Hamburg. Kippen und Fäkalien im Kinderwagen: Weil Familie Hill keine bezahlbare Alternative findet, verlässt sie Hamburg.
Als Familie in Hamburg in guter Lage eine bezahlbare Wohnung zu finden, ist für viele wie ein 6er im Lotto. Familie Hill hatte dieses Glück bei der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Im Dezember 2016 zogen Schauspieler Manuel Hill ("Fischer sucht Frau", ARD), seine schwangere Frau Malve und der kleine gemeinsame Sohn in eine Altbauwohnung am überaus beliebten Abendrothsweg in Hoheluft-Ost: Drei Zimmer mit Wohnküche im vierten Stock. 910 Euro warm. Alles schien perfekt. Dass ihr neues Leben in dem hübschen Zwölfparteienhaus nur wenige Wochen später zu einem Albtraum wird, ist für das Paar auch heute noch kaum zu fassen.
„Wir waren überglücklich, als wir die Zusage für die Wohnung bekommen haben“, sagt Manuel Hill. Bei der Besichtigung seien viele Interessenten gewesen, die durchaus besser aufgestellt gewesen seien als sie. Der Familienvater hatte gerade erst seine Schauspielausbildung abgeschlossen, seine Frau war mit dem zweiten Kind schwanger. „Wir haben der Hausverwaltung einen Brief geschrieben, und geschwärmt, wie gut uns die Wohnung gefällt“, sagt der heute 32-Jährige.
Kurz nach dem Einzug der erste Schock
Bei der Technischen Haus- und Grundstücksverwaltung Horst Günther Jonca punktete die Familie mit dem persönlichen Schreiben. Familie Hill investierte in das neue Zuhause, kaufte viele neue Möbel. „Es war ein perfekter Start“, sagt Manuel Hill. Die Geburt ihres zweiten Sohnes im Februar 2017 rundete das Glück ab. „Wenige Wochen darauf kam der erste Schock“, erinnert sich der 32-Jährige.
Als das Ehepaar ihr Neugeborenes in den Kinderwagen legen will, der mit Genehmigung der Hausverwaltung unten im Hausflur steht, liegt auf dem Kopfpolster eine Hand voll alter Zigarettenstummel. „Wir waren entsetzt und fassungslos“, sagt Hill. „Was ist das für ein Mensch, der einem noch nicht mal sieben Wochen alten Säugling so schaden will?“
Nachbarn haben nichts bemerkt
Der Vorfall im April 2017 ist nicht der erste. Bereits zuvor hatte sich jemand an dem Kinderwagen zu schaffen gemacht, ihn einfach nach draußen vor die Tür gestellt oder ein Büschel Harre in die Babyschale gelegt. Manuel Hill wendet sich an die Hausverwaltung, hängt im Flur einen Zettel für die Nachbarn auf und fragt diese auch direkt, ob sie etwas Verdächtiges gesehent haben – doch diese versichern, nichts bemerkt zu haben.
„Wir haben die Mieter in dem Haus angeschrieben und darauf hingewiesen, dass dem Verursacher – sollte uns dieser bekannt werden – eine fristlose Kündigung seiner Wohnung droht“, sagt Horst Günther Jonca von der Hausverwaltung, der auch persönlich mit den Mietern Kontakt aufnahm.
Der Vorfall habe ihm für die Familie sehr leidgetan, sagt Jonca. „So etwas hat es in dem Haus in all den Jahren nicht gegeben. Hier sind schon andere Kinder groß geworden, es ist kein kinderfeindliches Haus.“ Dass Nachbarn den Hills erzählt haben, dass einer anderen Familie vor einigen Jahren der Kinderwagen im Flur zertreten worden sein soll, davon weiß Jonca nichts.
Verdeck aufgeschlitzt, mit Urin durchnässt
Als die Hills in das Zwölfparteien-Haus ziehen, sind sie die einzige Familie mit kleinen Kindern. Viele Mieter wohnen schon seit zig Jahren dort. Ein Problem sieht das Ehepaar darin nicht. Anfangs. „Leider wurde uns jedoch ziemlich schnell klar, dass wir hier nicht bleiben können“, sagt Manuel Hill. Denn die Anschläge auf den Kinderwagen häufen sich. Immer wieder findet die 29-jährige Mutter den Kinderwagen völlig durchnässt vor, auch mit Urin wird der Wagen beschädigt. Ein anderes Mal entdecken die Hills ein mit Kot beschmiertes Taschentuch im Wagen, dann ist das Verdeck des Wagens aufgeschlitzt.
Manuel Hill erstattet mehrere Anzeigen wegen Sachbeschädigung bei der Polizei – aber die Verfahren werden alle eingestellt. „Weil der Täter nicht ermittelt werden konnte“, heißt es in den offiziellen Schreiben der Staatsanwaltschaft, die dem Abendblatt vorliegen. Auch einen Nachbarn, den er verdächtigt, nennt Hill der Polizei. „Er hatte mich zuvor im Treppenhaus aufgefordert, den Kindern, die eine Katastrophe seien, den Mund zuzuhalten, weil sie zu laut seien“, sagt der Familienvater. Doch auch dieser Hinweis führt zu nichts. Da die Haustür zur Straße stets verschlossen ist, kommt aller Wahrscheinlichkeit nur ein Mieter im Haus als Täter infrage. Aber wer die Familie rausmobben will, ist bis heute unklar.
