Hamburg. Die Hansestadt wächst und verändert sich. Das Abendblatt wagt einen Ausblick für die wichtigsten Bereiche des öffentlichen Lebens.

Es war nur ein Halbsatz, aber er hat eine neue Debatte ausgelöst: Auf die Frage im Abendblatt-Interview, wie viele Einwohner Hamburg denn vertragen könne, hatte SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf gesagt: „Die Prognosen gehen von bis zu zwei Millionen Einwohnern aus, aber auch 2,2 Millionen Einwohner könnte Hamburg vertragen.“ Grünen-Fraktionschef Anjes Tjarks, der bei dem Gespräch ebenfalls dabei war, hatte zwar betont, Hamburg werde eine „grüne Stadt am Wasser“ bleiben, doch auch er hatte sich aufgeschlossen gegenüber weiterem Zuzug gezeigt – damit war der 2,2-Millionen-Geist aus der Flasche.

Kritiker ignorieren zwar gern, dass weder SPD noch Grüne eine bestimmte Einwohnerzahl als „Ziel“ ausgegeben haben, sondern es nur um eine mögliche Entwicklung ging. Doch da die angesichts des starken Zuzugs nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, hat das Abendblatt recherchiert: Wie würde Hamburg mit 2,2 Millionen Einwohnern aussehen? Wie würden sich Wohnungsmarkt, Verkehr, Umwelt, Bildungseinrichtungen und medizinische Versorgung und die Finanzlage verändern?

Um mit glatten Zahlen operieren zu können, sind wir von 400.000 zusätzlichen Einwohnern ausgegangen. Ein Vergleich noch vorab zur Einschätzung: Während in Hamburg (1,82 Millionen Einwohner/755 Quadratkilometer Fläche) im Schnitt 2400 Menschen auf einem Quadratkilometer wohnen, sind es in Berlin (3,6 Millionen/892 Quadratkilometer) gut 4000, und in München (1,5/310) sogar mehr als 4800. Allerdings haben diese beiden Städte keinen Hafen mit großen unbebaubaren Flächen.


Immobilienmarkt
2,2 Millionen Einwohner – wie soll das funktionieren auf einem schon jetzt engen Wohnungsmarkt? Die Prognose der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen bis 2020 sieht bislang vor, dass Hamburg bis 2030 um 100.000 Einwohner wächst. Dafür seien 70.000 neue Wohnungen erforderlich. Würde die Einwohnerzahl aber um 400.000 steigen, wären rechnerisch also 280.000 neue Wohnungen erforderlich. Schreibt man hingegen die aktuelle Belegungsdichte fort (bei 938.592 Wohnungen etwa zwei Menschen pro Wohneinheit), bräuchte man „nur“ 200.000 zusätzliche Wohnungen.

Selbst wenn es gelingen würde, so viel Wohnraum durch die Ausweisung von neuen Baugebieten und Nachverdichtung zu schaffen (mehr dazu unter Stadtentwicklung), bliebe ein großes Problem: Wer kann diese Wohnungen noch bezahlen? SPD-Fraktionschef Kienscherf setzt sich dafür ein, noch mehr als 10.000 Wohnungen pro Jahr zu bauen, räumt aber auch ein: „Selbst wenn wir 12.000 Wohnungen schaffen würden, würde es nicht dazu führen, dass der Wohnungsmarkt mit einem Schlag entlastet sein wird. Das wird eine längere Strecke.“

Zuzüge aus dem Ausland

Laut Analyse & Konzepte, einer Beratungsgesellschaft für Wohnen, Immobilien und Stadtentwicklung, wächst Hamburg derzeit vor allem durch Zuzüge aus dem Ausland. Da viele Migranten unterdurchschnittlich verdienen, steige schon jetzt der Nachfragedruck bei günstigem Wohnraum.

