Hamburg. Rund 45.000 Hamburger arbeiten, wenn andere schlafen. Zu Besuch in einer Welt von Gemüseständen.

Ein letztes Mal rückt Heinz Wulff die übereinandergestapelten Kisten gerade und ordnet ein paar verrutschte Rhabarberstangen in den oberen Stiegen, dann ist er fertig. Wulff wischt sich die Hände an der Hose ab und geht zu seinem Kontor. So nennt er seinen Verkaufsstand, den er sich vor ein paar Jahren zusammengezimmert hat. Mit einer alten Holzplatte als Schreibtisch und ein paar halbhohen Brettern drum herum. Vorsichtig setzt sich Wulff auf einen der Barhocker, die er aufgestellt hat, und geht seine Bestellungen durch. Sein Laptop steht aufgeklappt auf dem Holztisch, doch Wulff beachtet ihn nicht. Bei ihm gehen alle Bestellungen per Fax ein. Oder mündlich. Besiegelt mit einem Handschlag.

Es ist 23.00 Uhr, und Heinz Wulff (58) hat seinen Stand auf dem Hamburger Großmarkt bereits aufgebaut. Er ist früh dran, einer der Ersten. Damit er die Bestellungen abgearbeitet hat, wenn gegen zwei Uhr der Verkauf losgeht. „Ich will bis dahin alles ausgeliefert haben“, sagt Wulff und wirft einen letzten Blick auf den Zettel in seiner Hand. Dann fängt er an. Er zählt Kisten ab, wuchtet Stiegen mit Rhabarber übereinander und guckt sich dabei suchend um. „Wo is’n jetzt ’nen Stapler“, fragt er und geht langsam durch den Gang der Erzeugergemeinschaft, zu der auch er gehört. Rund 100 Erzeuger gibt es auf dem Hamburger Großmarkt, die nur ihre eigenen Produkte verkaufen. „Ich sach immer: Frischer geht nicht.“

Morgens auf dem Feld, abends auf dem Großmarkt

Irgendwo, in einer Hemd- oder Hosentasche, vibriert es. Sein Handy. Wulff wirft einen Blick auf das Display. Eine Nachricht. Davon wird er im Laufe der Nacht noch mehrere bekommen. Seine Freunde wissen ja, dass er arbeitet. Morgen früh, wenn er gegen 8.00 Uhr nach Hause kommt und ins Bett geht, macht er das Handy aus. Wenn er schläft, darf ihn nichts stören. Niemand. Trotzdem fällt das Schlafen manchmal schwer. Weil der Körper morgens Aufstehhormone ausschüttet. Auch nach einer Nachtschicht. Die Körperfunktionen lassen sich nicht austricksen.

Plötzlich bleibt Wulff stehen. Da! Endlich, ein Stapler. Den braucht er, um seine Waren in der riesigen Großmarkthalle von seinem Stand zu einem Kunden zu bringen. Mit geübtem Blick lenkt er den Stapler zu seinem Platz und belädt ihn mit Kisten voll Rhabarber. „Feldfrisch“, sagt er und streicht stolz über die festen, glänzenden Stangen. Wurden erst heute Morgen geerntet. „So was geht nur, wenn die Waren aus der Region kommen“, sagt Wulff und nickt mit dem Kopf in den anderen Teil der Halle. Dorthin, wo die Großhändler und Importeure ihre Stände haben. „Die Waren aus Italien oder so sind mindestens drei oder vier Tage unterwegs, bevor sie hier eintreffen.“

Fast alle Kunden sind Stammkunden

Wulff ist stolz darauf, dass er nur das verkauft, was auf seinen Feldern wächst. Rhabarber, Kräuter oder Kürbisse. Je nach Saison. 100 bis 150 Kisten sind es. Täglich. Viermal pro Woche ist er auf dem Großmarkt, von 23.00 bis 6.00 oder 7.00 Uhr. Kommt ganz darauf an, wie das Geschäft läuft. Meistens läuft es gut. 80 Prozent seiner Kunden sind Wochenmarkthändler, 20 Prozent kleine Lebensmittelgeschäfte. Fast alles Stammkunden. Seit 25 Jahren steht er auf dem Großmarkt, die Leute kennen ihn. „Handel hat was mit Vertrauen zu tun“, sagt er und steigt auf den Stapler. Er muss los, die Nacht ist kurz. Mit einem leisen Surren verschwindet das Gefährt in einem der Gänge.

Während draußen die Nacht über Hamburg hereinbricht und sich die Dunkelheit über die Stadt senkt, erwacht der Großmarkt zum Leben. Im Minutentakt passieren Lastwagen das Tor West und parken vor der Halle mit dem geschwungenem Dach. Warnlichter blinken. Elektrische Gabelstapler schießen heran, rangieren hin und her, entladen rasend schnell Palette um Palette und brausen in hohem Tempo davon. Es ist wie ein Paradoxon: Ausgerechnet dann, wenn zwischen 22.00 und 24.00 Uhr die Geschäftigkeit auf dem Großmarkt losbricht, fährt der Körper seine Funktionen herunter. Die Adrenalinproduktion wird eingeschränkt, Herz­schlag, Atmung und Körpertemperatur sinken ab. Der Körper schaltet auf Ruhe, der Großmarkt auf Hochbetrieb.

