Hamburg. Hamburg hat ein Vorkaufsrecht beim Hausverkauf. Das kann für Eigentümer fatale Folgen haben. Wie für Thorsten Münch.

Dies ist eine komplizierte Geschichte, denn sie hat mit einigen Stolperdrähten zu tun, die sich im geltenden Baurecht finden lassen. Auch das Ende dieser Geschichte ist noch nicht genau abzusehen. Doch dieser Einzelfall einer offensichtlichen Teilenteignung durch die öffentliche Hand besitzt wohl das Potenzial, um den Beginn einer neuen Zeitrechnung für nicht wenige Hamburger Grundstückseigentümer zu markieren – vor allem für diejenigen, die Grund und Boden besitzen, der an Gewässer grenzt sowie unter Landschaftsschutz steht.

So wie das Flurstück 733 in der Straße Alsterwiesen im Ortsteil 521, Lemsahl-Mellingstedt. Es umfasst 10.000 Quadratmeter, ein Viertel davon ist als Bauland ausgewiesen, die restlichen drei Viertel sind sumpfiges Landschaftsschutzgebiet, das nicht bebaut werden darf. Das Grundstück grenzt an den Alsterlauf; gegenüber, am anderen Ufer, verläuft der Alsterwanderweg. „Es ist ein Paradies“, schwärmt Thorsten Münch (62), „mit seltenen Pflanzen und unter Artenschutz stehenden Lebewesen.“ Es ist eines von rund 20 weiteren Grundstücken, die sich hier im Norden der Stadt wie Perlen an einer Schnur an der Alster entlang aneinanderreihen.

Hohe finanzielle Belastungen

Der Notfallmediziner Dr. Thorsten Münch hatte dieses Grundstück 1999 gemeinsam mit seiner ersten Frau gekauft, inklusive eines verfallenen Anwesens, „das eigentlich eine komplette Brandruine war“, erzählt er. Für den Erwerb hatte das Ehepaar aus Finanzierungsgründen eine GbR gegründet, eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, in der jedes Mitglied mit seinem gesamten Privatvermögen haftet, also immer auch für den anderen. Die Münchs rissen ab, bauten neu, sanierten und renovierten und schufen sich ein Zuhause, in dem sie gemeinsam alt werden wollten.

Doch die Ehe ging nach ein paar Jahren auseinander, Thorsten Münchs Frau zog aus dem Haus aus. Die hohen finanziellen Belastungen auf dem Grundbesitz blieben jedoch (aus Gründen, die für diese Geschichte jedoch nicht relevant sind) bei Thorsten Münch. Um nicht in eine Insolvenz abzurutschen, musste er seinen Grundbesitz bis zur Schmerzgrenze beleihen. Gleichzeitig suchte er einen Mieter, besser noch einen Käufer.

Üblicher Vorgang

Mit Dr. Peter Hagen* (Name von der Redaktion geändert), ebenfalls einem Mediziner, fand er vor drei Jahren jemanden, der sich in das Anwesen verguckte und keinen Hehl daraus machte, dass für ihn ein Erwerb tatsächlich infrage käme, wenn er denn selbst eine solide Finanzierung hinbekommen würde. Die beiden Männer redeten häufiger über diesen Plan, sie freundeten sich darüber sogar ein bisschen an und einigten sich schließlich auf eine exklusive Kaufoption für fünf Jahre.

Im Februar dieses Jahres steht schließlich die Finanzierung des Kaufinteressenten. Mit dem Verkauf wäre die „Eheleute-GbR“ schuldenfrei. So wird kurz darauf die Kaufoption durch eine notarielle Beurkundung zum Kaufvertrag, die Kaufsumme steht bereit, und der Notar fordert die Stadt Hamburg dazu auf, eine schriftliche Vorkaufsrechtsverzichtserklärung abzugeben, um den Kauf abwickeln zu können.

