Hamburg. Ion Marin und die Symphoniker mit dem Adagio der Zehnten und dem „Lied von der Erde“ in der Laeiszhalle

Nach einer regulären Neunten, dem unpassierbaren Grenzposten für einige Komponisten-Genies seit Beethoven, blieb Gustav Mahler die Vollendung der Zehnten verwehrt; sein „Lied von der Erde“ ist ein sechsteiliges Unikat zwischen Symphonie und Weltabschied für zwei Stimmen und ein sehr großes ­Orchester. Setzt man gleich beide Spätwerke – das Fragment in Fis-Dur und den Gedicht-Zyklus über letzte Dinge – nebeneinander in ein Programm, muss man sich im Klaren sein, wie dünn das Drahtseil ist, auf das man sich wagt. Strauss schuf Jahrzehnte später mit seinen „Vier letzten Liedern“ einen weitaus nostalgischer angelegten Schwanengesang; in dieser Kombination kommen, auch wenn in der Zehnten nicht gesungen wird, gleich sieben ­Abschiedslieder zusammen.

Man kann Trost suchen in dieser jenseitigen Musik, ­Erfüllung, ­womöglich sogar tieferen Sinn im Erlebten und Gelebten. Ob man ihn findet, indem man nur – was durchaus schon schwer ­genug ist – ­Noten in die vor­geschriebene Reihenfolge bringt? Fraglich. Hilfreich ist bei einer derartigen Extremherausforderung jedenfalls nicht jenes sehr diesseitig robuste Zupacken, mit dem Ion Marin das Symphoniker-Konzert am Sonntag beginnen ließ. Der aus dem Nichts kommende ­Beginn in den Bratschen, dieses tristaneske Melodiewabern, das ins erste klar umrissene Leidmotiv mündet, geriet zu ­pauschal, zu ungenau, um als Skizze einer zweifelnden, wunden Seele zu funktionieren.

Je tiefer es in die Therapievertonung hineinging, desto ­erschütternder hätte das Adagio wirken sollen; Mahler hatte hier seiner Fassungslosigkeit über persönliche Schicksalstiefschläge zu Notenpapier gebracht. Dass er diese Passagen in Randlagen ­notiert hatte, dorthin, wo kleinste Ungenauigkeiten bei der Intonation arg auffallen, machte die Angelegenheit für das Orchester nicht einfacher. Das Tutti spielte unentschlossen und mittelfein vor sich hin, bis es in der Mitte des Adagios die ­berühmt-berüchtigten Neunton­akkorde rammte, dieses letzte Aufbäumen der klassischen Tonalität vor ihrem Sturz in die Moderne. Diese Begegnung sorgte aber nicht für Besserung, sodass am ­Ende der Eindruck einer Kapitulation vor dem Stück blieb. Tod ja, aber Verklärung? Nun ja.

Beim „Lied von der Erde“ kamen Mahlers Klangwelt und Marins Perspektive darauf zu einer einvernehmlicheren Lösung. Weniger Transzendenz, mehr Tatsächliches, das es zu gewichten und praktisch aufeinander abzustimmen galt. Doch auch hier war die Balance nicht durchgängig vorhanden: Die drei Lieder, mit denen Tenor Brenden Gunnell zu ringen hatte, überzeichnete ­Marin allzu oft und ließ ihn mit seinem Part im Bildrand stehen: Im einleitenden „Trinklied vom Jammer der Erde“ kam der Vokalpart nur bemüht zum Tragen; in der allerliebsten Chinoiserie-Episode „Von der Jugend“ ließen die Bläser das unverzichtbare Fein­gefühl beim ­Umgang mit der Solostimme vermissen.

Was dort fehlte, machte die Mezzosopranistin Jennifer Johnston in ihren drei Liedern wieder wett. Sie bekam und nahm sich mehr und mehr die nötigen Freiräume, um zu gestalten und nicht lediglich mitzuhalten. Mit den ins Verklingen gesungenen „Ewig ... ewig ...“-Worten im Finale von „Der Abschied“, umspielt vom Sternenstaub aus Celesta, Harfe und Streichern, löste dieser Abschluss ein, was dem Ende des Symphonie-Adagios nicht gelungen war.