Deutschlands größtes Drehkreuz für Obst und Gemüse

Rund 400 Großmarkthändler bestücken jetzt ihre Stände. Außer Erzeugern wie Heinz Wulff sind es vor allem Großhändler, die hier ihre importierten oder vor Ort einkauften Waren weiter vertreiben. An Lebensmittelgeschäfte, Wochenmarkthändler, Restaurants, Hotels und Kantinen. Die Kunden kommen nicht nur aus Norddeutschland, sondern auch aus Polen und Skandinavien. Mehr als 4000 sind es regelmäßig. Der Hamburger Großmarkt ist ein Markt der Superlative, das größte Drehkreuz für Obst und Gemüse in Deutschland. Pro Jahr werden hier 1,5 Millionen Tonnen Waren im Gesamtwert von zwei Milliarden Euro verkauft.

Gerhard Böhle hat mit Zahlen nichts am Hut. Interessiert ihn nicht. Er will nur seine Arbeit machen. Mal kurz schnacken? Nur, wenn es schnell geht. Ist schließlich Mitternacht und es gibt viel zu tun. Er muss noch die Lkw leer machen und die angelieferten Waren kontrollieren, dann die Bestellungen durchgehen und alles für die Kunden zusammenpacken. Böhle ist einer von rund 3500 Mitarbeitern auf dem Großmarkt. Angestellt bei der Boboly Handelsgesellschaft, einem Großhändler. Böhle wischt sich mit der Hand über die Stirn. Heiß ist es heute Abend in der Halle. Weit über 20 Grad. „Heiß, aber herzlich“, sagt Böhle und lacht. Dann wird er ernst.

Melonen und Orangen gehen in die Arme

Der Großmarkt ist sein Leben. Ohne könnte er sich nicht vorstellen. „Hab ja sonst nix“, sagt Böhle. Niemanden, der zu Hause auf ihn wartet. Die schwere Arbeit stört ihn nicht. Ist alles eine Sache der Gewohnheit, er macht den Job ja schon seit Jahrzehnten. Nur dieses verflixte Aufeinanderstapeln der Kisten fällt ihm immer schwerer. Besonders schlimm seien Melonen und Orangen. Das gehe ganz schön in die Arme. „Da merkt man, was man getan hat“, sagt Gerhard Böhle. Aber spätestens am nächsten Morgen, wenn er sich auf dem Heimweg ein Rundstück und eine Zeitung geholt hat und zu Hause in Ruhe frühstückt, ist alles vergessen. Dann freut er sich auf den Abend, wenn er wieder zum Großmarkt fährt. Viel Schlaf braucht er nicht, nur ein paar Stunden am Nachmittag. Gerhard Böhle ist 81 Jahre alt.

Auf dem Großmarkt prallen Gegensätze aufeinander. Auf der einen Seite hochmodern ausgestattete Großhändler, die mit Leuchtreklame und drehenden Werbewürfeln auf sich aufmerksam machen, über riesige Flächen, Kühlräume sowie komplette Büros verfügen. Auf der anderen Seite unscheinbare, schlichte Stände, die aus kaum mehr als ein paar aufeinandergestapelten Kisten bestehen, meist nur einen Bruchteil Verkaufsfläche haben. Früher haben sich vier oder sechs Händler eine Fläche von 160 Quadratmetern geteilt. Heute nutzen viele die gleiche Fläche alleine. Die Kleinen werden immer weniger. Der Großmarkt spiegelt eine gesellschaftliche Entwicklung wider.

Aufgewachsen in den Gängen des Großmarkts

Ralf Albers ist so etwas wie der personifizierte Wandel. Er ist auf dem Großmarkt aufgewachsen. Mit ihm verwachsen. Als kleiner Buttjer hat er hinter den Obstkisten in seinem Kinderwagen geschlafen, als junger Bursche ist er mit seinen Kumpels durch die Gänge gestromt und hat „Unsinn“ angestellt, wie er es nennt. „War ’ne tolle Zeit“, sagt er und lacht. Andere können das vielleicht nicht verstehen, aber er kann sich sein Leben ohne den Großhandel nicht vorstellen. Ohne das nächtliche Treiben, den Kontakt mit den Kunden. Den Handel. Er ist die vierte Generation von Albers. Früher hat die Firma ausschließlich ihre eigenen Produkte vermarktet, doch im Laufe der Jahre wurde der Handel mit Obst und Gemüse immer mehr ausgeweitet – und die eigene Produktion schließlich ganz eingestellt. Heute ist Albers einer der wenigen Vollsortimenter auf dem Großmarkt, hat 200 bis 250 Produkte im Angebot.

