Hamburg . Ein Höhepunkt des Musikfests fand nicht in der Elbphilharmonie statt: Stockhausens Avantgarde-Klassiker „Gruppen“ im Mehr! Theater.

Im deutschen Kino lief „Das Wirtshaus im Spessart“ mit Liselotte Pulver an. Elvis Presley hatte mit „Jailhouse Rock“ einen Hit gehabt und kam als US-Soldat zu den Fräuleins nach Deutschland, während Vico Torriani eine „Ananas aus Caracas“ pries und Fred Bertelmann vom „Lachenden Vagabund“ sang. Nikita Chruschtschow und Charles de Gaulle übernahmen in ihren jeweiligen Ländern Führungsämter.

So in etwa sah das Koordinatensystem 1958 aus. Und dann war da noch, ­manisch arbeitend, ein ­gewisser Karlheinz Stockhausen, keine 30 Jahre jung, der einzig mit der Kraft seiner Fantasie in knapp einer halben Uraufführungs-Stunde das klassische Kulturgut Orchester atomisierte.

Vom Aufreger zur Antiquität der Avantgarde

Aus heutiger Sicht ist die oberflächlich komplett abstrakte Klangwelt von „Gruppen“ – Nomen est Bauplan – geradezu rührend harmlos, aus dem Aufreger ist längst eine Antiquität der deutschen Nachkriegs-Avantgarde ­geworden. Eine Spielplan-Rarität, weil die Anforderungen ihrer praktischen Wahrwerdung derart rahmen- und etatsprengend sind, dass die meisten lieber die Finger davon lassen, und auch der Name Stockhausen löst ja eher keine Käuferschlangen vor Kartenkassen aus. Einerseits.

Andererseits aber: Der visionäre Wahn-Sinn, mit dem Stockhausen seine Ton-Zentrifuge anwarf, wirkt nach wie vor und nordet die Wahrnehmung ein. Diese Musik hat, wie der Spanier so schön sagt, cojones, Eier also, und nicht die kleinsten. Diese Musik traut sich was, ist kompromisslos und radikal.

Drei Dirigenten, die synchron schlagen müssen

In Wagners „Parsifal“ wurde die Zeit ehrfürchtig zum Raum verkomponiert, in „Gruppen“ jedoch, wo alles mit allem zu tun hat, wird der Raum selbst zum Klang: Drei Podien, über das 109 Mitglieder des Wiener ORF-Orchesters nach einem bis auf die zweite Metronomzahl-Stelle hinter dem Komma ausgeklügelten Masterplan ausgeschüttet wurden.

Drei Dirigenten, die, als hätten sie Rechenschieber statt Taktstöcken in der Hand, synchronschlagen können müssen. In der Mitte: Wir. Da. Jetzt. Synchronschwimmen in Orchesterklängen. Kein Entkommen, doch das wollte im Mehr! Theater auch niemand. Die Masse Zuhörer, für dieses wunderbare Drei-Klang-Spektakel zur Fast-Rund­um­beschallung freigegeben.

Verstehen muss man diese Musik nicht

Das Tolle an dieser Begegnung: Verstehen im klassischen, nachvollziehenden Sinne muss man diese Musik nicht, doch man muss sich ihr als Erlebnis – wenn sie sich tatsächlich einmal um einen herum manifestiert – unbedingt und bedingungslos aussetzen. Kopfüber, tief durchatmen, gut einziehen lassen. Hatte etwas von Festplatte formatieren. Doch diese Gelegenheit kommt so schnell nicht wieder.

Beim „Gruppen“-Termin, mit dem das Hamburger Musikfest einen löblich ­dicken Schlussstrich unter einen überfälligen Stockhausen-Schwerpunkt zog, waren die Veranstalter smart ­genug, um das Stück gleich zwei Mal spielen zu lassen.

Durchorganisierte Unberechenbarkeit

Klar könnte man sich beim Hören gedanklich am Konzept serieller Musik entlanghangeln und sich fragen, wie lang es wohl dauert, bis man mit bloßen Ohren ­erkennt, ob Tonhöhen und Lautstärken auch proportional regelgemäß abgearbeitet werden. Doch damit wären der Spaß und die Faszination deutlich verringert. In der Mitte des Parketts war es ungleich intensiver und ergiebiger, sich durch die akustischen Ereignisse treiben zu lassen, aus denen sich am Ende eine Musik formte, die das Geheimnis ihrer Struktur trotz der ­Nähe zu ihr für sich behielt.

Cornelius Meister, Duncan Ward und Dietger Holm waren die Fluglotsen für diese Grenzerfahrung, und soweit das zu beurteilen war, lief alles glatt. Zweimal rund 30 Minuten lang klöppelte, brauste, zirpte, mäanderte und wogte es kreuz und quer von den drei Podien. Alles sehr unfassbar, alles total durchorganisierte Unberechenbarkeit.

Am Ende bleibt der Nachhall der „Gruppen“

Mag sein, dass im Hochparkett des riesigen Saals die Verschmelzung der drei Schallquellen zu einem größeren Miteinander führte, weit vorn im Parkett hingegen war der Trennkost-Höreindruck vorherrschend, der Details betonte und herausstellte.

Der irrste Baustein des Mobiles: das martinitrockene, ­cooljazzige Dazwischenplingen der E-Gitarre, die drei Jahre nach dem Erdbeben durch Bill Haleys „Rock Around The Clock“ ganz andere Assoziationen ausgelöst haben dürfte als heutzutage, rund 60 Jahre später. Am Ende noch ein sanftes, letztes Ausatmen einer Bläserfigur. Und das war es dann, aus, vorbei. Der Nachhall blieb.