Der Wohnungsbau floriert, Hamburg könnte bald zwei Millionen Bewohner haben. Doch was, wenn alles anders kommt? Eine Analyse.

Wir sind Kinder des Zeitgeists. Wir sind gefangen im Denken, geprägt von den großen Entwicklungen unserer Zeit. Es ist zutiefst menschlich, die Entwicklungen der Gegenwart in die Zukunft fortzuschreiben. Deshalb sagt die Krise den Untergang voraus, während das Wachstum glaubt, unsterblich zu sein. Gerade in der Stadtentwicklung werden gegenwärtige Trends in die Zukunft fortgeschrieben. Kaum ein Mensch zweifelt daran, dass die Hansestadt schon in einigen Jahren die Zweimillionenmarke knacken könnte. Und der neue SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf setzte nun im Abendblatt noch eins darauf: Hamburg könnte auch 2,2 Millionen Einwohner vertragen. Wer bietet mehr?

Vor 30 Jahren klang das ganz anders. Damals warnte ein SPD-Politiker von der „Unregierbarkeit der Städte“: „Die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland nimmt weiter ab. Sie nimmt auch in den großen Städten ab, in Hamburg überproportional. Dafür gibt es zwei Gründe: die Altersstruktur der hamburgischen Bevölkerung und die Umlandabwanderung. Eine andere Entwicklung wäre nur denkbar, wenn die Bundesrepublik ein Einwanderungsland würde, auch offiziell, woran ich nicht glaube. Wenn die erste These zutrifft, dann werden wir es – trotz der Aussiedlerzuwanderung – erleben, dass in den nächsten 15 bis 30 Jahren einzelne Stadtteile in Hamburg leerlaufen oder sich zu Slums entwickeln und die städtische Infrastruktur­ sich flächendeckend verdünnt.“

Hamburgs Entwicklung: Falsche Prognosen sollten Demut lehren

Als Konsequenz empfahl der Vordenker: „Es braucht Mut zur Gestaltung, denn eigentlich müssten wir heute entscheiden, bestimmte Stadtteile oder Teile von Stadtteilen in einer weiteren Zukunft als Wohnquartier aufzugeben und die Flächen anders zu nutzen. Das sind, wie ich sehr wohl weiß, ungeheuer schwierige politische Entscheidungen ... Betroffen werden von solchen Entscheidungen vor allem die nach 1960 erbauten Großsiedlungen.“

Nun kann man mit 30 Jahren mehr Geschichtskenntnis den Redner für einen Toren halten, aber das wäre wohlfeil. Die Gedanken zur „Unregierbarkeit der Städte“ kamen vom ehemaligen Bürgermeister Hans-Ulrich Klose. Er hatte 1988 seinen Tutzinger Vortrag zum Thema aus dem Jahre 1975 für die Hamburgische Architektenkammer aktualisiert. Klose erntete viel Zustimmung, seine Rede wurde in Büchern nachgedruckt.

Dass alles anders kam, hat viel mit den Launen der Geschichte zu tun: Den Mauerfall 1989 konnte niemand vorhersehen, genauso wenig wie die Grenzöffnung 2015. Beide Großereignisse haben die Stadt verändert. So soll die offensichtlich falsche Klose-Prognose nicht zu Hochmut verleiten, sondern Demut lehren. Die Zukunft ist offen. Und wer weiß eigentlich, dass die Städte immer weiterwachsen müssen?

Hamburgs Wachstum ist eine Frage der Zuwanderung

Derzeit meinen das alle zu wissen: Der ehemalige Bürgermeister Olaf Scholz brachte die magische Marke von zwei Millionen Hamburgern 2013 ins Gespräch. Der neue Bürgermeister Peter Tschentscher sprach in seiner Regierungserklärung von zwei Millionen Einwohnern bis Mitte der 30er-Jahre.

Das Institut der deutschen Wirtschaft sieht Hamburg bis 2035 auf 1,95 Millionen wachsen. Bei zwei Millionen bräuchte die Stadt im Vergleich zu 2015 schon 140.000 Wohnungen, 120 Kindergärten und 38 Schulen zusätzlich. Die Prognostiker von Nexthamburg.de rechnen mit drei Szenarien, die samt und sonders an der Flüchtlingszuwanderung hängen. Bei einem anhaltenden Zustrom würde Hamburg nach dieser Rechnung schon 2025 die Zweimillionenmarke erreichen, 2035 hätte Hamburg etwa 2,15 Millionen Einwohner.

