Hamburg. Dank einer fast 100 Jahre alten Klausel könnte die Stadt bald Wohnungen in besten Lagen günstig kaufen.

Es ist ein Freitag im Mai 1923, als Eduard Fritz Gustav Meyer in das Rathaus schreitet. In Hamburg gerät gerade die Welt aus den Fugen. Die Hyperinflation frisst sich durch die Sparguthaben, die Mark verliert fast stündlich an Wert, Firmen drucken illegales Geld, bis zu 70 unterschiedliche Währungen kursieren in der Hansestadt. Die Arbeitslosigkeit schnellt in die Höhe, viele haben nicht genug zu essen. Doch Meyer, Geschäftsführer der Hammonia Baugesellschaft, hat große Pläne. An diesem 25. Mai will er von der Stadt ein 4500 Quadratmeter großes Grundstück in Alsternähe kaufen, um dort Wohnungen zu bauen.

95 Jahre später, ein warmer Tag im Juli. Eine Kopie des damaligen Kaufvertrages liegt auf dem Tisch einer 250 Quadratmeter großen Altbauwohnung in der Nähe der Kellinghusenstraße. Dielenböden, Stuck, ein Jugendstil-Traum. Über den Vertrag beugen sich Monika (70) und Ulrich Schwarz (75) sowie Annette Müller (80/Namen geändert, die Red.), ihr gehört die Wohnung nebenan. In dem Vertrag, den Hammonia und Stadt damals schlossen, ist sogar geregelt, dass Firmenschilder „nur mit Genehmigung der Baupflegekommission“ angebracht werden dürfen. Weit wichtiger für die jetzigen Eigentümer ist indes § 9 des Kontrakts. Er lautet: „Die Finanzdeputation behält sich das Recht vor, die verkaufte Fläche vom 1. Juni 2022 an zurückzukaufen.“

Ehepaar hat keine wirkliche Wahl

Es ist ein Satz, der das Ehepaar Schwarz und Annette Müller jeweils mehr als eine halbe Million Euro kostet. „Wenn ich Freunden erzähle, dass ich für unsere Wohnung, die wir 1984 gekauft haben, nun nochmals mehr als 500.000 Euro zahlen muss, halten die mich für verrückt“, sagt Ulrich Schwarz. Exakt 516.856,60 Euro beträgt der Ablösebetrag, zu zahlen an die Stadt, damit der Senat auf sein Wiederkaufsrecht am 1. Juni 2022 verzichtet. „Wir bedanken uns für die nette Zusammenarbeit“, heißt es in dem Schreiben der Immobilienfirma, die sich im Auftrag und auf Kosten der Stadt um die Ablösevereinbarungen kümmert.

Nette Zusammenarbeit? Man könnte es auch ein Angebot nennen, das man nicht abschlagen darf. Denn klar ist: Das Ehepaar hat wirtschaftlich gesehen keine wirkliche Wahl. Laut Vertrag von Mai 1923 könnte die Stadt das Grundstück 2022 für absurd niedrige 100,00 Reichsmark pro Quadratmeter zurückkaufen, was heute umgerechnet 51,13 Euro entspricht. Dazu kämen zwei Drittel des reinen Werts der „Baulichkeiten“, wie es im Vertrag heißt, also der Wohnung ohne Grundstücksanteil.

Die Ablöse steigt immer weiter

Die Familie würde die Wohnung der Stadt also weit unter dem aktuellen Wert von derzeit sicherlich 2,2 Millionen Euro überlassen, die Finanzbehörde spricht von einem „Bruchteil des jetzigen Verkehrswerts“. Auch weiteres Warten würde alles noch teurer machen. Denn die Ablöse steigt immer weiter. Dies liegt zum einen daran, dass der Bodenrichtwert – diesen Wert eines idealtypischen Grundstücks in einer bestimmten Lage in Hamburg legt der Gutachterausschuss fest – seit Jahren massiv wächst. Und zum anderen an der Arithmetik der Ablöse: Je näher der Termin rückt, umso teuer wird es, sich mit der Stadt zu einigen. Annette Müller etwa hätte 2006 nur 120.120 Euro zahlen müssen, nicht einmal ein Viertel des jetzigen Betrages.

