Hamburg. Auch ein reifes Alter schützt nicht vor überhitzigem Verhalten. An einer roten Ampel startete der Senior seine Attacke.

Auf seine Fahrkünste ist der Mann richtig stolz. Seit fast 60 Jahren, und das ist ihm wichtig zu betonen, fährt Dieter M. (Name geändert) unfallfrei. Und schon 26 Jahre ist er mit seinem alten Audi unterwegs. „Und der hat keinen einzigen Kratzer!“ Der Mann unterstreicht das mit großer Geste und hoch erhobenen Hauptes. Es scheint fast so, als empfinde der Senior diese makellose Bilanz gewissermaßen als Garantie für seine Unfehlbarkeit. Doch auch viel Erfahrung und ein reifes Alter schützen nicht vor überhitzigem Verhalten. Zumindest für den 13. Oktober vergangenen Jahres scheint bei Dieter M. zu gelten: 80 Jahre – und kein bisschen weise.

Weil er einen anderen Verkehrsteilnehmer mit ätzendem Spray verletzt haben soll – an einer roten Ampel auf einer viel befahrenen Straße nahe dem Fernsehturm – muss sich der Rentner vor Gericht verantworten. Doch unangemessen oder sogar gefährlich kann Dieter M. seine Aktion nicht finden. „Normalerweise hätte der Mann festgenommen werden müssen, so wie der gefahren ist“, echauffiert sich der schlanke, weißhaarige Senior. Der Volvofahrer habe seinen Wagen bedrängt.

Dose mit Ameisenspray immer dabei

„Der ist immer wieder rübergeschwappt!“ Außerdem habe der andere provokante Fratzen gezogen, erzählt der 80-Jährige und verzerrt zur Veranschaulichung das Gesicht zu einer Grimasse. „Er war so gefährlich dicht dran, das war bedrohlich für mich.“ An der nächsten roten Ampel, als beide halten mussten, habe er sich gedacht: „Da ist er ja, der Verrückte.“ „Ich bin ausgestiegen, weil ich Angst hatte. Ich wollte ihn fragen, was das soll.“ Der Volvofahrer sei gleich – „schwupp“ – aus seinem Auto über die Beifahrerseite „rausgesprungen. Ich wusste, dass ich ihn nicht erwische.“

Die Vorsitzende gibt zu bedenken, dass es „untypisch ist, dass man auf jemanden zugeht, wenn man Angst hat“. Wieso der Angeklagte das Spray eingesetzt habe? „Ich wollte wissen, ob der betrunken ist“, versetzt Dieter M. Die Dose mit Ameisenspray habe er immer in der Seitentasche. „Man weiß ja nicht, was das für ein Mensch ist. Ob man was auf den Kopf kriegt.“ Er brauche es, „um mich zu schützen. Wenn mir mal jemand die Tür aufreißt.“

Leichte Verätzung

Damit prangert der Angeklagte exakt die Situation an, die er selber verschuldet hat: „Hier war es anders herum. Sie wollten die Tür aufreißen“, bemerkt die Richterin trocken. Doch Dieter M. bleibt beharrlich: „Als ich sprühte, war der schon halb draußen.“ Er habe durch das geöffnete Schiebedach gesprüht. „Ich hatte kein Handy dabei, sonst hätte ich die Polizei gerufen. Ich war geschockt von der Fahrerei. Immer diese Fratzen.“ Ein unbefangener Beobachter könnte auf die Idee kommen, dass Dieter M. ärgerlich gewesen sei und dem anderen eins habe auswischen wollen, findet die Vorsitzende. Auf die Frage, ob er aus heutiger Sicht sein Verhalten immer noch richtig finde, weicht der Angeklagte aus. „Das kann man so und so sehen. Es ist ja nichts Schlimmes passiert.“

Der Volvofahrer hat das ganz anders empfunden. Er schildert, wie ihm das Spray in die Augen lief. „Ich war geschockt. Das war wie ein Brett vors Gesicht. Das war ein Brennen, Beißen und Atemnot“, beschreibt er seinen Zustand. Dass es Ameisenspray gewesen sein könnte, schließt er aus. „Den Geruch kenne ich.“ An einer Tankstelle wusch sich Heiner G. die Augen mit Wasser aus. Drei Tage später ging er zum Augenarzt, der eine leichte Verätzung feststellte.

Verteidiger beantragt Freispruch

Dieter M. sei vor ihm „hin und her geeiert“ und sehr langsam gefahren, habe mehrfach die Spur gewechselt, wenn der 53-Jährige ihn überholen wollte. „Ein bisschen erzieherisch, war mein Eindruck.“ Als der Senior neben ihm war, habe dieser aus dem Fenster heraus gepöbelt und eine etwa faustgroße Flasche in der Hand gehalten. „Ich musste grinsen, weil ich das schon etwas albern fand.“ An der nächsten roten Ampel sei der andere „aus dem Auto gestürmt. Ich habe die Türen verriegelt.“ Er habe sich schon etwas „bedroht gefühlt. Ich weiß ja nicht, was der für ein Mensch ist.“ Der Wütende habe geschimpft und sinngemäß gesagt: „,Du wirst schon sehen.‘ Dann sprühte er los.“

Die Staatsanwaltschaft fordert wegen gefährlicher Körperverletzung eine Bewährungsstrafe von einem Jahr. Der Verteidiger beantragt Freispruch, weil sein Mandant von dem Zeugen bedrängt worden sei und dieser sich stark verkehrsgefährdend benommen habe. „Er wollte ihn festnehmen, und das Festnahmerecht hatte er.“ Ein Sprühstoß könne eine Festnahme erleichtern. „Das macht sogar die Polizei.“ „Ich habe nie die Absicht gehabt, brutal vorzugehen“, betont der Angeklagte in seinem letzten Wort. „So doll war das doch gar nicht.“

Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher
Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher schreibt jede Woche über einen außergewöhnlichen Fall © privat

Das Gericht verhängt eine Bewährungsstraße von zehn Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung. Bei dem Opfer seien durch das ätzende Spray glücklicherweise keine schweren Schäden entstanden, betont die Vorsitzende. „Aber beim Sprayen auf die Augen hätte etwas Folgenschweres passieren können. Das war ein enger Raum im Auto, die Folgen waren unwägbar.“ Damit habe Dieter M. eine „erhebliche Gefährdung und Brutalität“ begangen. Das Gericht gehe zwar zugunsten des Angeklagten davon aus, dass es zuvor eine Situation gegeben hat, die er als provokativ wahrgenommen hat.

„Wir glauben nicht, dass Sie aus heiterem Himmel gesprüht haben. Aber was dem vorangegangen ist, ist etwas, das hier in der Stadt täglich tausendfach vorkommt.“ Mit seinem überzogenen Verhalten habe der Angeklagte gezeigt, dass er vorerst ungeeignet für die Teilnahme am Straßenverkehr ist. Das Gericht verhängt eine zehnmonatige Führerscheinsperre. „Sie haben aus nichtigem Anlass völlig unangemessen und brutal reagiert. Das ist hier nicht der Wilde Westen.“