Hamburg. Zu Besuch in einer Welt zwischen Abenddämmerung und Morgengrauen. Heute: Mit der Hamburger Hochbahn auf Tour.

Die letzte Fahrt des Tages. Ein paar Minuten hat er noch, bevor er losmuss. 14 Minuten und 45 Sekunden. 44 Sekunden, 43 Sekunden. Die Zeit leuchtet im zentralen Display auf, zählt Sekunden und Minuten herunter. Tobias Albrecht greift in das Ablagefach unter seinem Sitz und schnappt sich ein Päckchen mit Zigaretten. Schnell noch eine rauchen, dann geht es weiter.

Es ist 23.40 Uhr, und Tobias Albrecht hat den 18 Meter langen Gelenkbus, Nummer 3818, gerade zur Haltestelle Borgweg gefahren und die Fahrgäste aussteigen lassen. Seit 19.28 Uhr ist er im Dienst, immer auf der Linie 6. Borgweg – Speicherstadt. Borgweg – Feldstraße. Hin und zurück. Hin und zurück. Um 23.55 Uhr startet die letzte Tour auf der Strecke. Die letzte Tour des Tages. Doch sein Dienst geht weiter. Bis 4.30 Uhr. Im Nachtbus.

Nachts fährt er am liebsten. Weil es dann so leer auf den Straßen ist. Und so ruhig. Keine Hektik. Seit 2010, kurz nachdem er bei der Hochbahn angefangen hat, geht er abends zur Arbeit und morgens ins Bett. „Is’ alles eine Sache der Gewohnheit“, sagt Tobias Albrecht. Er ist 39 und einer dieser Typen, die man als „hemdsärmelig“ beschreiben könnte. Er lacht, wenn er das hört. Ist ihm egal, wie andere ihn nennen. Er macht sein Ding, lässt sich nicht reinquatschen.

So war es auch schon vor acht Jahren, als er sich entschieden hat, Nachtfahrer zu werden. Weil seine Tochter schwer krank wurde. So schwer, dass sie nicht mehr in den Kindergarten konnte und zu Hause betreut werden musste. Von ihm. „Hab morgens auf die Kleine aufgepasst und nachts gearbeitet“, sagt Tobias Albrecht, nimmt einen letzten Zug und drückt die Zigarette aus. Acht Minuten und 32 Sekunden noch.

Albrechts Familie lebt in Wismar

„War so ‘ne Sache mit den Thrombozyten. Hatte irgendwie zu wenig davon, sodass ihr Blut nicht geronnen ist“, sagt Albrecht und fährt sich mit der Hand über das Gesicht. „Hätte dran verbluten können, wenn sie sich verletzt hätte.“ Punkt. Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen dazu. Er ist kein Mann der großen Worte, niemand, der lange rumschnackt. Es ist halt, wie es ist. Und überhaupt: Heute geht es der Kleinen ja wieder besser. Heute ist die Kleine groß. Emma, elf Jahre alt und längst in der Schule. Er arbeitet trotzdem noch im Nachtdienst.

Mit einem großen Schritt springt er in den Bus und auf den Sitz. Einmal kurz hin und her rutschen, die richtige Position finden. Dann los. An der Haltestelle stehen die ersten Fahrgäste. Tobias Albrecht zieht den EFAD zu sich heran, den Elektronischen Fahrausweisdrucker. Auf dem Display stehen Datum und Uhrzeit, Name der Linie und der nächsten Haltestelle. Ticketpreise. Und die Zeit bis zur Abfahrt. 58 Sekunden noch.

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Tobias Albrecht schließt die Tür und startet den Motor. Ein Diesel, Euro 6 Norm, Baujahr 2018. Wenn er wollte, dürfte Albrecht sogar durch die für ältere Dieselfahrzeuge gesperrte Stresemannstraße fahren. Er zuckt die Schultern. Liegt meistens nicht auf seiner Tour. Tobias Albrecht gibt nun Gas. Feiner Nieselregen legt sich auf die Windschutzscheibe und rinnt in kleinen Bächen die Frontscheibe herunter. Die Lichter vorbeifahrender Autos spiegeln sich auf dem nassen Asphalt. Sie blenden.

Ein paar Minuten noch bis Mitternacht. „Moin“, sagt Tobias Albrecht, als die ersten Fahrgäste einsteigen. Moin. Und noch mal Moin. Er hat die typische Hamburger Begrüßung schnell angenommen, als er vor neun Jahren in die Hansestadt gezogen ist – und sie sich bewahrt, als er mit der Familie zurück nach Wismar gegangen ist. Dort lebt er, pendelt zur Arbeit nach Hamburg. Klar, nicht täglich. Aber jede Woche.

Große Wagen haben ihn schon immer gereizt

Er lebt in einer WG mit einem Kollegen zusammen. Konrad, 56 Jahre alt. „Könnte mein Vater sein“, sagt Tobias Albrecht und lacht. Weil er meint, dass sie wie ein altes Ehepaar zusammenleben. Auf 37 Quadratmetern, zwei Zimmer. Eine Wohnstube, wie er es nennt. Und ein Schlafzimmer. Mit Ehebett. Aber hey! So ist das nun mal in einer coolen Männer-WG, meint Tobias Albrecht.