„Letztlich muss man das wie eine Wette sehen“, sagt der renommierte Fachanwalt für Immobilien, Carl Christian Voscherau, Sohn des 2016 verstorbenen Alt-Bürgermeisters Henning Voscherau. Niemand habe wirklich wissen können, dass die Preise für Wohnungen und Häuser in deutschen Metropolen derart rasant steigen.

Angebot gilt als nicht verhandelbar

Das Ehepaar Schwarz hatte zunächst gehofft, dass man mit der Stadt noch über die Höhe der Ablöse sprechen könnte. Doch das Angebot der Stadt gilt als nicht verhandelbar, die Ablöse ist auf den Cent genau durch Bodenrichtwert sowie Zeitpunkt fixiert. „Ein Abweichen von den Berechnungsmodalitäten kommt daher sowohl aus Gründen der Gleichbehandlung gegenüber Eigentümern, die das Wiederkaufsrecht bereits abgelöst haben, als auch aus haushaltsrechtlicher Sicht nicht infrage“, sagt Claas Ricker, Sprecher der Finanzbehörde. Eine Ablösung unterhalb des Wertes des Wiederkaufrechts würde laut Ricker „der Landeshaushaltsordnung widersprechen und ist gegenüber dem Steuerzahler nicht zu verantworten“.

Für 550 Grundstücke wurde das Wiederkaufsrecht vereinbart, die meisten liegen in begehrten Lagen in den Bezirken Eimsbüttel und Nord, bebaut mit etwa 12.000 Geschosswohnungen und 300 Einfamilienhäusern. Bis 2003 lagen die meisten Wohngebäude in Nichtverkaufsgebieten, die Umwandlung in Eigentumswohnungen war untersagt. 2003 hob der damalige Senat diese Klausel auf, fortan nahmen einige Mieter von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch und wurden zu Eigentümern.

90 Millionen Euro durch Ablösevereinbarungen

In den meisten Wohnungen leben dennoch nach wie vor Mieter, die meisten Vermieter, darunter große Genossenschaften, haben das Wiederkaufsrecht abgelöst. Allein von 2013 bis 2017 hat die Stadt rund 90 Millionen Euro durch Ablösevereinbarungen kassiert. Aber bindet eine fast 100 Jahre alte Vertragsklausel überhaupt noch die jetzigen Eigentümer? Der Bundesgerichtshof (BGH) hat dies in einem Grundsatzurteil 2010 eindeutig bejaht. Geklagt hatte eine Hamburger Wohnungsbaugenossenschaft, die eine im Frühjahr 2006 gezahlte Ablöse von fast 900.000 Euro zurückhaben wollte.

Doch der BGH entschied wie zuvor das Oberlandesgericht, dass die Klausel rechtswirksam sei. Jeder Käufer habe „sich von Anfang darauf einstellen können, dass er das Grundstück nach der vereinbarten Frist möglicherweise an die Verkäuferin (also die Stadt, die Red.) zurück zu übereignen hat, also in wirtschaftlicher Hinsicht eher einem Erbbauberechtigten als einem Eigentümer gleicht“. In der Tat ist das Wiederkaufsrecht der Stadt sowohl in Grundbüchern eingetragen als auch Bestandteil der notariellen Kaufverträge.

