Hamburg. Unternehmen gehen neue Wege bei Freizeitregelungen. Flexibilität, die von Fachleuten nicht nur positiv gesehen wird.

Als Niklas Etmans Anfang März ziemlich spontan mit Freunden eine Woche nach Südtirol zum Skifahren wollte, musste er nicht auf sein Urlaubskonto schauen. Er musste auch keinen Urlaubsantrag stellen. „Ich habe die Tage einfach in den Kalender eingetragen und meinem Team Bescheid gesagt“, erzählt der 27-Jährige, der beim Hamburger Start-up Purefood für den Bereich Geschäftsentwicklung zuständig ist. Dann war er weg. Urlaub ist bei Purefood Vertrauenssache. Jeder Mitarbeiter entscheidet selbst, wie viel er benötigt und schließlich nimmt. Im Unternehmen kommt das gut an. „Die Freiheit und Flexibilität ist für mich wichtig“, sagt Marie Pugatschow, die neben dem Job noch ihr Studium absolviert. Besonders in der Prüfungszeit nimmt die 25-Jährige zwischendurch gerne einen Extratag frei zum Lernen.

Was für die meisten Arbeitnehmer eher nach unerfüllbarem Wunschdenken klingt, wird immer häufiger praktiziert. Das Modell läuft unter dem etwas sperrigen Begriff Vertrauensurlaub. Und es ist eine Abkehr von den bekannten Abläufen rund um die schönsten Wochen im Jahr. Statt eines festen Kontingents an Tagen, Anträgen und komplizierten Verhandlungen mit den Kollegen, bestimmen die Mitarbeiter selbst über bezahlte Urlaubstage und Zeitpunkt. Die Idee dahinter: In vielen Berufen wächst der Gestaltungsspielraum bei Arbeitszeiten und -orten, da passt ein starres Management der Erholungszeiten nicht mehr. Vorreiter für den Trend war vor 15 Jahren das US-Medienunternehmen Netflix, inzwischen setzen auch in Deutschland Firmen zunehmend auf Urlaub ohne Kontrolle.

Leitartikel: Schöne neue Arbeitswelt?

Beim Hamburger Start-up Purefood gab es nie etwas anderes. „Der Verzicht auf Genehmigungsverfahren und festgelegte Urlaubsansprüche ist aus der Praxis entstanden“, sagt Geschäftsführer Felix Leonhardt. Das Unternehmen, das unter der Marke Lycka gesunde Snacks und Eis anbietet, hat 16 fest angestellte Mitarbeiter. Alle sind auch Anteilseigner. Für Leonhardt ist die individuelle Urlaubsplanung ein Aspekt von vielen in der Firmenkultur. „Wir vertrauen uns und wollen gemeinsam etwas aufbauen.“ Angst, dass jemand diese besondere Freiheit ausnutzt, hat er nicht. „Wir sind in der Wachstumsphase, haben klare Ziele“, sagt der Gründer. „Da geht niemand in Urlaub, wenn in seinem Bereich viel zu tun ist.“

Die Plattform Joblift hat 14 Millionen Stellenangebote in den vergangenen zwei Jahren analysiert. Das Ergebnis: 132 Arbeitgeber warben mit dem verlockenden Angebot um neue Mitarbeiter. Tendenz steigend. Allein in den zweiten zwölf Monaten des Untersuchungszeitraums wurden fast zweieinhalb mal mehr Stellen ohne festes Urlaubskonto ausgeschrieben. Insgesamt waren es 335 Positionen. Offenbar treffen die Firmen damit die Wünsche vieler Arbeitnehmer.

Deutsche wünschen mehr Urlaub

Eine repräsentative Umfrage für den gerade erschienenen ersten Urlaubsreport des sozialen Netzwerks Xing ergab, dass sich ein Großteil der Deutschen mehr Urlaub wünscht. 32,2 Tage lautet für den Durchschnitt die optimale Anzahl. Aktuell sind es real 28 Tage. Daran, ob das Konzept des unbegrenzten Urlaubs funktionieren könne, scheiden sich die Geister. Knapp die Hälfte der Befragten glaubt, dass die Selbstbestimmung bei den Urlaubstagen umsetzbar sei. Besonders die jüngeren Generationen können sich diese Regelung gut vorstellen.

