Immer mehr Hamburger arbeiten, wenn andere schlafen. Zu Besuch in einer Welt zwischen Abenddämmerung und Morgengrauen.
Es ist kurz vor halb vier. Zum ersten Mal in dieser Nacht herrscht so etwas wie Ruhe in dem Rahlstedter Polizeikommissariat. Im Wachraum sind schon seit einiger Zeit keine Meldungen über Verkehrsunfälle, betrunkene Randalierer oder Falschparker über die Funkkanäle geknarzt. Es ist die Stunde, in der die Stadt schläft. Zeit für einen Moment der Entspannung. In der Zentrale geht es um die Einsätze der vergangenen Stunden, die Debatte über Bodycams, Frauen im Dienst. Ein dankbarer Bürger hat Schokolade für alle gebracht. Auf einem Monitor sieht man, wie ein Betrunkener in Zelle 3 seinen Rausch ausschläft. Auch die Gesichter der Beamten sind grau geworden, die Augen müde. Ab und zu wandert ein Blick zur Uhr. Noch zwei Stunden bis zum Schichtende. Dann knistert es in der Leitung, eine Frau meldet einen Einbruch in Jenfeld.
Die Oberkommissare Vito Perrone und Sylvia Regler, beide in blauer Uniform, schwerer Schutzweste, Dienstwaffe am Gürtel, springen auf. Im Laufschritt eilen sie über den Hof und steigen in Streifenwagen 38/2, einen Mercedes-Kombi. Regler fährt, Perrone liest von seinem Funkgerät noch mal die Adresse ab. „Haben wir Sonderrechte?“, fragt Regler. „Ja, haben wir“, sagt Perrone. Regler schaltet das Blaulicht ein. Es ist Gefahr im Verzug, der Diebstahl ist erst vor einer halben Stunde begangen worden. Die Einbrecher könnten noch in der Nähe sein. Jetzt pumpt das Adrenalin durch den Körper. Sylvia Regler jagt den Wagen durch die leeren Straßen. „Rechts ist frei“, sagt Perrone. Dann preschen sie mit lauter Sirene über die Kreuzung und über die Gegenspur in eine Wohnstraße.
17 Polizisten sorgen nachts für die Sicherheit in acht Stadtteilen
Hausnummer 14 ist ein ausladendes Einfamilienhaus mit Säulen am Eingang und englischem Rasen. Von hier kam der Anruf. Vito Perrone schaltet seine Taschenlampe ein, läuft direkt Richtung Terrasse. Sylvia Regler klingelt an der Tür. Die Hausbesitzerin öffnet, ihre Tochter ist auch da. Was sie erzählen, klingt etwas konfus. Der Schock. Nach und nach wird klar, dass eine Tasche mit Reisepapieren, Kreditkarten, einigen Tausend Euro und Devisen aus dem Schlafzimmer verschwunden ist. Dafür stand mitten in der Nacht plötzlich das Fenster offen. Eigentlich wollte die Familie um 6 Uhr nach Indien fliegen. Später wird Perrone eine angebohrte Terrassentür entdecken. Da ist der Einbrecher offenbar eingedrungen. Wahrscheinlich war er noch im Haus, als der Hausherr mitten in der Nacht aufstand, um vor dem frühen Abflug zu duschen. Oberkommissarin Regler zückt ihr Notizbuch.
Gut sieben Stunden vorher hatte ihr Dienst im Polizeikommissariat 38 an der Scharbeutzer Straße angefangen. 17 Beamte sind in dieser Nachtschicht im Einsatz, vier Streifenwagen sind zu besetzen, außerdem sind Zivilfahnder unterwegs. Das Revier ist eins der größten in Hamburg, mit acht Stadtteilen von Jenfeld bis Oldenfelde, 44 Quadratkilometern Fläche und mehr als 160.000 Einwohnern. In einer Nacht fahren die Streifenwagen 100 Kilometer und mehr auf ihren Einsatzfahrten. Es können auch 200 Kilometer sein. „Am Tag war viel los“, hatte Dienstgruppenleiter Markus Aus dem Kahmen, Hauptkommissar mit vier Sternen auf der Schulterklappe, beim Briefing zum Dienstbeginn um 20.30 Uhr gesagt. Es gibt noch offene Fahndungen, Autoposer sind unterwegs. „Ich hoffe, die Nacht wird ruhiger.“
„Hast du schon was“, fragt Vito Perrone wenige Minuten später die Frau hinter den Monitoren. Stefanie Gürnth, in dieser Nacht Wachdienst im PK 38, telefoniert, verfolgt die eingehenden Meldungen und nickt. „Ein NTV in Berne.“ Hinter dem kryptischen Kürzel steckt der Anruf eines Pflegedienstes, der einen aus dem Krankenhaus entlassenen Patienten zu Hause nicht erreichen kann. „Notfall Tür Verschlossen“ heißt das im Polizeideutsch, kurz NTV. „Los geht’s“, sagt Sylvia Regler und schnappt sich den Autoschlüssel vom Brett. „Da kann alles Mögliche dahinterstecken“, sagt Perrone. Bis zum Leichenfund. Der smarte 39-Jährige mit italienischer Abstammung ist seit 20 Jahren bei der Polizei und hat gelernt, immer auf alles gefasst zu sein. In diesem Fall treffen die Beamten in dem Hochhaus nur einen Cousin des Gesuchten an, der aber am Morgen noch mit ihm gesprochen hatte. „Sagen Sie ihm, dass er den Pflegedienst anrufen soll“, sagt Oberkommissarin Regler und lässt sich noch die Mobilnummer geben. Kurzes Kopfnicken, dann ziehen sie ab.