Das ist ein üblicher Vorgang: Denn die Stadt Hamburg besitzt für alle Grundstücke ein generelles Vorkaufsrecht, das jedoch nur sehr selten ausgeübt wird. Die Finanzbehörde teilt hierzu auf Anfrage mit, „dass in Hamburg im Jahr 2017 dem LIG 3862 Grundstückskaufverträge vorgelegt wurden, bei denen lediglich in 47 Fällen eine Ankaufentscheidung getroffen wurde; dies entspricht rund 1,2 Prozent (...) und damit auch dem langjährigen Mittel. Bei den genannten 47 Fällen wurde in 41 Fällen eine freihändige Einigung erzielt, sodass das Vorkaufsrecht nur in sechs Fällen auch tatsächlich ausgeübt wurde.“ Hierfür zuständig sind die Bezirksämter in Zusammenarbeit mit dem Landesbetrieb Immobilienmanagement und Grundvermögen (LIG).

Zur Überraschung aller am Verkauf des Grundstücks Beteiligten wird das Bezirksamt Wandsbek jedoch plötzlich aktiv und fordert den LIG dazu auf, das Vorkaufsrecht für die Stadt auszuüben – aber nur für die 7500 Quadratmeter naturbelassenes Grünland. Die Stadt Hamburg trägt eine Vormerkung ins Grundbuch ein, wodurch auch der Verkauf des 2500 Quadratmeter großen Restgrundstücks blockiert wird. „Mit dem Verlust des Alsterzugangs wird dem Grundstück ein wesentliches Attribut genommen, was es im Grunde praktisch unverkäuflich macht oder sich zumindest extrem wertmindernd auswirkt“, sagt Thorsten Münch.

„Niemand konnte es sich vorstellen“

Das Vorkaufsrecht stützt sich dabei auf einen „durch Rechtsverordnung des Senats vom 20.06.1961 erstellten ­Bebauungsplan für den Stadtteil Lemsahl-Mellingstedt (Ortsteil 521)“. Pflichtgemäß hatte die Stadt schließlich schon in den 50er-Jahren vorausschauend geplant, was die Stadtentwicklung betrifft, damit zum Beispiel keine Verhältnisse wie am Starnberger See bei München entstehen, wo nur 24,4 von den insgesamt 49,2 Kilometern Ufer für die Öffentlichkeit zugänglich sind.

„Niemand konnte es sich jedoch vorstellen, dass die Stadt Hamburg nach über einem halben Jahrhundert von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch machen würde“, sagt Thorsten Münch, „und niemand, außer das Bezirksamt, konnte sich an diesen ‚Teilbebauungsplan‘ erinnern, der aber für viele Grundstücke entlang des Alsterlaufs gilt.“ Auch als die Münchs das Grundstück 1999 kauften, war ja die Stadt an ihrem Vorkaufsrecht nicht interessiert – denn den Alsterwanderweg gab es ja schon, am gegenüberliegenden Ufer.

Doch dieser 57 Jahre alte Teilbebauungsplan sieht seit 1961 vor, den Wanderweg auf das andere Ufer zu verlegen, um den „Anschluss an das Rodenbeker Quellental zu verbessern“. „So wurde es uns während einer persönlichen Anhörung vom Leiter der Abteilung ‚Management des öffentlichen Raumes Stadtgrün, Naturschutz, Wasser und Forsten‘ im Bezirksamt Wandsbek erklärt“, sagt Thorsten Münch. „Was jedoch zu verwirklichen längst unnötig und illusorisch ist“, fügt sein Rechtsanwalt Thomas Rieche ergänzend hinzu, „denn dieser ‚Anschluss‘ existiert bereits an anderer Stelle.“

„Teilenteignung“ durch die Stadt

Der Jurist verweist darauf, dass die Stadt Hamburg mit der Ausübung ihres Vorkaufsrechts außerdem lediglich den Zugang zu einem „Helikopter-Grundstück“ erhalten würde, das nur über eine neue Brücke über die Alster vom bestehenden Alsterwanderweg aus zu erreichen wäre und dann in eine Sackgasse münden würde. Ein Brückenneubau nebst einem festen Weg wiederum würde umfangreiche Bodenarbeiten in dem Landschaftsschutzgebiet erfordern, wie etwa großflächige Aufschüttungen, da das Grundstück regelmäßig überschwemmt werde. „Hier muss man sich fragen, ob durch solche Bauvorhaben nicht auch naturschutzrechtliche Aspekte verletzt werden“, sagt Thorsten Münch.