„Die Flexibilität in der Arbeitswelt nimmt zu. Unternehmen müssen neue Angebote machen, wenn sie gute Mitarbeiter haben wollen“, sagt Henning Vöpel, Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI). Die freie Urlaubseinteilung könne ähnlich wie die selbstbestimmte Organisation der Arbeitszeit die Produktivität erhöhen. Das gelte vor allem für Branchen, in denen in Projektzyklen gearbeitet werde. Zugleich warnt der Volkswirt vor der Schlussfolgerung, dass der sogenannte Vertrauensurlaub mit unbegrenztem Urlaub gleichzusetzen sei. „Es wird suggeriert, dass die Beschäftigten mehr Freiräume, mehr Freizeit, mehr Spaß hätten. Tatsächlich ist die Arbeitsbelastung in vielen Branchen gewachsen. Sie wird nur anders verteilt.“ Das Konzept Vertrauensurlaub, so der HWWI-Chef, sei deshalb nur in sehr wenigen Fällen organisatorisch umsetzbar.

Auch für Personalchefin gilt Vertrauensurlaub

Die Agenturgruppe Hirschen Group hat Anfang des Jahres testweise an zwei Standorten in Hamburg und Stuttgart Vertrauensurlaub eingeführt. „Die Zeiten, in denen man von oben verwalten kann, sind vorbei“, sagt Sina Wellschmiedt, Personalchefin der Gruppe mit 700 Mitarbeitern. Für sie ist der Vertrauensurlaub eine logische Reaktion auf die zunehmende Eigenverantwortlichkeit und Selbstorganisation der Beschäftigten in der Dienstleistungs- und Kommunikationsbranche. Bei einer Umfrage hätten sich nahezu alle der 65 Kollegen an den beiden Modellstandorten für die vertragliche Einführung des Konzepts entschieden. Festgelegt wird sowohl der gesetzliche Mindesturlaub von 20 Tagen als auch der unbegrenzte Vertrauensurlaub. Die Befürchtung sei eher gewesen, dass zu wenige als zu viele Urlaubstage genommen würden.

„Es läuft gut“, sagt die Personalfachfrau nach einem halben Jahr. Die Erfahrung habe gezeigt, dass längere Urlaube im Team abgestimmt würden, unter anderem wegen der Schuferienzeiten. „Der Umgang ist offener, die Urlaubsplanung transparenter“, so Wellschmiedt. Der erste Überblick zeige, dass es einige Kollegen gebe, die auf mehr als 30 Urlaubstage kommen. Andere lägen darunter. 20 Tage sind allerdings Pflicht – die muss jeder im laufenden Jahr nehmen. „Unser Ziel ist, dass sich das über die Jahre reguliert.“ Für sie gilt der Vertrauensurlaub übrigens auch. Im Frühjahr war Wellschmiedt auf einer dreiwöchigen Urlaubreise in Südafrika. Eine Woche Sommerurlaub dagegen hat sie gerade kurzfristig abgesagt. „Zu viel zu tun.“ Natürlich hat das Modell auch Vorteile für den Arbeitgeber. „Die aufwendige Urlaubsverwaltung entfällt weitestgehend“, sagt die Personalerin. Auch Rückstellungen für Resturlaubszeiten gibt es keine.

Weiterhin ein festes Kontingent

In Hamburg bieten unter anderem die Digitalagenturen Elbdudler, die Ministry Group oder das Telekommunikationsunternehmen Cisco Urlaub auf Vertrauensbasis teilweise schon seit Jahren an – und machen gute Erfahrungen. Im Schnitt würde sich die Zahl der Urlaubs bei den Mitarbeitern auf 30 Tage einpendeln, heißt es etwa bei Elbdudler. Auch größere Firmen experimentieren mit dem Konzept. So führt beim Klebespezialisten Tesa die Personalabteilung des Offenburger Werks schon seit 2007 keine Urlaubskartei mehr für die 430 hauptsächlich gewerblichen Mitarbeiter. „Die Absprachen werden im Team getroffen“, sagt ein Sprecher. Das Gleiche gilt für die Arbeitszeiten. Mit Erfolg: Krankenstände und Fluktuation seien sehr gering.