Videoüberwachung nicht möglich
Manuel Hill bittet die Hausverwaltung, den Flurbereich mit einer Videoüberwachung auszustatten. Aus Datenschutzgründen ist das jedoch nicht möglich. „Die Polizei hingegen dürfte mit Genehmigung des Vermieters eine nur auf den Kinderwagen gerichtete Kamera im Flur installieren“, sagt Siegmund Chychla, Geschäftsführer vom Mieterverein zu Hamburg. Dies ist jedoch nie geschehen.
Familie Hill ist verzweifelt. Sie fühlt sich unerwünscht in dem Haus. Hat Angst davor, was als nächstes passieren wird. „Wir schätzen den Täter so skrupellos ein, dass er vor nichts zurückschreckt“, sagt Manuel Hill. Wenn seine Frau Malve mit den Kindern und schweren Einkaufstüten nach Hause kommt, bringt sie als erstes die Kinder hoch. Alleine im Treppenhaus würde die Mutter ihre Söhne nicht lassen.
Monatelang suchen die Hills nach einer neuen Wohnung in Hamburg. Doch irgendwann geben sie die Hoffnung auf. Sie beschließen ins Ruhrgebiet zu ziehen, nach Gladbeck – die alte Heimat von Malve Hill. Bis dahin tragen sie den Kinderwagen jeden Tag bis in den vierten Stock.
Paradebeispiel für Intoleranz
„Eine Familie, die aus einem Mehrfamilienhaus rausgeekelt und dann auch noch aus Hamburg vertrieben wird – das ist wirklich ein starkes Stück“, sagt Siegmund Chychla vom Mieterverein zu Hamburg. „Das ist leider das Ergebnis einer Gesellschaft, die nur auf sich fixiert ist, und ein Paradebeispiel dafür, wie intolerant unsere Gesellschaft ist.“ Kindergeräusche im eigenen Haus würden inzwischen viele Menschen als unerträgliche Belastung empfinden.
Dabei leben ohnehin nur noch in 17 Prozent aller Hamburger Haushalte schulpflichtige Kinder. „Diese Gruppe gehört zu einer Minderheit“, sagt Chychla. Auf dem Wohnungsmarkt hat es diese Minderheit oft schwer. „Vermieter haben allgemein nichts gegen Kinder, präferieren aber häufig andere Mieter, weil sie Konflikte mit anderen Mietern im Haus fürchten – etwa wegen Kindergeräuschen.“
Familien, denen Ähnliches widerfährt, rät er, die Mehrheit der Nachbarn auf ihre Seite zu ziehen. „Falls sie jemanden bestimmtes verdächtigen, sollten sie offensiv auf denjenigen zugehen“, sagt der Geschäftsführer des Mietervereins. Sie sollten ihn jedoch nicht mit ihrem Verdacht konfrontieren, sondern lieber fragen, ob er etwas Verdächtiges beobachtet habe. „Zudem können Betroffene den Mieterverein um Rat fragen und die Presse informieren, um Öffentlichkeit herzustellen“, sagt Chychla.
Risiko für Täter ist gering
Ein großes Problem ist, dass diese Fieslinge, die Familien aus dem Haus ekeln wollen, kaum ein Risiko eingehen, sagt der Experte. Selbst wenn dieser enttarnt würde, sei eine fristlose Kündigung nicht zwangsläufig wirksam. Siegmund Chychla appelliert vor allem an die Mitglieder der Hausgemeinschaft: „Diese sollten sich mit betroffenen Mitmietern solidarisch erklären.“ Chychla: „Denn zu einem Leben in einem Mehrfamilienhaus gehört auch, dass dort Kinder geboren werden und aufwachsen.“
Familie Hill nützen diese Tipps nichts mehr. Sie haben bereits gekündigt und die Umzugskartons gepackt. Am Montag ziehen Manuel und Malve Hill mit ihren Söhnen nach Gladbeck. Mitte Mai ist die Wohnungsübergabe. Zwar wäre eine Kündigung des Mietverhältnisses erst zum 31. Juli möglich, aber die Vermieterin kommt der Familie entgegen.
„Wir bemühen uns, so schnell wie möglich einen Nachmieter zu finden“, sagt Horst Günther Jonca von der Hausverwaltung. Er sei zuversichtlich, dass die Wohnung schnell wieder vermietet sei. „Es ist schade, wenn ein Mietverhältnis so zu Ende geht“, sagt er. Aber was Familie Hill in dem Haus widerfahren ist, sei ein Einzelfall. Wer dafür verantwortlich sein könnte, ist ihm ein Rätsel. Jonca: „Ich kenne keinen Mieter im Haus, dem ich das zutrauen würde.“
Ob Manuel Hill je erfahren wird, wer das Glück seiner Familie im Abendrothsweg zerstört hat, ist unwahrscheinlich. Offen ist ebenso die Frage, ob eine andere Familie mit kleinen Kindern in dem Haus ihr Glück finden wird.