Schließlich haben beide schon in Gemeinschaftsunterkünften gepennt. Konrad während seiner Zeit auf See und Tobias beim Bund. Meistens gehen sie gegen 7 oder 8 Uhr schlafen. Manchmal aber auch erst gegen Mittag. Weil es draußen einfach zu laut ist. Oder weil sie vorher nicht zur Ruhe kommen, nicht runterkommen. Weil nachts zu viel los war. Und der Körper morgens nun mal auf Aufstehen programmiert ist. Und nicht auf Schlafen.

Irgendwo zwischen Goldbekplatz und Gertigstraße beginnt ein neuer Tag. 0.00 Uhr. Sein Dienst dauert noch viereinhalb Stunden. Hochkonzentriert lenkt Tobias Albrecht den Gelenkbus durch die Straßen. Große Wagen haben ihn schon immer gereizt, bei vier Achsen kommt er ins Schwärmen. Bei der Bundeswehr hat er den Lkw-Führerschein gemacht, eine Unteroffizierslaufbahn eingeschlagen. „Wollte ‘nen Job mit Perspektive“, sagt Tobias Albrecht, während er an einer roten Ampel wartet.

Sein Vater war Schlosser. Er auch. Klar, war im Osten ja oft so, dass man den Job des Vaters macht. Aber irgendwann, sagt er, da hatte er keinen Bock mehr. Keinen Bock mehr auf die Arbeitslosigkeit im Winter. Auf die Angst, im Frühjahr keinen Job zu finden. Also ist er zuerst zum Bund gegangen. Und dann Busfahrer geworden. Weil der Beruf sicher ist.

Leute feiern, die Stadt lebt

0.26 Uhr. Ankunft Feldstraße, auf die Minute pünktlich. Auch das zeigt der EFAD an. Der Bus ist leer. Tobias Albrecht fährt weiter, direkt zur Reeperbahn. Von draußen dringt das Wummern der Bässe herein. Donnerstagnacht. Die Leute feiern, die Stadt lebt. Vor der Endoklinik hält er an. Hier, auf dem Überliegeplatz, den die anderen Pausenplatz nennen, macht er Pause. Es ist 0.33 Uhr. 12 Minuten Ruhe. Die Zeit wird auf dem EFAD angezeigt, tickt langsam runter.

Manchmal, wenn er keine Zigaretten mehr hat, geht er um die Ecke zur Tanke und kauft sich dort neue. Heute sind noch drei Stück in seinem Päckchen. Tobias Albrecht checkt die Nachrichten auf seinem Handy und greift in das Ablagefach an der Fahrertür. Dort bewahrt er seine Thermoskanne mit Kaffee auf. Ein Schluck, das reicht. Sonst muss er zu oft. Und das ist unterwegs nervig. In der Endoklink darf er das WC benutzen. Danach sind es zwei Stunden bis zum nächsten WC. Etwas essen? „Tu ich nachts nicht. Werd sonst müde“, sagt Albrecht.

Die Zeit ist um. 0.45 Uhr. Weiterfahrt. Halt an der Reeperbahn, an der Davidwache, der U-Bahn St. Pauli. Der Bus füllt sich. Am Rathausmarkt, knapp zehn Minuten nach dem Start, sind fast alle Sitze belegt. Tobias Albrecht muss einen Moment warten, bis die Leute nach hinten durchgegangen sind. Auf der gegenüberliegenden Fahrbahn fährt gerade ein Bus vorbei. Albrecht hebt die Hand zum Gruß, grinst.

Der Fahrer ist Konrad. Sein Mitbewohner. Um halb fünf, wenn Al­brecht Feierabend hat, wartet er auf ihn. Dann fahren sie gemeinsam nach Hause, frühstücken erst mal. In Ruhe. Mit aufgebackenen Brötchen, Eiern. So richtig lecker. Konrad war früher mal Koch. Sie gucken ein bisschen Fernsehen, machen ihre Thermoskannen sauber, füllen die Zigaretten auf. Für die nächste Fahrt, die nächste Nacht.

Mädchen hatte Liebeskummer

Halt an der Kirchenallee. Eine Schlange Fahrgäste. Moin, Moin. Immer wieder. Tobias Albrecht kontrolliert Fahrkarten, beantwortet Fragen zu Haltestellen und Busverbindungen. Er mag das, die Leute, die Stadt. Als seine Frau und die Kinder zurück nach Wismar gezogen sind, hat er überlegt, sich dort einen Job zu suchen. Klar, da gibt’s ja auch Busse. Ein Vorstellungsgespräch hatte er sogar schon.

Er mag das Leben auf dem Land. Aber da arbeiten? Ne, echt nicht! Busfahren will er nur in der Stadt. Nachts. Alles andere ist ihm zu öde. An seinen Fahrgästen kann er die Zeit ablesen. Wenn er wie jetzt nach Mitternacht aus der Stadt rausfährt, sind es meistens Leute, die gefeiert haben, nach Hause wollen. Wenn er sich gegen 2.40 Uhr von Poppenbüttel zurück auf den Weg in die Stadt macht, sind es Menschen, die zur Arbeit müssen.