In Hamburg hat der Handelskonzern Otto eine Art Vertrauensurlaub light eingeführt. Die Mitarbeiter haben zwar weiterhin ein festes Kontingent von 30 Tagen, die durch Überstunden erweitert werden können. Seit April 2018 kann aber jeder Otto-Beschäftigte seinen Urlaub über ein neues System selbst planen. Eine Zustimmung des Teamleiters ist nicht notwendig. Allerdings kann das System den Urlaub verwehren. Das passiert, wenn in dem Zeitraum die Mitarbeiterzahl im Team unter eine definierte Mindestzahl sinkt.

Gewerkschaften sind kritisch

Dagegen sehen die Gewerkschaften das neue Urlaubsmodell, nicht ganz überraschend, kritisch. „Ich bin ähnlich wie bei der sogenannten Vertrauensarbeitszeit sehr skeptisch“, sagt Berthold Bose, Landesbezirksleiter der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di. „Das Interesse des Arbeitgebers ist es nicht, mehr Urlaub zu gewähren. Das könnte er leicht regeln“, so der Arbeitnehmervertreter. „Stattdessen wird Urlaub disponibel gemacht.“

Bose befürchtet, dass Mitarbeiter aufgrund der zunehmenden Arbeitsdichte und des oft sehr hohen Arbeitsdrucks dann eher mehr arbeiten und weniger Urlaub machen. „Bislang hat Selbstausbeutung Grenzen im klar regulierten Urlaub gefunden. Die werden damit aufgelöst.“ Langfristig erhöhe das nicht die Produktivität, sondern den Druck und damit das Risiko, krank zu werden, sagt Bose und verweist auf Regelungen in Tarifverträgen. Aus seiner Sicht bringt „Vertrauensurlaub keinen Mehrwert für die Beschäftigten“.

Juristisch ist das Thema weiter brisant

Auch der Hamburger Arbeitsrechtler Lars Kohnen sieht zahlreiche Folgefragen. „Der sogenannte Vertrauensurlaub ist nicht ohne Weiteres mit den rechtlichen Rahmenbedingungen vereinbar“, sagt er. Denn es dürfe von dem Mindestanspruch von 20 Arbeitstagen im Jahr nicht zulasten des Beschäftigten abgewichen werden. „Die Frage ist, ob man die Pflicht, diese Urlaubstage auch zu nehmen, allein dem Arbeitnehmer auferlegt, oder ob der Arbeitgeber gegebenenfalls verpflichtet ist, aus seiner Fürsorgepflicht dafür zu sorgen.“

Aktuell gibt es dazu unterschiedliche Urteile vom Bundesarbeitsgericht und einigen Landesarbeitsgerichten. Der Fall liegt jetzt beim Europäischen Gerichtshof (EuGH). „Je nachdem, wie der EuGH entscheidet, kommen auch beim Vertrauensurlaub Schadensersatzansprüche bei nicht vollständig genommenem Urlaub in Betracht. Hier ist in jedem Fall die Entwicklung der Rechtsprechung im Auge zu behalten“, rät der Fachanwalt.

Beim Hamburger Start-up Purefood ist das Problem auch nicht, dass die Mitarbeiter zu oft im Urlaub sind, sondern eher zu wenig. In den Arbeitsverträgen ist die Zahl der Mindesturlaubstage inzwischen auf 24 erhöht worden. „Damit ich auch mal jemand in den Urlaub schicken kann, wenn er nicht von sich aus geht“, sagt Geschäftsführer Felix Leonhardt. In einzelnen Fällen sei das schon geschehen. Leonhardt selbst ist passionierter Kite-Surfer und will ab Ende August einen Monat mit dem Campingbus unterwegs sein. „Dann bin auch mal nicht erreichbar“, hat er sich fest vorgenommen. Purefood-Mitarbeiter Niklas Etmans ist übrigens gerade nicht im Büro. Er nutzt die Sonne – und macht spontan ein paar Tage Urlaub.