„Wer sich vorstellen kann, dass künftig bis zu 2,2 Millionen Menschen in Hamburg leben werden, muss dazu die richtige wohnungspolitische Agenda entwickeln“, sagt Andreas Breitner, Direktor des Verbands norddeutscher Wohnungsunternehmen (VNW). Deren Kern, da ist er sich mit der Politik einig, sollte darin bestehen, das Angebot an bezahlbaren Wohnungen zu erhöhen. „Wir brauchen eine Abkehr vom freien Spiel der Kräfte“, sagt Breitner.

Er fordert, dass die Stadt öffentliche Grundstücke verbilligt an jene Unternehmen verkaufen soll, die bezahlbare Wohnungen nicht nur errichten, sondern dann auch über Jahrzehnte für kleines Geld vermieten: „Eine Niedrigmietgarantie sollte künftig die Voraussetzung sein, wenn man ein öffentliches Grundstück erhält. Die im VNW organisierten Wohnungsgenossenschaften und Wohnungsgesellschaften sind der Garant dafür, dass solche Wohnungen geschaffen werden.“ Von der Mietpreisbremse hält Breitner dagegen nichts. Diese sei ein bürokratisches Monster, dadurch entstehe nicht eine einzige bezahlbare Wohnung. Der Mieterverein zu Hamburg plädiert dagegen für eine weitere Verschärfung der Mietpreisbremse.

Acht-Euro-Programm des Senats

Mit großer Spannung beobachtet die Branche derzeit das Acht-Euro-Programm des Senats. Besonders günstige Neubauten - das könnte eine Waffe im Kampf um bezahlbaren Wohnraum sein, sollte die Stadt stark wachsen. In Bramfeld und in Neugraben-Fischbek entstehen derzeit 200 Wohnungen, die fünf Jahre nicht mehr als acht Euro pro Quadratmeter Kaltmiete kosten dürfen. Allerdings gelingt dies nur mit Abstrichen bei den Standards, etwa durch den Verzicht auf ein zweites Bad und einen Aufzug.

Sönke Struck vom Bundesverband Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen hält dies angesichts der demografischen Entwicklung für einen Fehler: „In 20 Jahren werden die Mieter noch einmal älter sein als jetzt.“ Er plädiert für die Rückkehr zur 2002 abgeschafften Fehlbelegungsabgabe für Mieter, die weiter in einer öffentlich geförderten Wohnung leben, obwohl sie inzwischen sehr gut verdienen. Damit würde auch der Druck wachsen, diese Wohnung für einen Gering- oder Normalverdiener zu räumen.

Einig sind sich alle Immobilienunternehmen, dass die Auflagen entschärft werden müssen. Es sei zwar wichtig, die öffentliche Infrastruktur zeitgleich mit den neuen Wohnungen zu errichten, sagt Breitner: „Allerdings muss die Stadt davon Abstand nehmen, Wohnungsunternehmen mit den Kosten zu belasten. Wer auch noch für eine Schule, eine Kita oder die Quartiersstraße bezahlen muss, kann am Ende nur wenig bezahlbare Wohnungen vermieten.“

Für Struck sind die Baukosten das entscheidende Problem. Immer neue Auflagen, vor allem in Sachen Energiesparen, würden jeden Neubau teurer machen: „Wir verpulvern dort das Geld, das wir im Wohnungsbestand bräuchten, dort sind die Einsparpotenziale beim Thema Energie viel größer.“

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Stadtentwicklung

Das Ziel war schon bei der Stellenausschreibung präzise formuliert: „Die Umsetzung des Wohnungsbauprogramms des Senats mit dem Ziel, 10.000 neue Wohnungen zu schaffen.“ Hamburgs neuer Oberbaudirektor Franz Josef Höing kannte also schon bei seiner Bewerbung das ambitionierte Ziel. Mit entsprechender Verve wirbt Höing derzeit für geplante neue Quartiere, etwa in Oberbillwerder mit knapp 7000 geplanten Wohnungen.

