Hamburg. „Der Soundtrack meines Lebens“. Teil zwei: Ulrich Waller, Intendant und Regisseur, über Sex, Drogen und Rock ’n’ Roll.

Für unsere Serie „Der Soundtrack meines Lebens“ haben wir mit prominenten Hamburgern Musik gehört. Ihre erste selbst ­gekaufte Platte, Songs, die sie in ihrer ­Jugend begleitet haben, bisweilen auch ­Musik, die ihrem Leben eine ganz neue Richtung gab. Heute: Ulrich Waller

Gäbe es eine Oscar-Kategorie für die Rolle, die Musik im ­Leben von Ulrich Waller spielte und spielt, müsste es wohl eine Nominierung für „Beste Nebendarstellung“ sein. Fürs Abzählen der Pop- oder Rock-Konzert-Besuche genügen bis heute zwei Hände. Viele Platten habe er nie besessen, das Sammel-Gen fehlt. Der Teenager-Ulrich, Arztsohn in Tübingen, konservierte alles Wichtige mit einem Uher-Tonbandgerät. Inzwischen sei sein Haus in Italien voller Klassik-CDs. Kommen weitere Musikwünsche auf, sei seine Frau die Expertin und ihr Handy eine Wunscherfüllungsmaschine. Die erste eigene Platte? Keine Ahnung, vielleicht in irgendeiner Dachboden-Kiste in Tübingen. Da sei er unsentimental.

Etwa in den 80er-Jahren hat er „den Kontakt zur Popmusik“ verloren, ­berichtet er jetzt, mit 62. Bücher und Lesen wurden wichtiger, das Theater kam ins Spiel. Was andererseits aber überhaupt nicht heißt, dass Musik nicht für brüllend komische Erinnerungen sorgen kann; sobald man mit Waller nur kurz sanft an der Nostalgie-Lampe reibt, ist viel Schönes wieder da.

Möglichst langer Stehblues war ganz wichtig

Arztsohn in der Universitätsstadt ­Tübingen also, in einer Zeit, in der dort ständig Folkfestivals stattfanden. Ältestes von fünf Kindern, die Geschwister spielten Cello oder Klavier, der Ulli versuchte sich an der Geige, bis es nicht mehr voranging und das Rudern mehr Erfolgserlebnisse brachte. Vietcong-Plakat im Zimmer. Humanistisches Gymnasium, mit einem Musiklehrer, der auch einzeln vorsingen ließ, entweder Geschichten vom Krieg aufwärmte oder Popmusik verachtete. Die weltanschauliche Frage „Beatles oder Stones“, erweitert um Cat Stevens („für alle, die FDP gewählt haben“) beantwortet Waller amüsiert: „Ich war auf der Beatles-Seite, mir waren die Stones musikalisch zu simpel.“

Zur Person

Pilgerfahrten der Wallers nach Stuttgart, zu Rillings Bach-Aufführungen, „das war Musik, die mich sehr ­angekickt hatte“. Die Mutter war großer Reinhard-Mey-Fan. Die Eltern hörten viel Klassik und verehrten den gediegenen Bach-Swinger Jacques Loussier, aber auch Esther & Abi Ofarim. Ein Omen auf die Zukunft, in der Waller das Musical „Hinterm Horizont“ auf die Bühne bringen würde, fand schon ­damals statt: „Immer, wenn mein Bruder eine Frau zu Besuch hatte, die er erotisch bespaßen wollte, drehte er Udo Lindenberg auf. Das war dann so laut, dass man den Rest der Geräusche nicht mehr mitbekommen hat“, amüsiert sich Waller. Musik war auch Mittel zum Zweck. „In-A-Gadda-Da-Vida“ von Iron Butterfly, auch einer dieser praktischen Titel für Partys. Stehblues, „ganz wichtig um sich der Anatomie von Mädchen zu widmen“. Das Wort ist verjährt, die Strategie zeitlos. „Die Live-Version dauerte 19 Minuten, da hatte man viel Zeit.“

Ian Gillan, die Stimme
von Deep Purple,
1977 in London
Ian Gillan, die Stimme von Deep Purple, 1977 in London © Getty Images

Einige LP hat Waller in sein Intendantenbüro im St. Pauli Theater mitgebracht, andere Titel spielt er auf dem Laptop an. Frühen Hanns Dieter Hüsch, Liedermacher-Sprechgesang mit obligatem Zeigefinger. Das haben Sie ernsthaft mit 13, 14, 15 gehört? „Ich komme aus einer Universitätsstadt, sehr links, da gab’s jeden Tag eine Demo.“ Musik einfach so, nur zum Spaß? Schwierig.