Makler: Thema könnte sich von selbst erledigen

Allerdings sagen sowohl das Ehepaar Schwarz als auch Annette Müller, dass das Thema Wiederkaufsrecht in den damaligen Gesprächen beim Kauf der Wohnung kaum eine Rolle gespielt habe. Ein ebenfalls betroffener Eigentümer einer Wohnung in der Nähe der Bundesstraße sagt: „Uns hat der Makler erklärt, dass sich das Thema von selbst erledigen könnte.“ Claas Ricker von der Finanzbehörde bestätigt: „Immer wieder haben sich Wohnungseigentümer geäußert, dass ihnen beim Wohnungsverkauf vom Verkäufer/Makler suggeriert wurde, dass diese Vormerkung zu vernachlässigen sei und die Stadt eh nicht davon Gebrauch machen könne/würde.“ Dies würde jedoch in den Verantwortungsbereich der Vertragsparteien oder des am Ende beurkundenden Notars fallen: „Für solche Fälle kann nicht die Stadt durch Minderung der Ablösekonditionen in die Verantwortung genommen werden.“

Auch Torsten Flomm, Vorsitzender des Grundeigentümer-Verbands Hamburg, hält das Verfahren grundsätzlich für richtig: „Das ist nun einmal Folge des seinerzeit mit der Stadt geschlossenen Vertrages. Wir haben mit einer Stiftung ein Grundstück in der Jarrestadt, hier betrug die Ablöse über eine Million Euro. Das ist den heute erheblich gestiegenen Grundstückspreisen geschuldet. Wer vor einigen Jahren abgelöst hat, hat nach heutigen Maßstäben ein Schnäppchen machen können.“

Enorme Wertsteigerung

Doch auch wer jetzt ablöst, dürfte kaum zum Sozialfall werden. Denn zur Wahrheit gehört eben auch, dass die meisten von einer enormen Wertsteigerung profitieren: Annette Müller zahlte 1995 mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann 1.075.000 Mark. Hätte sie nun verkauft, wäre zwar die fällige Ablöse beim Kaufpreis vom neuen Eigentümer abgezogen worden. Und dennoch hätte Annette Müller mindestens eine Million Euro Gewinn gemacht.

Nur: Eine Immobilie bedeutet eben auch Heimat. Viele haben ihre Wohnungen über Jahre aufwendig saniert und modernisiert. Das Ehepaar Schwarz hat sich wie auch Annette Müller in dem denkmalgeschützten Haus am Einbau eines Fahrstuhls für 160.000 Euro beteiligt. Zudem wäre selbst eine kleinere Wohnung in dieser Lage und mit diesem Komfort absurd teuer. Daher zahlen die meisten Betroffenen am Ende eben doch die Ablöse. Das Ehepaar Schwarz löste sein Wertpapierdepot auf und nahm noch einen Kredit auf.

Jurist sieht Lücke bei Wiederkaufsrechten

Juristischen Widerstand leistet kaum noch jemand. Dabei hält Immobilien-Anwalt Voscherau einen erneuten Prozess für durchaus chancenreich. Ein Kläger könnte davon profitieren, dass viele Eigentümer das Wiederkaufsrecht abgelöst haben: „Laut Vertrag von 1923 behält sich die Stadt das Recht vor, die verkaufte Fläche zurückzukaufen. Das ist aber vollständig gar nicht mehr möglich, da der Senat viele Wohnungen inzwischen gegen Ablöse endgültig den jetzigen Eigentümern überlassen hat. Daher kann aus meiner Sicht der Rückkauf gar nicht mehr vollzogen werden.“

Das Problem: Das Prozesskostenrisiko ist hoch. Wer in der ersten Instanz unterliegt, zahlt bei einem Streitwert von 500.000 Euro neben der Ablöse noch 31.245 Euro Anwalts- und Gerichtskosten, in der zweiten Instanz 37.322 Euro. Andererseits besteht die Chance, dass man bei einem Sieg keinen Cent an die Stadt zahlen muss. Voscherau empfiehlt, dass man in der Ablösevereinbarung zumindest auf einen Passus achten sollte, der eine Rückzahlung der Ablöse garantiert, falls sich die juristische Lage ändern oder sich im Nachhinein herausstellen sollte, dass ein Anspruch der Stadt gar nicht bestand. Übrigens: Wer partout nicht zahlen mag, müsste zumindest nicht ausziehen. Ein städtisches Wohnungsunternehmen würde dem ehemaligen Eigentümer die Wohnung zur Miete anbieten.

Mitarbeit: Anette Bethune