Nur: Bislang galt die Prognose von 100.000 Einwohnern mehr bis 2030. Bei einem Anstieg um 400.000 Bürger – natürlich nicht bis 2030, sondern irgendwann in ferner Zukunft – müsste Hamburg seine Neubauanstrengungen entweder verstärken oder für viele weitere Jahre aufrecht erhalten. Zu bedenken ist dabei auch, dass auch Wohnungen abgerissen werden. Der Wohnungsbestand wuchs 2016 laut Statistikamt netto nur um 7369 Wohnungen.

Lösung könnten die Magistralen sein

Höing sieht in einer Studie in Hamburg ein Potenzial von insgesamt 130.000 neuen Wohnungen: 70.000 Wohnungen in der inneren Stadt, 40.000 in den sogenannten Fokusräumen, im Westen, im Norden und im Süden sowie 20.000 in den äußeren Lagen. Sollte die Einwohnerzahl auf 2,2 Millionen ansteigen, würden dann aber immer noch bis zu 150.000 Wohnungen fehlen.

Eine Lösung könnten die Magistralen sein, also Wohnungsbau an den stark befahrenen Hauptstraßen. Nach Schätzung des Grünen-Stadtentwicklungspolitikers Olaf Duge könnten hier in den kommenden 15 Jahren bis zu 100.000 Wohnungen entstehen, eben dort, wo heute etwa Flachdach-Discounter mit Parkplätzen viel Platz verbrauchen. Anwohner dieser großen Straßen würden künftig weniger belastet, sagt Duge: „In zehn bis 15 Jahren wird Mobilität nicht mehr mit stinkenden Dieseln funktionieren.“ Doch auch hier bleibt ein Kernproblem: Inzwischen stößt fast jedes Bauprojekt auf Widerstand. Die Devise heißt: Bauen ja, aber bitte nicht in meiner Nähe.

Während der Naturschutzbund mit einer Volksinitiative den „Flächenfraß durch Wohnungsbau“ stoppen will (mehr im Kapitel Umwelt), plädiert der Mieterverein in Sachen Stadtplanung für das Bekenntnis zum Geschosswohnungsbau: „Auf einen Hektar Land passen 20 Einfamilienhäuser – aber 250 Wohnungen im Geschosswohnungsbau. Dem muss man Rechnung tragen. Wohnblöcke mit begrünten Flachdächern, hochwertig bepflanzten Innenhöfen mit kleinen Wasserflächen, mit Bäumen in den Zwischenräumen und am Straßenrand können ökologisch wertvoller sein als ein überdüngtes Maisfeld oder der Rollrasen bei manchem Kleingärtner.“

Vor allem auf den Autobahnen und im Hafen – hier auf der Köhlbrandbrücke – sind Staus
schon heute an der Tagesordnung. Das Problem würde sich verschärfen
Vor allem auf den Autobahnen und im Hafen – hier auf der Köhlbrandbrücke – sind Staus schon heute an der Tagesordnung. Das Problem würde sich verschärfen © picture alliance



Verkehr

Wo mehr Menschen leben, entsteht auch mehr Verkehr. Wie viel und welche Art Verkehr entsteht, hängt allerdings nicht allein von der Zahl der Menschen ab, sondern vor allem davon, wo sie wohnen und arbeiten. Wer nahe am Arbeitsplatz lebt, geht zu Fuß ins Büro, zunehmendes Homeoffice reduziert die Verkehrsbelastung ebenfalls – und der Anschluss neuer Wohngebiete an das U- und S-Bahnnetz verringert den Autoverkehr. Klar ist aber, dass ein Anstieg der Bevölkerung um rund 22 Prozent auf 2,2 Millionen Einwohner auch Straßen, Radstrecken und den öffentlichen Personennahverkehr stark herausfordern würde. In all diesen Verkehrssegmenten werden ohnedies seit Jahren bereits starke Zuwächse verzeichnet.

Die Zahl der in Hamburg gemeldeten Pkw lag zuletzt mit 783.000 auf einem neuen Höchststand – obwohl Autos im Innenstadtbereich immer seltener genutzt werden, also in der Regel 23 Stunden am Tag meist städtische Flächen als Parkplatz brauchen. Würde man davon ausgehen, dass die Zahl der Pkw proportional zur Bevölkerung weiterwächst, so würde man sich mit mehr als 955.000 Autos schon fast der Millionengrenze nähern. Wo all diese Pkw stehen und fahren sollen, ist derzeit unklar. Schon jetzt gehört Hamburg nach unterschiedlichen Studien immer wieder zu den Städten mit den meisten Staus in Deutschland.