Ein nicht ganz einfaches Musikrätsel in Verbindung mit einem Tübingen-Klassiker bleibt ungelöst. Bei Brahms’ „Schicksalslied“, in dem er ein Gedicht des Tübinger Lyrikers Hölderlin vertonte, passt Waller. „Hannes Wader, ,Heute hier, morgen dort‘, das war unsere Hymne“, erzählt er später. Schon der Mädchen wegen, die seien auch politisch interessiert gewesen, was Annäherungsversuche nicht einfacher machte, wenn man noch Schüler war. „Man musste immer schwer den Studenten hinterherarbeiten … Und die Mädchen interessierten sich mehr für Leute, die klug redeten, als für irgendwelche hilflosen Tanzversuche.“

Die vielen Liedermacher, die mussten sein

Als Nächstes startet „Child In Time“ von Deep Purple, vom Album „Made In Japan“, die extralange Version. Hammond-Georgel, Schlagzeug, die Schlüpferstürmer-Stimme von Ian Gillan … Wie war das damals mit Drogen? „An der Schule gab’s die schon, das fing aber erst an.“ Andere haben sich nicht ­zurückgehalten, erzählt Waller, „aber aus irgendeinem Grund bin ich immun gegen die Wirkung von Marihuana. ­Tüten in jeder Größe versucht – ich werde nicht bekifft.“ Von „A Whiter Shade Of Pale“, Procul Harum, genügen ­einige Töne. Schon klar, warum. Anatomie-Unterricht.

Grundstürzend andere, ins Mark treffende Wirkung, ganz anderes Genre: Verdis Requiem, das „Dies irae“, dirigiert von Arturo Toscanini. „Wenn das losgeht wie ein Gewitter …“ Rein zufällig kennengelernt, bei einer Pirandello-Inszenierung begann das Stück damit, mit dem Vorhang, der sich millimeterweise hob. „Man wurde fast verrückt, das hat mich sehr beeindruckt.“

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Die vielen Liedermacher, die mussten sein. „Da hat man versucht, ’68 auf eine andere Weise fortzuschreiben, und dachte, die Musik könnte beim Verändern von Menschen helfen.“ Zum Bea­tles-Album „Abbey Road“, das 1970 ­erschien, zwei Jahre nach ’68 also, kommentiert Waller: „Die Trennung der Beatles habe ich Yoko Ono nicht verziehen.“ „Bridge Over Troubled Water“ von Simon & Garfunkel: „Hab ich gern gehört.“ Wagners „Walkürenritt“, ins Blaue hinein ausgesucht und mitgebracht. Den bekamen Waller und sein St.-Pauli-Theater-Kompagnon Thomas Collien bei einem Hubschrauberflug durch den Grand Canyon zu hören.

Der nächste Klassiker ist von Patti Smith, ihr von Bruce Springsteen geschriebenes „Because The Night“. Ein Konzert in der Jahrhunderthalle ­Hoechst ist schuld. Späte 1970er, ein Betriebsausflug vom Frankfurter Schauspiel-Team. „Dieses Lied hob uns aus ­einigen Depressionen heraus, die wir gerade mit einer Produktion hatten. Und Patti Smith war in Spitzenform.“

Bei Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ war es das Plattencover, das diese Musik ins Hirn verschraubte, „das hat mir Angst gemacht“. Und wo wir schon über dieses und jenes sinnieren: „Es gab auch so blöde Musik, die man immer auf Partys gehört hat. Shocking Blue, sagt Ihnen das was?“ „Venus“, aber sicher. Cat Stevens, zwar FDP-nah, „aber es gab auch einige Lieder, die mir wirklich gut gefallen haben“, betont Waller. Den habe er übrigens einmal in einem Hamburger Hotel getroffen, ­Ende des vergangenen Jahrhunderts.

Verstand ausgeschaltet

Stevens war schon zu Yusuf Islam geworden, er suchte jemanden, mit dem er ein Musical machen könnte, und das St. Pauli Theater wäre ein Haus, an dem man etwas ausprobieren könne. Das Ende von diesem Lied: kein Musical. Aber eine Erinnerung fürs Leben, weil Waller die Frage nach seinem Lieblingssong mit „Sad Lisa“ beantwortete. Islam ­reagierte darauf eher mittelbegeistert, fand er doch andere Nummern viel bedeutender.

Bleibt zum Abschluss eigentlich nur noch eine Gedankenaufgabe, der ­Abschluss des Satzes „Ohne Musik wäre mein Leben …“ „... viel ärmer“, sagt Waller. „Es wäre furchtbar, wenn es keine Musik gäbe. Musik macht mich oft ganz hilflos. Das trifft mich oft auf eine Weise, bei der der Verstand ganz ausgeschaltet ist.“ Weil Waller kürzlich seine erste Oper inszenierte, eine Barock-Rarität in Kiel, fügt er noch eine Szene hinzu: „Wenn eine Sopranistin vor einem steht und aus dem Stand eine Arie singt, warum sie gerade Jupiter verlassen hat – da fang ich sofort an zu heulen. Da kann ich überhaupt nichts machen.“