Unterschwelliger Unmut über das Wachstum

Bei einem durchschnittlichen Wachstum von 10.000 bliebe die Hansestadt bis 2035 unter der Marke von zwei Millionen, und bei einem Wachstum wie vor der Flüchtlingskrise wächst die Bevölkerung nur leicht auf 1,88 Mio. Bewohner. Noch 2014 ging das offizielle Demografie-Konzept der Stadt von einer ab 2025 stagnierenden Zahl von 1,854 Mio. Einwohner aus. Auch wenn es keiner sagen mag: Die Einwohnerzahl hat viel mit der Migrationspolitik zu tun.

Möglicherweise wächst auch deshalb unterschwellig der Unmut über das Wachstum der Stadt. Verfolgt man die Debatte, ist das einstmals überwiegend beklatschte Konzept der „Wachsenden Stadt“ inzwischen hoch umstritten. Die Absage an die Bewerbung um Olympische Spiele – übrigens auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im November 2015 – speiste sich auch aus einer grundsätzlichen Kritik an den Weltstadtambitionen. Diese Kritik hat sich seither noch verschärft. Von rechts über die Mitte nach links wächst der Widerstand, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Nicht wenige sehen in der „Wachsenden Stadt“ längst eine „Wuchernde Stadt“.

Einfach bauen sich in Hamburg nur noch Luftschlösser

Der Naturschutzbund Nabu hat mit seiner „Volksinitiative zum Erhalt von Hamburgs Grünflächen“ nun Tausende Unterschriften gesammelt. Der Flächenfraß ist keine virtuelle Befürchtung, sondern längst Fakt: Nach Angaben des Nabu-Chefs Alexander Porschke wurden zwischen 2011 und 2016 mindestens 246 Hektar Grünfläche für Neubauten verplant – eine Fläche größer als die Außenalster. „Mit der Volksinitiative schlagen wir einen Weg ein, mit dem wir dem ungebremsten Flächenverbrauch eine deutliche Grenze setzen wollen“, sagte Porschke. Sollte auch das Volksbegehren erfolgreich sein, könnte 2020 ein Volksentscheid parallel zur Bürgerschaftswahl stattfinden. Die Chancen stehen gut: Schon jetzt ist keine Nachverdichtung, kein Neubaugebiet mehr ohne Widerstand möglich. Einfach bauen sich in Hamburg eigentlich nur noch Luftschlösser.

In der Schweiz ist die Debatte noch schriller. Hier haben Einwanderungsgegner den Begriff „Dichtestress“ aus der Ornithologie zweckentfremdet. Damit beschreiben sie das Unbehagen vieler Bürger angesichts voller Straßen und Bahnen, neuer Wohn- und Gewerbegebiete. In diese Sorge um den Status quo mischt sich die Ablehnung von Zuwanderung. Eine solche Koalition aus ökologischer Linke und einwanderungskritischer Rechten dürfte in Deutschland prinzipiell mehrheitsfähig sein.

Vielfalt macht Städte nicht stärker

Die Zuwanderung der vergangenen Jahre hat das Problem nicht nur verstärkt, sondern bei vielen erst ein Pro­blembewusstsein geschaffen. Gerade Großstädte sind das Ziel von Migranten – hier erhoffen sie sich einen leichteren Start in ein neues Leben, bessere Chancen auf einen Job und gleichzeitig ein Stück Heimat in der Fremde unter Landsleuten. Vielfalt ist eine große Stärke der Städte. Aber mehr Vielfalt machen sie nicht stärker.