Hinzu kommt: In eng bebauten Vierteln wie Hoheluft Ost gibt es schon heute weniger legale Parkplätze als angemeldete Pkw. Die Folge: Fuß- und Radwege und Kreuzungen werden zugeparkt, was nicht nur andere Verkehrsteilnehmer behindert, sondern auch Unfallrisiken erhöht. Da der Senat die Stellplatzpflicht bei Neubauten abgeschafft hat, dürfte eine weitere Nachverdichtung dieses Problem massiv verschärfen.

Bausenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD) kurbelt
den Wohnungsbau an. Umweltsenator Jens Kerstan
(Grüne) sieht das Wachstum kritisch
Bausenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD) kurbelt den Wohnungsbau an. Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) sieht das Wachstum kritisch © HA | Mark Sandten

Geradezu dramatisch könnte die Belastung durch den Lkw-Verkehr werden. Der steigt nach den jüngsten Prognosen zwischen 2014 und 2025 sowieso schon um mehr als 40 Prozent. Zwar ist er vor allem an die Hafenwirtschaft gekoppelt. Ein zusätzliches Bevölkerungswachstum dürfte die Lieferverkehre gleichwohl auch in der gesamten Stadt noch einmal deutlich verstärken.

Hochbahn, Bahn und HVV haben zuletzt bereits immer neue Fahrgastrekorde im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) in Hamburg und der Metropolregion verzeichnet. 780,7 Millionen Fahrgäste registrierte der HVV im vergangenen Jahr im Gesamtbereich, im Jahr 2013 waren es noch 728,6 Millionen. Rechnet man 400.000 Hamburger hinzu, käme man womöglich bald auf eine Milliarde HVV-Fahrgäste pro Jahr. Hinzu kommt: Aus ökologischen Erwägungen sollen ja möglichst viele Menschen auf den ÖPNV umsteigen – was in einer immer volleren Stadt schon durch immer weiter zunehmende Staus passieren könnte.

Zusätzliche Haltestellen

Die Antwort auf das ÖPNV-Wachstum sind schon jetzt größere Fahrzeuge, kürze Taktungen, zusätzliche Haltestellen und neue Strecken. Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt sei es, „die geteilte Mobilität weiter zu stärken“, sagt Hochbahn-Sprecher Christoph Kreienbaum. Hier gehe es darum, dass neue Mobilitätsangebote wie Car-
sharing weiter entwickelt und vernetzt werden. „Genau in diese Zielrichtung zeigt das Angebot switchh, das künftig alle relevanten geteilten Mobilitätsformen aufnimmt, vernetzt und für den Kunden leicht zugänglich macht“, so Kreienbaum.

Die klare Erwartung sei, dass diese Mobilitätsformen die Nutzung des privaten Pkw in der Innenstadt nachhaltig reduziert, sagt Kreienbaum. Zudem baue man das „hochleistungsfähige Schnellbahnnetz“ aus – durch die Verlängerung der U 4 oder den Neubau der U 5, „der alleine 150.000 Menschen erstmals einen fußläufigen Zugang zum Schnellbahnsystem ermöglicht“, so der Hochbahn-Sprecher.

Erhöhung der Kapazitäten

Beim zentralen Verkehrsknotenpunkt Hauptbahnhof dürfte ein so massiver Bevölkerungszuwachs einen Um- und Ausbau zur Erhöhung der Kapazitäten nötig machen. Schon jetzt werden 550.000 Menschen pro Tag durch dieses Nadelöhr des Hamburger Nah- und Fernverkehrs geschleust. Damit ist Deutschlands meistfrequentierter Bahnhof auch laut Bahn längst an der Kapazitätsgrenze. Schon jetzt wird geprüft, ob und wie der Bahnhof gen Süden über den Steintordamm erweitert werden könnte. Im Herbst sollen die nötigen Verkehrsstromanalysen und Machbarkeitsstudien vorliegen.