Darüber hinaus habe dieser Versuch einer „Teilenteignung“ durch die Stadt unter seinen Nachbarn bereits die Runde gemacht. „Denn um den Teilbebauungsplan wie vorgesehen zu verwirklichen, müsste die Stadt ihr Vorkaufsrecht auch auf zahlreichen weiteren Nachbargrundstücken ausüben. Das funktioniert aber nur, wenn die jeweiligen Eigentümer verkaufen wollen. Und von denen wird daher in den nächsten 500 Jahren garantiert niemand sein Grundstück auf den Markt werfen, damit das Bezirksamt Wandsbek seine Vision von der Verlegung des Alsterwanderweges verwirklichen kann“, sagt Thorsten Münch, der sich nun gezwungen sieht, juristisch gegen die Stadt Hamburg vorzugehen.

Begründete Sorge

Denn das Bezirksamt hat bisher alle seine Lösungsvorschläge zur Vermeidung eines Prozesses abgelehnt; so zum Beispiel den Ankauf eines etwa 1000 Quadratmeter umfassenden „Korridors“ zur Straße Alsterwiesen oder eines schmalen Streifens entlang der Alster direkt am Ufer. „Doch uns wurde lapidar geantwortet, ‚Hamburg hat zurzeit gerade volle Kassen‘. Das heißt für mich nichts anderes, dass man die Sache aussitzen will. Doch damit stürzt die Stadt meine Ex-Frau und mich in eine finanzielle Katastrophe“, sagt Thorsten Münch. Dass die Ex-Frau noch betroffen ist, liegt an der Rechtsform der GbR.

Seine Sorge scheint nicht unbegründet zu sein: Denn die Entschädigungssumme, die ihm als Grundstücksbesitzer zusteht, orientiert sich am Enteignungsgesetz und beträgt gerade mal sechs Euro pro Quadratmeter. „Dabei sind die 7500 Quadratmeter Landschaftsschutzgebiet auf der offiziellen Karte des Landesbetriebs Geoinformation und Vermessung Hamburg (BORIS) mit der Farbe Rosa markiert. Das bedeutet, dass auch diese naturbelassene Fläche zur Berechnung der Bebauungsfähigkeit des Gesamtgrundstückes herangezogen werden muss, was den Preis auf mindestens 200 Euro pro Quadratmeter anheben würde.“ Die Stadt Hamburg könnte sich so für 45.000 Euro drei Viertel eines Grundstücks sichern, das als ganze Einheit geschätzt heute rund zwei Millionen Euro wert ist.

Bezirksamt will sich zu „Einzelfall“ nicht äußern

Die Uhr tickt: Der Käufer stellte mit dem notariellen Kaufvertrag die Mietzahlungen ein, Münch fehlen daher seit einem halben Jahr die Mieteinnahmen, mit denen er bisher die Hypotheken bedient hat, die sein Grundstück belasten. Außerdem muss er den anstehenden Zivilprozess vorfinanzieren, und der Streitwert ist hoch. Dann trat auch noch der Käufer aus Verärgerung über die unerwartete Ausübung des städtischen Vorkaufsrechts vom Kauf zurück. Immerhin, so Thorsten Münch, sei er nun wieder bereit, wenigstens am Erwerb des 2500 Quadratmeter großen Restgrundstücks mit der Immobile festzuhalten – wenn auch mit einem erheblich höherem Preisnachlass als der vorgesehene Entschädigungsbetrag der Stadt.