Bei einer Ballung wachsen die Pro­bleme: Die Konzentration von manchen Zuwanderergruppen in eigenen Vierteln verhindert Integration und fördert Segregation. Schon jetzt haben 40 Prozent der Hamburger Schulen einen Anteil von nicht muttersprachlichen Schülern von mehr als 40 Prozent. Oftmals ziehen bei solchen Strukturen viele Deutsche, aber auch gut integrierte Ausländer fort. Die Massenzuwanderung der vergangenen Jahre wird Hamburg verändern – knapp 40.000 Flüchtlinge wurden seit 2015 Hamburg zugeteilt, tatsächlich dürften es noch mehr sein. Migration in die Sozialsysteme aber ist für die Städte eine viel größere Herausforderung als die Migration in den Arbeitsmarkt. Das Gelingen oder Misslingen der Integration wird über den Erfolg von Städten entscheiden – darin liegen Chancen und Gefahren.

Schon heute freut sich nicht jeder Alteingesessene über die Zuwanderung – das schürt die Bereitschaft, ins Umland oder gar ins Ausland zu ziehen. Und nicht jeder möchte in einer wachsenden Stadt mit Stress und Lärm und einem verschärften Wettbewerb um Parkraum und Kitaplätze leben. Derzeit kann sich kaum ein Wohnungsbauexperte vorstellen, dass wie in den Sechzigern der Wunsch nach einem Leben mit Eigenheim, Garten und Garage wieder lebendig werden kann. Dabei geben die Zahlen längst Indizien für eine Trendwende her: Erstmals seit 20 Jahren zogen 2014 mehr Deutsche aus den sieben größten Städten fort als zu. 2015 wiederholte sich das. 2016 zogen per Saldo fast 5000 Deutsche aus Hamburg weg – und mehr als 25.100 Ausländer zu.

Zudem beschäftigt ein Phänomen aus den USA schon die Investoren: Dort verlassen die „Young Urban Professionals“ New York und ziehen den Hudson hinauf. Auch in Deutschland lockt es die digitalen Eliten aufs Land. Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb kürzlich über die „Stadtflucht der Nerds“. Vielleicht ist die Landidylle, die sich derzeit vor allem in „Landlust“-Abos und Fahrten ins Blaue erschöpft, in Wahrheit ein Indiz für einen beginnenden Wertewandel?

Dahinter stecken vielfältige Gründe – und alle hängen zusammen. Zunächst einmal ist es der Markt: In dem Maße, in dem Wohnungen und Mieten jedes Jahr deutlich teurer werden, wird ein Umzug ins Umland attraktiver. In dem Maße, in denen Stadt zunehmend chaotisch, stressig oder fremd erscheint, verliert das Heimelige, Heimatliche, Weltabgeschiedene sein provinzielles Hautgout. All das, was den Alltag in der Stadt erschwert, lässt das Land in rosigerem Licht erstrahlen. Wo die Wiese betoniert wird und Bäume verschwinden, wird der Wald plötzlich ein Sehnsuchtsort. Wo Dreck und Stress um sich greifen, wächst das Bedürfnis nach Reinheit und Ruhe. Und wenn der Ramadan den Alltag im Kiez prägt, scheint manchem gar das deutschtümelnde Schützenfest plötzlich attraktiv.

Die Digitalisierung verändert alles – auch das Landleben

Die Digitalisierung relativiert die kurzen Wege, die stets das Königsargument der großen Metropolen waren. Dank schneller Datenleitungen ins Großraumbüro können viele Beschäftigte bald bequem von zu Hause aus arbeiten. Sogar der Superstau verliert seinen Schrecken, wenn das autonome Fahren zum Alltag wird. Wenn das eigene Elektrofahrzeug uns am Stau vorbei ins Büro chauffiert, wird Pendeln sexy. Wen stört noch, dass der nächste Laden Kilometer entfernt liegt, wenn der Einkauf mit dem nächsten Klick frei Haus kommt?

Noch mag für die Renaissance des Landes die kritische Masse fehlen – viele Dörfer schrumpfen weiter, Vereine sterben, Kneipen schließen, Busse fahren nur unregelmäßig, Kitas und Ärzte fehlen, das Krankenhaus ist weit. Wenn die Stadtflucht sich aber verstetigt, drehen die Strukturen ins Positive. Die ersten Gewinner sind Kleinstädte der Metropolregionen in attraktiver Lage. Hier wächst die Bevölkerung seit Längerem.

Das Wachstum der einen aber bremst das Wachstum der anderen. Die zwei oder gar 2,2 Millionen Hamburger könnten am Ende eine so falsche Pro­gnose sein wie die Unregierbarkeit der Städte.