Im Bus ist es laut, vor allem im hinteren Teil. Eine Gruppe junger Leute. Es wird gegrölt, gesungen. Eine leere Flasche rollt über den Boden. Von hinten nach vorne, von vorne nach hinten. Immer wieder guckt Tobias Albrecht in den Spiegel.

Vor ein paar Wochen haben Jungs wie die heute eine Schlägerei angefangen. Albrecht ist dazwischengegangen. „Normal ist das zwar nicht …“, setzt er an, doch dann zuckt er die Schultern. So ist er nun mal. Kann eben nicht aus seiner Haut. War auch neulich so, als bei einer Fahrt plötzlich ein junges Mädchen zu weinen anfing und nicht mehr aufhörte. „Ist doch klar, dass ich da nachfrage und tröste“, sagt Albrecht. Das Mädchen hatte Liebeskummer. Er weiß, wie das ist.

Weiter, immer weiter

U-Bahn Mundsburg. Der EFAD zeigt 2.50 an. Zwei Minuten und 50 Sekunden Verspätung. Bis Barmbek muss er die Zeit wieder rausholen, sonst verpassen die Fahrgäste da den Anschluss. Der Regen prasselt auf das Dach, die Sicht nach draußen verschwimmt. Irgendwo hinten kann man den Bahnhof Barmbek sehen, hell erleuchtet. „Hoffentlich ist der 617er noch da“, sagt Tobias Albrecht. Dann muss er bremsen, eine rote Ampel.

Sekunden verrinnen. 3.30 zeigt der EFAD an, als der Bus Barmbek erreicht. Drei Minuten und 30 Sekunden zu spät. Die Haltestelle ist leer, der Anschlussbus ist weg. Einige Fahrgäste blicken sich ratlos um, einige fluchen. Tobias Albrecht auch. „Eigentlich sollte der auf uns warten“, sagt er. Der Rest des Satzes hängt in der Luft wie der Geruch des Regens auf dem heißen Asphalt.

Weiter, immer weiter. Hellbrookstraße, Neue Wöhr, Hebebrandstraße. Türen auf, Türen zu. Auf, zu. Je weiter sich der 607er von der Innenstadt entfernt, umso weniger Menschen stehen an den Haltestellen. Irgendwann steigt niemand mehr ein. Nur noch aus. Fremdland. So nennt er die Strecke hier draußen. Irgendwo im Nirgendwo. Zwischen Ohlsdorfer Friedhof und Poppenbüttel.

Seine Route kennt er, die Haltestellen, die Ampelschaltungen auf der Strecke. Sonst kennt er nichts. Sechs Minuten Verspätung. Al­brecht zuckt die Achseln. „Mehr als fahren kann ich ja nicht“, sagt er. Das Wetter und die Ampel könne er nicht ändern. Am Tempo sei nichts zu machen. „Mehr als 50 fahre ich nicht“, sagt Albrecht. Er kann sich nicht erlauben, den Führerschein zu verlieren.

In der Pause schläft er manchmal

2.02 Uhr. Jemand hat die Haltewunsch-Taste gedrückt, Albrecht muss stoppen. Doch niemand steigt aus. Albrecht seufzt. So was passiert immer wieder. Die Leute finden das witzig. Er nicht. Kostet Zeit. Die Verspätung wird immer größer. 9.20 zeigt der EFAD an. Ein paar Kilometer nur noch bis zur Endhaltestelle. Von Volksdorf nach Poppenbüttel, durch den Waldweg. Kurvig, dunkel. Gefährlich. Hier ist ihm schon mal ein Reh vor den Bus gesprungen, also vorsichtig.

Wieder ein paar Sekunden, die er verliert. Auch von seiner Pause. Nicht einmal 30 Minuten Zeit hat er zwischen Ankunft am Wenzelplatz, S-Bahn Poppenbüttel, und der Abfahrt. In manchen Nächten, in denen er besonders müde ist, legt er sich in dieser Zeit kurz hin. Hinten, auf die letzte Bank. Einmal langmachen, kurz die Augen schließen, das reicht schon. Meistens wacht er nach 15 oder 20 Minuten von alleine auf, ist dann wieder fit für die Weiterfahrt. Heute schafft er das nicht. Er hat gut zehn Minuten Verspätung.

Irgendwo in der Stadtbahnstraße, kurz vor der Endhaltestelle, kommt ihm auf der anderen Fahrbahnseite ein Bus entgegen. Albrecht hebt die Hand zum Gruß, dann lacht er. War schon wieder Konrad. Eigentlich treffen sie sich auf diesem Streckenabschnitt nicht mehr. Liegt heute an der Verspätung.

Es ist 2.21 Uhr, als Tobias Albrecht die hell erleuchtete Station S-Bahn Poppenbüttel erreicht. Er steht auf, schüttelt die Beine aus, streckt die Arme. In nicht einmal 19 Minuten geht es weiter. An der Haltestelle stehen bereits die ersten Fahrgäste.

Nächsten Sonnabend: Nachtschicht bei der Polizei