Hamburg. Yannick Nézet-Séguin und sein Philadelphia Orchestra reißen das Publikum in der Elbphilharmonie zu Jubelstürmen hin.
Wenn eine Musik das aktuelle Selbstbild der USA transportiert, wie man es sich diesseits des Atlantiks so vorstellt, dann doch wohl diese: Durch „Resilience“ für Orgel und Orchester von Wayne Oquin aus dem Jahre 2015 galoppieren die Cowboys vor der extrabreiten Kinoleinwand aus Blechfanfaren und schmachtenden Streicher-Klangflächen. Die Musik strotzt nur so vor filmmusikalischer Effekte, gestochen scharf defilieren die Motive vor dem geistigen Auge des Hörers vorbei, und der Solist Paul Jacobs spielt die Orgel im Großen Saal der Elbphilharmonie so klangsinnlich und fein, wie es alles andere als selbstverständlich ist.
Ein Triumphzug. Anders kann man es nicht nennen, was das Philadelphia Orchestra unter seinem Chefdirigenten Yannick Nézet-Séguin an zwei Abenden hintereinander begeht.
Dramatik wie im Theater
Schumanns Vierte wirkt von den ersten Tönen wie ein atmendes Wesen, so genau und organisch setzt Nézet-Séguin die Einheiten voneinander ab. Er schafft Weihe ohne Pathos und erzählt die Musik mit einer Dramatik, als wären wir im Theater. Schade nur, dass das Orchester hell und etwas unflexibel klingt. Die Soli des Konzertmeisters und der ersten Cellistin lassen Wärme und Fülle vermissen, und der Klang der Holzbläser mischt sich nicht gut. Ob die Musiker mit Schumanns in gebrochenen Farben changierenden Tonsprache fremdeln? Oder mit der Akustik? Oder beides?
Nach der Pause bei Brahms’ erstem Klavierkonzert sind diese Fragezeichen vergessen. Denn das Kraftzentrum des Abends ist Nézet-Séguin. Optisch eher Muskelpaket als Balletttänzer, bildet er die Musik quasi choreografisch ab. Wenn er – ohne Stab übrigens – seine Arme dem Handgelenk wie gegen einen Widerstand folgen lässt, können die Musiker gar nicht anders, als eine schier unwiderstehliche Spannung aufzubauen. Daraus entstehen mal Untröstlichkeit, mal Weite und mal Übermut, und die Solistin Hélène Grimaud lässt sich von der Echtheit dieses Musizierens hörbar inspirieren.
Ein Rockkonzert? Könnte fast sein
Am zweiten Abend geht es weiter mit der Sinfonie „The Age of Anxiety“ von Bernstein. Da loten die Musiker in die Tiefe, und der Solist Jean-Yves Thibaudet zaubert mal die lyrischsten legt sich in die Kurven wie ein altgedienter Barpianist. Umwerfend cool die Schlagzeugabteilung – und umwerfend virtuos und beseelt zugleich die Holzbläser in Tschaikowskys Vierter. Stellvertretend für alle sei hier die junge Solohornistin genannt, der die letzte Melodie des Programms zukommt. Berückend.
Frenetischer Jubel, enthemmtes Pfeifen, Wogen von Applaus. Ist das ein Rockkonzert? Könnte fast sein.