Man weiß nie was kommt...
Im Wagen greift Perrone zum Funkgerät: „Peter 38/2 für Michel.“ Er meldet den Ermittlungsstand an die zentrale Einsatzzentrale im Polizeipräsidium in Alsterdorf. „Wir brechen hier ab, versuchen es später noch mal.“ Michel, das ist die Anrede für die Besetzung auf dem Polizeifunk-Kanal, dem „großen“, wie sie intern sagen. Über den „kleinen“ Kanal hält das Revier Kontakt mit den Streifenwagen. „Man lernt, gleichzeitig zu sprechen und zuzuhören“, sagt Perrone. Die Zentrale gibt mehrere Verkehrsbehinderungen durch, die kontrolliert werden sollen – und, wie sich herausstellt, sich schon erledigt haben. Nächster Einsatzort: Jenfeld. Ein Lieferwagen blockiert seit Stunden eine Feuerwehreinfahrt zu einem großen Hochhauskomplex. Die Halterermittlung ist einfach: Der Wagen ist nicht abgeschlossen, es finden sich Name des Fahrers und eine Adresse. Das gibt einen saftigen Strafzettel. „Wir könnten jetzt auch gleich den Abschleppdienst anfordern“, sagt Sylvia Regler. Stattdessen fahren sie zu der angegebenen Wohnung und informieren den Fahrer, damit er das Auto wegfahren kann.
Das geht nur, wenn nicht viel los ist. Wie jetzt gerade. „Aber man weiß nie, was noch kommt“, sagt Sylvia Regler und streicht die Uniform glatt. Ihre blonden Haare hat die Polizistin zu einem Zopf zurückgebunden. Einzige kleine Extravaganz: sorgfältig lackierte Fingernägel. Seit knapp drei Jahren ist die 36-Jährige auf dem Rahlstedter Revier, vorher war sie im Einsatzzug unter anderem für Observationen zuständig. Sie mag ihre Arbeit. Und sie schätzt die Kameradschaft, dass man sich unbedingt aufeinander verlassen kann. Ihr Auftrag ist es, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Deshalb sind sie Polizisten geworden. „Aber das wird erschwert durch die zunehmende Respektlosigkeit gegenüber Polizisten“, sagt Vito Perrone, während der Streifenwagen durch die blaue Nacht fährt. Um 17,1 Prozent ist die Gewalt gegen Beamte bundesweit in den vergangenen beiden Jahren gestiegen. Und das kommt nicht nur in Brennpunkten auf St. Pauli oder in St. Georg vor, sondern auch in den bürgerlichen Gegenden des PK 38.
Um halb zwölf ist der erste Bericht geschrieben
Inzwischen ist es fast halb zwölf. Der erste Bericht ist geschrieben. Ein paarmal haben die Polizeibeamten versucht, den Vermissten anzurufen. Immerhin funktioniert das Handy, ist aber besetzt. An einem Geldautomaten haben sie nach einem Anruf einen Klebestreifen sichergestellt, auf dem jemand einen anderen der Pädophilie beschuldigt. Das Wort ist so falsch geschrieben, dass man es nur phonetisch versteht. Dann kommt über Funk der nächste Einsatz: Auf einem Schulgelände sollen Jugendliche mit quietschenden Bremsen und Blaulicht rumfahren. Sylvia Regler gibt Gas. Sie steuert durch das offene Tor. Alles scheint verlassen. Dann taucht ein Kleinwagen auf, rast in die entgegengesetzte Richtung. Regler schaltet das Blaulicht ein, setzt ihm nach. Der Kleinwagen bremst abrupt. Eine schmale Gestalt steigt aus. „Bleib auf der Stelle stehen“, ruft Oberkommissar Perrone. „Hände raus.“ Auf einmal klingt seine Stimme anders, respekteinflößend und barsch.