Das Telefon in seiner Hand klingelt ununterbrochen. Macht nix, sollen sich seine Mitarbeiter darum kümmern. 20 Leute sind sie auf dem Großmarkt, der Stand ist 20 Stunden am Tag besetzt. Ralf Albers, 43 Jahre alt, einer dieser handfesten Typen, kommt meist gegen Mitternacht und bleibt bis zum nächsten Mittag. Seine Freunde warnen ihn manchmal, dass er zu viel arbeitet und zu wenig schläft. Doch meistens lacht Albers dann und winkt ab. Passt schon. Ihm reicht es, wenn er zwischen 15 und 17 Uhr ins Bett geht und bis 22 Uhr schläft. „Ich brauch das hier“, sagt er. Nur im Büro am Telefon hängen, Himmel, das wäre nichts für ihn. Er will mitten drin sein. Mittendrin, das ist auf seiner 750 Quadratmeter großen Verkaufsfläche, zwischen Kisten mit Erdbeeren und Spargel oder hinter dem Verkaufstresen. An der Holzverkleidung kleben vergilbte Poster von Kernobst-Sorten und Küchenkräutern. Relikte der Vergangenheit.

Neun Stunden Fahrtweg für einen Einkauf in Hamburg

Von Hermann Albers Obst & Gemüse, Stand K 397, einmal quer durch die Halle zurück zu den Erzeugern sind es rund 220 Meter. Zehn Hauptgänge gibt es, A bis K, außerdem zehn Quergänge. Insgesamt 40.000 Quadratmeter. Nur im Erdgeschoss. Hinzu kommen ein Zwischengeschoss und der Keller. Viele sind mit Fahrrädern unterwegs, bahnen sich mit Klingeln ihren Weg zwischen Gabelstaplern und E-Karren hindurch. Emin Doganay (53) humpelt auf einen Regenschirm gestützt den Gang entlang. Er hat sich beim Fußball den Zeh zerquetscht. Auf den Großmarkt muss er trotzdem, einkaufen. Doganay ist Inhaber des Insel Groß- und Einzelhandels und beliefert rund 300 Gas­tronomiebetriebe auf Usedom. Fünfmal pro Woche, immer um kurz nach 19 Uhr, fährt er auf der Insel los, um auf dem Hamburger Großmarkt einzukaufen. Rund 4,5 Stunden dauert die Fahrt – pro Strecke. Sie sind zu zweit, damit einer im Auto schlafen kann. Tagsüber ist dafür keine Zeit.

Die Zeiger der riesigen Uhr über dem Ost-Eingang stehen auf 4.50 Uhr. Irgendwann, niemand weiß genau wann, ist die Uhr stehen geblieben, nie repariert worden. Doch die Zeit lässt sich am Treiben auf dem Großmarkt ablesen. An den leeren Hallen, die sich ab 22.00 Uhr füllen. An der Höhe der aufeinandergestapelten Kisten, die ab 2.00 Uhr immer weniger werden. An der Masse der Verkäufer, die durch die Gänge eilen. Und an den im Laufe der Nacht immer leerer werdenden Ständen. In den Morgenstunden gibt es meistens nur noch Reste.

In Hamburg sind sie handfester als in Berlin

Am Stand von Heiner Wischendorff (56) macht Emin Doganay halt. Er riecht an den Töpfen mit frischen Kräutern, dann gibt er seine Bestellung auf: je 24 Töpfe Minze und Basilikum, je sechs Töpfe Zitronenmelisse und Thai-Basilikum. Die beiden feilschen ein bisschen miteinander, hinter vorgehaltener Hand. Über Preise spricht man öffentlich nicht. Mit einem Handschlag wird der Kauf besiegelt. „Hier zählt noch das Wort“, sagt Emin Doganay. Er schätzt die Hanseaten, die „ehrlichen Kaufleute“, wie er sie nennt. Natürlich könnte er auch nach Berlin auf den Großmarkt fahren, wäre ja viel dichter für ihn. Aber nein, irgendwie „sind die Leute in Hamburg handfester. Man kennt sich“, sagt Emin Doganay und verabschiedet sich. Er muss weiter. Spätestens gegen drei oder halb vier muss er die Heimfahrt antreten. Es ist die Zeit, in der die Leistungsfähigkeit ihren Tiefpunkt erreicht. Wer jetzt arbeitet, muss laut Studie für die gleiche Leistung statt 100 Prozent Energie 156 Prozent aufbringen.

Trotzdem: Emin Doganay kann nicht warten. Er muss gegen acht Uhr wieder auf Usedom sein. Dann wird es auch auf dem Großmarkt leer. Ein paar Stunden lang. Bis am Abend die nächste Nachtschicht beginnt.

Nächsten Sonnabend: Nachtschicht auf der A7