Durch den zunehmenden Verkehr könnte auch die Umwelt stärker belastet werden. Wobei die erhoffte Verkehrswende hin zu mehr E-Mobilität, zu mehr Radverkehr und zu stärkerer ÖPNV-Nutzung zumindest die Probleme bei der Luftbelastung trotz des Bevölkerungswachstums verringern könnte. Beim Lärm ist das nicht automatisch so, zumal Rollgeräusche Studien zufolge bei einem gewissen Tempo lauter sind als Motorengeräusche. Eine durch das Bevölkerungswachstum erzeugte Zunahme des Flug- und Schiffsverkehrs würde ebenfalls beim Thema Lärm und Luft zu Buche schlagen – und zwar negativ.


Umwelt
Da viele Hamburger und auch die Naturschutzverbände wegen des massiven Wohnungsbaus schon jetzt um das Grün in der Stadt fürchten, dürften diese Ängste durch die vom SPD-Fraktionschef angestoßene Debatte noch zunehmen. Denn ein Bevölkerungswachstum um 400.000 Menschen würde letztlich bedeuten, dass man etwa vier Städte mit der Einwohnerzahl von Bremerhaven oder Jena in das begrenzte Hamburger Stadtgebiet zusätzlich hinbauen würde. Dass das ohne weiteren Verbrauch an Grünflächen möglich wäre, glaubt wohl niemand.

„Die Fraktionsvorsitzenden Kienscherf und Tjarks tun so, als ob das Stadtwachstum Schicksal sei oder Hamburg zum Wachsen gezwungen wurde“, sagt der Vorstand des Naturschutzbundes Nabu, Alexander Porschke. „Tatsächlich ist das Wachstum der Stadt seit eineinhalb Jahrzehnten politisches Ziel der Regierenden. Und auch in diesem Interview werden wieder die Chancen angepriesen. Dabei ist doch klar: Ein Zuwachs von mehreren Hunderttausend Einwohnern würde nicht nur die Konkurrenz um bezahlbaren Wohnraum verstärken, sondern auch den Interessenskampf um Grün- und Freiflächen, den Verkehrsraum und die städtische Infrastruktur massiv anheizen.“

Kerstan bleibt skeptisch

Die Folge, so Porschke: „Bezahlbaren Wohnraum zu finden, wird noch schwieriger. Der Druck auf das verbliebene Grün steigt weiter.“ Für den Nabu sind die Aussagen von SPD und Grünen zum Wachstum der Stadt Wasser auf die eigenen Mühlen. In der kommenden Woche will der Nabu seine Unterschriften für seine Volksinitiative zum Grünschutz einreichen. Wenn er mit dem Volksbegehren die nächste Hürde schafft, wird es 2020 parallel zur Bürgerschaftswahl einen Volksentscheid darüber geben, ob der aktuelle Grünanteil in Hamburgs so erhalten werden soll.

Während SPD-Fraktionschef Kienscherf also von 2,2 Millionen Einwohnern spricht und Grünen-Fraktionschef Tjarks sagt, ihm sei vor zwei Millionen „nicht bange, im Gegenteil“, bleibt Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) bei seiner skeptischen Haltung. Er hatte schon im vergangenen Jahr mit seiner Aussage, Hamburg müsse keine Weltstadt sein, eine Debatte angestoßen. Es gehe vor allem um Lebensqualität, nicht um Größe. Deswegen betont er nun noch einmal, dass 2,2 Millionen „keine Ziel- oder Planzahl des Senats“ seien. „Ich persönlich halte eine Zielzahl von 2,2 Millionen Einwohnern nicht für wünschenswert“, so der Umweltsenator.

