Hamburg. Heinz Strunk, der Goldene Handschuh – und Gustav Mahlers Neunte: Charly Hübner und Rocko Schamoni mal ganz anders.

Neulich im Schauspielhaus, vor einer Aufführung der Absturzkneipen-Revue „Der goldene Handschuh“, wurde Rocko Schamoni von Charly Hübner gefragt, ob er mit ihm über Mahlers Neunte reden möchte, „über den Tod und so“, er habe da diese Anfrage vom Ensemble Resonanz erhalten. Was Hübner wahrscheinlich nicht sagte: Mahler-Symphonien sind – auf ihre Art – der totale Heinz Strunk, nur mit ziemlich anderen Noten und ohne bitter-drollige Pointen. „Über den Tod und so“, das trifft es jedenfalls schon sehr gut.

Beim „bunkersalon“ im ausverkauften Resonanzraum kam es dann dazu. Ein Tisch, zwei gemütliche Sessel, Rotwein, ein kleiner Bücherstapel aus der musikwissenschaftlichen Basisbibliothek. Gemeinsames Zuhören, Nachdenken und Miteinanderreden über Musik vor 200 Unbekannten – eine sympathische, aber auch einschüchternd persönliche Konstellation als Vorglühen für die Laeiszhallen-Aufführung der Kammerorchester-Version von Mahler neun.

Lässig überspielter Vorwissensrückstand

Spontane Offenbarungsängste gab es allerdings nicht. Hübner, an idyllischen mecklenburgischen Seen vor allem mit Metal sozialisiert und seit Langem von Klassik ernsthaft fasziniert, saß links; Schamoni konterte mit leichtem, aber lässig überspieltem Vorwissensrückstand von rechts. Die Musik kam, vom Resonanz-Bratscher Tim-Erik Winzer portioniert, über Lautsprecher aus der Konserve.

Viele Wege führen direkt nach Rom, immerhin einige zu Mahlers Musik. Man könnte so einen Abend klassisch mit formschön vergeistigten Zitaten beginnen, „Mahler. Eine musikalische Physiognomik“ von 1960, der Erleuchtungsklassiker schlechthin zum Thema, ist schließlich randvoll mit klugen Erkenntnissen, die auch heute noch Thesen-Trüffel fürs Hirn sind. Theodor Wiesengrund Adorno, ihr Autor, aber kam erst später zu seinem Recht. Hübner und Schamoni hörten lieber erst mal hinein in den Beginn des ersten Satzes, der aus dem Nichts kommt.

Epische Weite

Harfe, Hörner, eine Handvoll Streicher, eine erste Ahnung von der epischen Weite und Tiefe dieser Musik. Danach wurde – total unakademisch, sehr menschlich – abgeglichen, welche Gefühle dieses Andante comodo in ihnen auslöste. „Hoffnung, Sehnsucht, etwas geht“, fand Schamoni; Hübner erkannte „Sehen, Gehen, den Blick nach oben“ und das 30-minütige Suchen nach tragfähigen Themenideen als „eine Aufeinanderhäufung von Versuchen, dem Leid eine Form zu geben“.

In orthodoxen musikwissenschaftlichen Seminaren wird man für allzu direkte Rückschlüsse von der Biografie auf ein Werk als Küchenpsychologe unter verächtlichem Gelächter vor die Tür verbannt, diesen zwei Mahlerianern der Herzen war so ein Dünkel natürlich komplett egal. Hübner listete die brutalen Schicksalsschläge auf – den Tod von Mahlers Tochter Maria Anna, massive Herzpro­bleme, die Ehekrise –, bevor er aus einem Brief an Bruno Walter vorlas, in dem Mahler, nach neuem Halt suchend, fragte, was das sei, die Seele, und über die „Schrecknisse der Einsamkeit“ schrieb. Mahler überlebte weiter und schrieb seine Musik, Hübner nannte das „von innen heraus komponiert“.

„Mandatory Suicide“ von Slayer

Auch mit der trügerischen Ländler-Idylle des zweiten Satzes konnte Mahler sie nur kurz hinter die sprichwörtliche Fichte führen. „Da stapelt sich doch einiges“, entlarvte Hübner, beeindruckt von Mahlers Zähigkeit, die knapp übertünchte Problemlage, die in der angetäuschten Rando-Burleske immer größere Fragen aufwarf. Hübner vermutete eine nächste Reise-Etappe in den Himmel, Schamoni philosophierte, der Tod sei die größte Sache, die es gibt, aber auch sehr einfach.

Von dort an wurde es wirklich fein mit dem Nachdenken über Musik und Ästhetik, weil die Assoziationen und Querverbindungen immer mutiger wurden. Nachdem Schamoni mit Pärts gefühliger Grab-Platte „Cantus in Memoriam Benjamin Britten“ vorgelegt hatte, grätschte Hübner kurz mit „Mandatory Suicide“ von Slayer dazwischen, bevor er doch noch zu Adornos Essay-Band griff. Ein „Meisterwerk“ sei Mahlers Neunte, stand dort, „Die Totale ist durchmelodisiert“, die Stimmen der Instrumente „murmeln wie im Traum“. Seitenweise nur solche Sätze. Stundenlang hätte man Adornos Worten, ehrfürchtig vorgelesen von Hübner, zuhören mögen.

Finale Abrundung

Aber Schamoni hatte sich das verhuscht verpeilte „Til I Die“ von den Beach Boys herausgelegt, bevor es ins Adagio ging, dem Hübner „Ad mortem“ vom Esbjörn Svensson Trio gegenüberstellte. Rocko Schamoni adornisierte mit einer Kunsttheorie zurück: „Der sichere Tod vertieft das Denken und das Fühlen.“ Als finale Abrundung ließ Hübner beim letzten Tonbeispiel das Adagio-Ausklingen der Neunten, das für Adorno „der Blick in das Ungewisse“ war, in das Adagio der Zehnten münden, die unvollendet blieb, als Schlussstrich unter eine offene Frage. Ein kluger Abschluss für einen sehr speziellen Gedankenaustausch.

Konzert: Di 12.6., 20.00, Laeiszhalle, Gr. Saal. Ensemble Resonanz mit Mahlers Sinfonie Nr. 9 (Bearbeitung: Klaus Simon), Dirigent: Emilio Pomàrico. Karten ab 15 Euro