Sie sieht wie Lava aus. Irgendwann wird daraus jene schwarze Eisensilikat-Gestein, das am Elbstrand liegt. Doch jetzt, hier, in diesem Moment, fließt sie als 1200 Grad heiße Schlacke aus dem Schwebeschmelzofen.

„Sie entsteht, wenn wir beim Einschmelzen von Kupferkonzentrat Sand hinzugeben. Dadurch erreichen wir, dass sich der Kupferstein ablagert und weiter verarbeitet werden kann – und die Schlacke obendrauf schwimmt und aus dem Ofen abgeführt werden kann“, sagt Nils Awiszus. Er steht jetzt so dicht an der Rinne, dass die Luft auf der Haut brennt, das Atmen schwer- fällt. Seine Kollegen tragen Schutzanzüge und Helme. Rund 180 Tonnen Schlacke fließen hier durchschnittlich lang. Pro Stunde.

Sechs Liter trinken, viermal umziehen

„Ist einer der härtesten Jobs hier“, sagt Nils Awiszus und wischt sich mit einer Hand über die Stirn, während er mit der anderen auf seinen Kollegen deutet. Mit einer 15 Kilogramm schweren Lanze bricht dieser gerade die Ablagerungen aus der Rinne. „Das geht extrem auf die Gelenke“, sagt Awiszus. Vor ein paar Tagen stand er selbst hier an der Rinne. Es sind jene Tage, an denen er bis zu sechs Liter in einer Schicht trinkt, sich vier- bis fünfmal umzieht, weil alles durchgeschwitzt ist. Wenn er Schlackemann ist und Pause hat, geht Nils Awiszus meistens in die Messwarte und ruht sich dort kurz aus. Weil es dort so kühl ist. Und überall Uhren gibt.

Apropos: Er muss weiter. Durch die Ofenhalle, vorbei an den drei Konvertern, jeder mit einem Durchmesser von zwölf Metern. Er spricht mit Vorarbeitern, kontrolliert Kühlwasserleitungen und Abgasfilter. Dann geht er zum Anodengießrad, wo das raffinierte Kupfer in Formen gegossen wird. Alles klar, alles kontrolliert. Ein kurzer Blick auf die Uhr. Er hat eine Sportuhr von Garmin, speziell für den Triathlon. Heute trägt er aber so ein billiges Ding vom Markt. Wie immer bei der Arbeit. Uhren gehen hier zu schnell kaputt. Die Anzeige leuchtet im Dunkeln. Er muss zurück. Es wird Zeit.

Nächste Folge: Nachtschicht beim Sicherheitsdienst Alle bisherigen Folgen online unter:
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