Hamburgs Schulsystem wächst ohnehin. Bei
2,2 Millionen Einwohnern kämen weitere 40.000
Schüler hinzu
Hamburgs Schulsystem wächst ohnehin. Bei 2,2 Millionen Einwohnern kämen weitere 40.000 Schüler hinzu © picture alliance / dpa


Soziales und Bildung
In einer wachsenden Stadt muss die soziale und die Bildungsinfrastruktur mitwachsen. Da die Schulpflicht gilt, muss Hamburg also Lehrer und Gebäude in ausreichender Zahl zur Verfügung stellen, damit alle Kinder angemessen unterrichtet werden können – ob die Stadt nun 1,8, zwei oder 2,2 Millionen Einwohner hat. Im Prinzip gilt dasselbe Muster für die Plätze in den Kindertagesstätten (Hamburg garantiert einen Rechtsanspruch für die fünfstündige Betreuung) oder zum Beispiel für die Krankenhäuser und die Ärzteversorgung.

Wenn Hamburg tatsächlich 2,2 Millionen Einwohner hätte, würden rund 42.000 Schüler zusätzlich die allgemeinbildenden Schulen besuchen (derzeit sind es knapp 200.000). Die Schulbehörde müsste nach den jetzigen Standards rund 3700 Lehrer und weitere Pädagogen zusätzlich einstellen. Die Mehrkosten belaufen sich auf rund 300 Millionen Euro pro Jahr.

„Da die Stadt über eine Vielzahl von untergenutzten oder leer stehenden Gebäuden verfügt, ist kaum sicher abzuschätzen, wie viele zusätzliche Schulen gebaut werden müssen“, sagt Schulbehördensprecher Peter Albrecht. Einmal angenommen, dass für drei Viertel der neuen Schüler zusätzliche Räume geschaffen werden müssten, müsste die Stadt für Neubau oder Erweiterung von Schulen rund eine Milliarde Euro aufwenden. Es müssten etwa 30 zusätzliche Grundschulen und 20 weiterführende Schulen gebaut werden.

19.600 zusätzliche Kita-Plätze

Kinder im Kindergarten-Alter (bis sechs Jahre) machen derzeit gut 6,5 Prozent der Bevölkerung aus. Bei 400.000 Neubürgern würden also rechnerisch rund 26.000 Kinder hinzukommen. Da im Krippenbereich (bis drei Jahre) nur rund die Hälfte der Kinder einen Platz in Anspruch nimmt, aber im Elementarbereich (drei Jahre bis zur Einschulung) fast 100 Prozent, müssten nach Berechnungen der Sozialbehörde etwa 19.600 zusätzliche Kita-Plätze entstehen, wofür rund 200 neue Einrichtungen und 3600 pädagogische Fachkräfte benötigt würden. So viel zusätzliches Fachpersonal zu finden, hat der Senat schon mit Blick auf die Volksinitiative „Mehr Hände für Hamburgs Kitas“ als nahezu unmöglich bezeichnet. Da die Stadt jeden Kita-Platz durchschnittlich mit rund 10.000 Euro pro Jahr unterstützt, lägen die zusätzlichen Ausgaben bei knapp 200 Millionen Euro pro Jahr. Zum Vergleich: Bislang werden rund 80.000 Kinder in mehr als 1000 Kitas von rund 13.000 Erzieherinnen betreut.

Die Zahl der Kita-Plätze und die Ausgaben dafür
steigen rasant – das würde zunehmen
Die Zahl der Kita-Plätze und die Ausgaben dafür steigen rasant – das würde zunehmen © picture alliance / dpa

Schwieriger ist eine Prognose für die Hochschulen. Da 66.500 der derzeit 101.000 Studierenden zum Studium nach Hamburg zugezogen sind, macht diese Bevölkerungsgruppe selbst einen Teil des Einwohnerwachstums aus. Linear gerechnet, müsste die Zahl der Studierenden bei 2,2 Millionen Einwohnern auf rund 121.000 ansteigen. Hier regelt allerdings das Angebot ein Stück weit die Nachfrage. Ein universitärer Abschluss kostet die Stadt im Schnitt 49.700 Euro, ein Fachhochschulabschluss 25.700 Euro.