Ein junger Mann steht im blauflackernden Licht, die Arme erhoben. Sie hätten ein Video für YouTube drehen wollen, sprudelt es aus ihm heraus. Und ja, er habe einen Joint geraucht. „Aber das ist fünf Stunden her.“ Ein zweiter Streifenwagen kommt. Der Delinquent ist gerade 19 Jahre alt, seit sechs Wochen hat er einen Führerschein. Inzwischen steht er mit dem Gesicht zum Wagen, breitbeinig, die Hände am Dach. So wie man es aus TV-Krimis kennt. Perrone raunzt ihn an, er solle endlich stillstehen. Im Wagen finden die Beamten eine kleine Dose mit Gras. „Ich werde Sie jetzt belehren“, sagt der Oberkommissar. Betäubungsmittel hinter dem Steuer, Fahren mit Blaulicht. „Sie müssen sich nicht zu den Vorwürfen äußern.“ Aber der Junge muss mit auf die Wache, zum Drogentest. Sylvia Regler verständigt die Mutter, damit sie das Auto abholen kann.
Eine Stunde später ist klar, dass der Drogenschnelltest negativ ist. Perrone und seine Kollegin sitzen sich auf dem Revier am Computer gegenüber, tippen ihren Bericht. Der junge Mann bekommt wegen des Blaulichts eine Anzeige. Das gilt als Amtsanmaßung. Außerdem informieren die Beamten die Verkehrsbetriebe über den Vorfall. „Die werden ihn zur Medizinisch-Psychologischen Untersuchung einladen, da kann der Führerschein schnell wieder weg sein“, sagt Perrone. Er steckt die sichergestellte Dose mit Marihuana in eine Papiertüte. Die kommt in die Asservatenkammer. Der junge Mann ist da schon auf dem Weg nach Hause. „Wäre schön, wenn er was draus gelernt hätte“, sagt der Oberkommissar.
1600 Einsätze hat die Hamburger Polizei im Schnitt pro Nacht
Macht die Nacht die Menschen unberechenbarer? „Man trifft auf andere Menschen als tagsüber“, sagt Sylvia Regler. Eben die, die nicht wie der Durchschnitts-Hamburger im Bett liegen und schlafen – sondern die zu viel Alkohol trinken, Drogen konsumieren, Lärm machen, Streit provozieren oder Schlimmeres. Und auf die, die Opfer von Straftaten wurden. 1600 Einsätze fährt die Hamburger Polizei im Schnitt pro Nacht. Am Wochenende passiert am meisten.
Die Schichtarbeit verändert das Leben. „Man muss dafür gemacht sein“, sagt die Wachhabende Gürnth hinter ihrem Bildschirm. Inzwischen ist es drei Uhr morgens. Sie und ihre Kollegen wachen, damit die anderen ruhig schlafen können. Seit einiger Zeit gelten auf den Hamburger Wachen andere Schichtpläne. Innerhalb von fünf Tagen haben die Beamten einen langen und einen kürzern Nachtdienst und dann zwei Tage frei. Allerdings auch jeden Tag andere Arbeitszeiten. Die meisten kommen damit besser klar. „Das Leben ist planbarer, man hat mehr Zeit für soziale Kontakte“, sagt Sylvia Regler. Und man macht weniger Überstunden, zumindest wenn nichts besonders dazwischen kommt wie etwa der G-20-Gipfel im vergangenen Jahr. Trotzdem ist das nach wie vor ein Riesenthema unter den gut 10.000 Hamburger Polizisten. Vito Perrone etwa hat mehr als 500 Plusstunden.
Nach dem Einbruch in Jenfeld kehren die beiden Streifenpolizisten um halb fünf zurück auf die Wache. Es war der letzte Einsatz für diese Nachtschicht. Bevor Perrone und Regler den Ort des Verbrechens verlassen haben, haben sie noch versucht, die Opfer ein bisschen zu beruhigen. „Einbrecher sind Fluchttäter“, hat die Oberkommissarin gesagt. Sie weiß, der Schock wird bleiben. Die geplante Reise ist sowieso geplatzt. Auch für die erfahrenen Polizisten ist es ein ungewöhnlicher Fall. Aber für die Aufklärung sind sie nicht zuständig, das machen die Spezialisten einer anderen Abteilung. Allerdings ist jetzt noch jede Menge Papierkram zu erledigen. Um 5.30 Uhr werden sie von den Kollegen der Frühschicht abgelöst. „Es war eine ruhige Nacht“, sagt Vito Perrone. Er und seine Kollegen haben die nächsten Tage frei.
Nächsten Sonnabend: Nachtschicht im Hafen Alle bisherigen Folgen finden Sie unter www.abendblatt.de/nachtschicht