Dazu aber müssten erst einmal die beiden Flächen vermessen werden. „Der LIG torpediert sogar diesen Verkauf, indem er die von ihm selbst verursachte Vermessung der Vorkaufsfläche verweigert“, sagt Rechtsanwalt Rieche. „Mein Mandant, der ohnehin durch einen erheblichen Preisnachlass geschädigt wird, soll nun auch noch für die erheblichen Vermessungskosten in Vorleistung treten, ohne den Kaufpreis erhalten zu können, der erst nach dem Anlegen neuer Grundbuchblätter fließen kann, wofür wiederum eine Vermessung erforderlich ist.“ So etwas nennt man wohl Teufelskreis. Die Vermutung des Anwalts: „Die Stadt versucht, meinem Mandanten Hindernisse in den Weg zu legen, um ihn von der gerichtlichen Überprüfung des Vorkaufsrechts durch die Baulandkammer am Landgericht abzuhalten.“

Das Bezirksamt Wandsbek selbst will „zu diesem Einzelfall keine Stellung nehmen, da er sich in der gerichtlichen Klärung befindet“ und es einer solchen Entscheidung nicht vorgreifen könne. Doch es teilt dem Abendblatt auf Anfrage „allgemein“ mit, „dass durch den derzeitig allgegenwärtigen Wohnungsbau eine erhebliche Verdichtung der Stadt erfolgt. Für die Lebensqualität der Hamburgerinnen und Hamburger ist es erforderlich, die Grünstrukturen der Stadt parallel dazu fortzuentwickeln und zu qualifizieren. Hierzu gehören erforderlichenfalls auch Grundstücksankäufe in Gebieten, die durch Bebauungspläne als Grünanlagen festgelegt sind.“

Die letzte Hoffnung

Tatsächlich ist in Lemsahl-Mellingstedt in den vergangenen Jahren kräftig gebaut worden; etwa an der Lemsahler Landstraße, wo gerade 22 Reihenhäuser und sechs Eigentumswohnungen hochgezogen wurden, was viele alteingesessene Anwohner nicht gutheißen. Denn wer hier lebt, mag es lieber ländlich als „verdichtet“. In Thorsten Münch keimt daher ein Verdacht auf: „Ich glaube, dass die Stadt zurzeit verstärkt neue Grünflächen für sich deklarieren will, weil an anderer Stelle intensiv gebaut wird und man hofft, auf diese Weise auch etwaige Widerstände der Anwohner gegen diese massive Bebauung zu dämpfen“, sagt er, „daher sollten gerade Besitzer von Grundstücken mit hohem Naturanteil, die mit dem Gedanken spielen, zu verkaufen, sich in ihren Bezirksämtern ganz genau danach erkundigen, ob die Stadt wie bei mir einen Verkauf verhindern könnte.“ An seiner Theorie könnte etwas Wahres dran sein in einer Zeit, in der viele Bürger zwar lauthals nach bezahlbarem Wohnraum rufen – aber häufig nur, solange der nicht in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft entsteht.

Münch bleibt nur noch die Hoffnung auf eine möglichst zeitnahe Terminierung der Gerichtsverhandlung. Sonst könnte ihm finanziell die Luft ausgehen. „Die Stadt kann doch nicht daran interessiert sein, einen Bürger in den Ruin zu treiben“, sagt er, „und überdies finde ich es befremdlich, wenn mit unseren Steuergeldern Grundstücke gehamstert werden, auf denen aber die Möglichkeiten gleich null sind, die zum Teil uralten Bebauungspläne umzusetzen.“

Deshalb rechnen er und sein Anwalt sich recht gute Chancen aus, dass die Baulandkammer ihrer Argumentation folgen könnte. Doch „die Frage, aus welchen tatsächlichen oder rechtlichen Gründen mit der Realisierung einer planerischen Festsetzung auf absehbare Zeit nicht zu rechnen ist, beurteilt sich immer nach den Umständen des Einzelfalls“, heißt es hierzu aus der Finanzbehörde, „eine solche Einzelfallbetrachtung gilt auch bei der Beurteilung, ob ein Bebauungs- oder Flächennutzungsplan nach einer bestimmten Zeit seine Wirksamkeit verliert.“ – In Thorsten Münchs Fall nach mehr als 57 Jahren.