Hamburg. Vor 25 Jahren: Hunderte Patienten bei Röntgentherapien schwer geschädigt. Eklatante Versäumnisse von Ärzten, Justiz und Politik.

War es Mut, Übermut oder sogar Hochmut? Ein angesehener Chefarzt behandelt Krebskranke mit stärkeren radioaktiven Strahlen als üblich. Er erhofft sich davon, die heilende Wirkung seiner Therapie zu steigern. Bei vielen Patienten tritt das Gegenteil ein: Sie leiden Höllenqualen, manche über viele Jahre, bis der Tod sie erlöst.

Als der Strahlenskandal am Universitätskrankenhaus Eppendorf vor 25 Jahren publik wird, trifft er wie ein Orkan die Klinik, den Senat, die Stadt. Ein ­Unbekannter hat Krankenakten aus der Abteilung für Strahlentherapie von Professor Klaus-Henning Hübener an die Presse lanciert. Die Enthüllungen beherrschen die Schlagzeilen jenes Sommers, bringen Politiker und Staatsanwälte in Bedrängnis, ramponieren den Ruf des UKE, stellen bewährte Heilmethoden infrage und verängstigen zahllose weitere Patienten, die eine ähnliche Therapie bekommen. Eine Gutachter-Schlacht bricht aus, Untersuchungen und Strafermittlungen werden in Gang gesetzt, und niemand ahnt, dass sie sich mehr als 13 Jahre hinziehen werden. Hinter alldem spielt sich währenddessen hundertfaches Leid ab.

In der Presse ist zunächst von „tödlichen Strahlen im UKE“ („Morgenpost“) die Rede und von „Schäden bei 31 Patienten“. Das UKE dementiert. Doch beinahe täglich erhöht sich die Zahl der Verdachtsfälle, worauf das Abendblatt titelt: „Alles noch viel schlimmer – der Strahlenskandal im UKE“. Sogar die Mordkommission schaltet sich ein.

Gutachter sollte Methoden untersuchen

Im Wissenschaftsausschuss der Bürgerschaft räumt der ärztliche Direktor des UKE, Heinz-Peter Leichtweiß, ein: Ja, tatsächlich sei seit 1990 in der Abteilung für Strahlentherapie bekannt gewesen, dass 47 Patienten mehr oder weniger schwere Probleme als Folge der Strahlentherapie hätten. Und nein, das Direktorium habe davon nichts gewusst. Kurz darauf berichtet das Abendblatt, dass es womöglich einen zweiten Strahlenskandal gibt: Auch Patientinnen der von Professor Hans-Joachim Frischbier geleiteten UKE-Frauenklinik seien mit zu hohen Dosen bestrahlt worden.

Unterdessen sollen Gutachter Hübeners Behandlungsmethoden zwischen 1987 und 1990 überprüfen. Aber das braucht Zeit. Die Deutsche Röntgengesellschaft urteilt schneller – und hart: Patienten von Hübener seien vor der Operation in zu kurzen Abständen mit zu hohen Einzeldosen bestrahlt worden, und auch die Gesamtdosis sei zu hoch gewesen. Daraufhin suspendiert Wissenschaftssenator Leonhard Hajen (SPD) den Chefarzt der Strahlentherapie, nimmt die Beurlaubung aber nach zehn Tagen zurück, um Hübener vier Tage später erneut nach Hause zu schicken.

Inzwischen hat zwar eine Expertise ergeben, dass Hübeners Abteilung gegenwärtig (Mitte 1993) überdurchschnittlich erfolgreich arbeite. Doch das andere Gutachten über die Methoden der Jahre 1987 bis 1990 kommt zu dem Schluss: Die Kombination von prä- und postoperativer Bestrahlung in kurzen Zeitabständen sei damals bereits überholt gewesen. Außerdem habe es schwere Defizite in der Nachsorge bei den Patienten gegeben.

Oberärzte schwiegen aus Sorge um Arbeitsplatz

Dann meldet sich Hübener selbst zu Wort. „Ich habe die Strahlentherapie an den todkranken Menschen sehr, sehr ernst genommen, die Behandlungsstrategien und Therapieziele offen und kritisch diskutiert“, schreibt er in einer Erklärung und räumt schließlich ein, die Nebenwirkungen der Strahlentherapie unterschätzt zu haben. Ein entscheidendes Problem: Sein abweichendes Verfahren ist weder von einer Studie belegt noch dokumentiert, und die Patienten wurden darüber auch nicht informiert.