Zuzug junger Familien

Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung arbeiten 5120 niedergelassene Ärzte in Hamburg (umgerechnet 3950 Vollzeitstellen). Bei einem Bevölkerungszuwachs um 400.000 auf 2,2 Millionen müssten rechnerisch bei gleichem Versorgungsstandard 6400 Ärzte (4940 Vollzeitstellen) in ihren Praxen Patienten behandeln. Abgesehen davon, dass die Ausbildungskapazitäten erhöht werden müssten, würde es zehn bis 15 Jahre dauern, bis die Ausbildung beendet und Nachwuchsärzte für die Versorgung zur Verfügung stünden.

Die Gesundheitsbehörde geht davon aus, dass ein Anstieg der Bevölkerung auf 2,2 Millionen Menschen im Krankenhausbereich im Wesentlichen durch Ausbau der Kapazitäten an vorhandenen Standorten gedeckt werden könnte. „Es ist davon auszugehen, dass der Zuwachs insgesamt zu einer Verjüngung der Bevölkerung führt, etwa durch den Zuzug junger Familien, was zu einer verringerten Inanspruchnahme der Krankenhausbetten führen kann“, sagt Behördensprecher Rico Schmidt. Auch der medizinische Fortschritt führe zu einer Verringerung der Aufenthaltsdauer in Kliniken.

Finanzsenator Andreas Dressel (SPD) freut sich
auch dank der Zuwanderung über steigende
Steuereinnahmen
Finanzsenator Andreas Dressel (SPD) freut sich auch dank der Zuwanderung über steigende Steuereinnahmen © HA | Marcelo Hernandez


Finanzen
Das Bevölkerungswachstum sorgt für steigende Einnahmen der Stadt: Im Durchschnitt 4000 Euro pro Jahr spüle jeder Neubürger an zusätzlichen Steuern in die Stadtkassen, hatte die Finanzbehörde 2017 auf Anfrage des Abendblatts ermittelt. „Durch das Wachstum der Einwohnerzahl kann die Stadt mehr von ihrem Steueraufkommen behalten“, betonte der damalige Finanzsenator und heutige Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD).

400.000 Neubürger würden also rechnerisch für Mehreinnahmen von 1,6 Milliarden Euro pro Jahr sorgen. Zum Vergleich: Derzeit nimmt Hamburg rund 11,5 Milliarden Euro pro Jahr an Steuern ein, 2022 sollen es 13,5 Milliarden sein.

Mehreinnahmen gibt es vor allem bei der Lohn- und Einkommensteuer, die jeweils dem Bundesland zugeordnet werden, in dem der Steuerpflichtige wohnt (und nicht dem, in dem er arbeitet), bei der Umsatzsteuer sowie über den Länderfinanzausgleich – der vor allem auf Basis der Einwohnerzahl berechnet wird. Hinzu kommen indirekte Effekte, weil Neubürger auch für mehr Konsum und Nachfrage in allen Bereichen sorgen – und so Jobs sichern und für neue sorgen.

Im Gegenzug verursachen mehr Bürger natürlich auch höhere Kosten. Nach Einschätzung Professor Alkis Otto vom Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut HWWI sinken bei steigender Bevölkerungszahl allerdings die Infrastrukturkosten pro Kopf. Etabliert habe sich die Faustformel, wonach ein Prozent Bevölkerungswachstum nur 0,8 Prozent höhere Ausgaben für Infrastruktur nach sich zieht.

Abgesehen von solchen grundsätzlichen Betrachtungen, hängt es natürlich immer vom Einzelfall ab, ob Neubürger die Stadt finanziell stärken oder eher schwächen. Ein arbeitsloses Paar mit schulpflichtigen Kindern verursacht – rein finanziell betrachtet – zunächst vor allem Kosten, gut verdienende Singles spülen dagegen viel Geld in die Stadtkasse.

Hier wie da gilt also: Ob Wachstum für die Stadt eher Segen oder Fluch ist, lässt sich nicht pauschal beantworten.