Später äußert sich Hübener im „Hamburger Ärzteblatt“ ausführlicher: Die Zahl der Patienten mit „gravierenden Nebenwirkungen“ habe bei 8,9 Prozent und damit innerhalb der vertretbaren Marge von fünf bis zehn Prozent gelegen. Es habe auch „gewollte Überdosierungen im Sinne eines Heilversuchs“ bei fortgeschrittenen Erkrankungen gegeben. Den Dosisbereich der Strahlen so auszunutzen, dass maximale Wirksamkeit erreicht werde, kennzeichne eben die Gratwanderung zwischen Scheitern (Krebstod) und Heilung mit Narben oder Komplikationen. Spätnebenwirkungen müssten „in gewissem Umfang in Kauf genommen werden“.

Kalkuliertes Risiko also? Für Frank Ulrich Montgomery entsprang Hübeners Vorgehen „einer gewaltigen Hybris“. Er habe wohl lautere Absichten verfolgt, aber mit unzulässigen Mitteln. Dass dies überhaupt möglich war und obendrein über so lange Zeit, führte Montgomery damals auf die Hierarchie in deutschen Kliniken zurück. Er beklagte eine starke Abhängigkeit der Ober- und Assistenzärzte vom Chef an der Spitze. Da traue sich niemand, durch Kritik das Wohlwollen des Chefs zu riskieren.

Zahlreiche Pannen

Montgomery arbeitet selbst seit 1986 als Radiologe am UKE, seit 2011 ist er Präsident der Bundesärztekammer. Inzwischen, sagt er, seien solche Skandale sehr unwahrscheinlich geworden. Kollegiale Klinik-Leitungen, in denen Ärzte gemeinsam Entscheidungen träfen und Verantwortung trügen, sorgten heute auch für eine interne Qualitätssicherung.

Mitte August 1993 aber ist noch völlig unklar, welche Ausmaße der Strahlenskandal annehmen wird. Manche ahnen immerhin, dass da einiges auf die Behörden zurollt. Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit (SPD) lässt bei der Staatsanwaltschaft ein Sonderdezernat „Medizinschadensfälle“ einrichten.

Die juristische Aufarbeitung zieht sich trotzdem hin, auch wegen zahlreicher Pannen. Einmal rügt Peschel-Gutzeit einen Staatsanwalt, weil er ein Ermittlungsverfahren trotz einschlägiger Hinweise einstellt. Ein anderes Mal sind Akten von betroffenen Patienten plötzlich verschwunden. Im Fall des Gynäkologie-Chefs Frischbier gerät Hajen selbst unter Druck: Offenbar benutzte die Frauenklinik jahrelang ein Gerät, dessen Betriebserlaubnis längst erloschen war; Anträge auf Ersatz lagen in der Wissenschaftsbehörde. Und ein von Hajen 1993 bestellter Gutachter braucht mehr als vier Jahre, um eine völlig unzureichende Expertise über die Behandlungsmethoden an der Frauenklinik vorzulegen.

Mehr als 200 Strafermittlungsverfahren

Frischbier lässt sich 1996 vorzeitig pensionieren. Strafrechtlich wird er nie belangt, mit den von ihm behandelten Strahlenopfern einigt sich die Stadt außergerichtlich auf Schadenersatz.

Gegen Hübener aber laufen über die Jahre mehr als 200 Strafermittlungsverfahren. Fast alle werden eingestellt, Betroffene und Hinterbliebene mit insgesamt rund 42 Millionen Euro entschädigt. Nur im Fall einer verstorbenen Patientin wird er wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Im Prozess 2005 verteidigt er sein Therapiekonzept noch einmal als gut und richtig; der Tod der Patientin sei „schicksalhaft unabwendbar“ gewesen. Ein ehemaliger Arzt aus seiner Abteilung sagt als Zeuge aus: Das Konzept sei von den Medizinern damals „ohne innere Skepsis“ aufgenommen und umgesetzt worden. Denn wenn jemand „das, was der Chef an einer Uniklinik sagte, infrage gestellt hätte, wäre der ganz schnell draußen gewesen“.

Hübener wird freigesprochen, „ein objektiver Sorgfaltspflichtverstoß wurde nicht gesehen und nachgewiesen“, wie der Vorsitzende Richter Rüdiger Göbel sagt. Ende 2006, mehr als 13 Jahre nach Beginn des Strahlenskandals, bestätigt der Bundesgerichtshof das Urteil. Hübener nimmt seine Arbeit nie wieder auf.