Hamburg. Genossenschaft und Grundstücksverwaltung planen günstige Wohnungen, aber: ohne Fahrstuhl, ohne zweites Bad.

Als Holger Fehrmann die rot markierte Baustellenausfahrt sieht, ist es mit seiner guten Laune vorbei: „Das kostet uns einen Tausender.“ Auch Claus-Dietrich Scholze, sein Vorstandskollege beim Wohnungsverein 1902 zu Hamburg, schimpft: „Was soll das? Das braucht kein Mensch.“ Für den Abendblatt-Fotografen halten die beiden Vorstände dann doch lächelnd das Werbeschild in die Kamera. Es zeigt neun Klinkerbauten, die vom Sommer an am Bramfelder Dorfgraben entstehen werden – ein Neubauvorhaben mit 154 Zwei-, Drei- und Vierzimmerwohnungen für 33 Millionen Euro.

Angesichts dieser Investition scheinen die 1000 Euro, die der optisch gelungene, aber technisch gesehen wohl sinnfreie Austausch von Pflastersteinen gegen roten Asphalt gekostet hat, kaum der Rede wert. Aber wer ein Projekt wie Fehrmann und Scholze stemmt, muss nicht nur mit dem Cent rechnen, er muss ihn quasi röntgen. In Zeiten, wo Immobilienpreise nach oben keine Grenze mehr kennen, wollen die beiden Vorstände für gerade mal 8 Euro Miete pro Quadratmeter bauen. Selbst bei einem Mieterwechsel dürfen sie in den ersten fünf Jahren die Miete nicht erhöhen, Staffelmieten sind sogar auf 15 Jahre ausgeschlossen, die Umwandlung zu Eigentumswohnungen bleibt gänzlich verboten.

Alle Standards auf den Prüfstand stellen

Wie soll das gehen? Ohne einen Euro öffentlicher Förderung? Die Antwort liegt auf dem Konferenztisch der Wohnungsgenossenschaft und ist 135 Seiten dick – die Bewerbung um das Neubauvorhaben Bramfelder Dorfgraben. Fehrmann blättert in dem Werk und deutet auf einen kurzen Satz: „Viele Details führen zum großen Ergebnis.“ Der Leitgedanke des gesamten Projekts.

Denn wer so günstig bauen will, müsse alle Standards auf den Prüfstand stellen und sich auch von Liebgewordenem trennen, sagt Scholze. Wie kann man noch preiswerter werden, ohne dass die Wohnqualität leidet? Mit ihrem Partner, der Grundstücksverwaltung Karl Danger, haben die Vorstände jeden Stein umgedreht, bevor er überhaupt verfugt wurde.

Viele Einsparungen werden Laien kaum erkennen, wenn die ersten Mieter wie geplant zum Jahreswechsel 2019/ 2020 einziehen sollen. „Das Zauberwort heißt standardisieren“, sagt Fehrmann. Alle Bäder, alle Küchen, alle Fenster sind identisch, es gibt keine Erker, keine Vorsprünge. Das spart nebenbei auch Zeit – und damit wieder Geld, da zum Beispiel die Baustelle kürzer eingerichtet werden muss.

Wohnungen nicht barrierefrei

Aber extra günstig geht nicht ohne Abstriche beim Komfort. Nur fünf der neun Gebäude haben einen Keller, wer also in einem der vier anderen Gebäude wohnt, muss zu seinem Abstellabteil ins Nachbarhaus. Mehr nerven dürfte zumindest größere Familien, dass es in jeder Wohnung nur ein Bad mit einer Toilette gibt – da kann das Warten lang werden, wenn sich die pubertierende Tochter für ihr Rendezvous fein macht. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass sich viele neue Bewohner, die jetzt noch in Wohnungen aus den 1950er-Jahren leben, über den Komfort eines modernen Bades freuen werden. Den Bodenbelag zahlen die Mieter selbst, sie können entscheiden, ob Laminat, Teppichboden oder Parkett verlegt werden.

Ein anderer Punkt der Sparliste wird indes noch für Diskussionen sorgen. Während überall in Hamburg Millionen in die Schaffung von barrierefreiem Wohnraum gesteckt werden, etwa mit Außenfahrstühlen, wird es für die Bewohner am Bramfelder Dorfbogen nicht einen einzigen Lift geben. „Dreigeschossige Häuser funktionieren auch ohne Aufzüge“, sagt der Vorstand.

Ingrid Körner, die Senatsbeauftragte für Inklusion, sieht das anders. Zwar sei es gut, dass Hamburg versuche, für bezahlbaren Wohnraum zu sorgen: „Aber um welchen Preis? Das hat mit fortschrittlichem Wohnungsbau aus meiner Sicht nichts zu tun.“ Eine „nicht gerade kleine Gruppe“ werde ausgeschlossen, ihr werde signalisiert: „Für euch sind diese Wohnungen nicht gedacht, wenn ihr alt werdet oder als jüngere Leute eine Körperbehinderung habt und daher einen Fahrstuhl benötigt.“

Fehlen von Aufzügen vertretbar

Scholze hält dagegen, dass durch die natürliche Fluktuation bei der Genossenschaft Bewohner, die gehbehindert werden, stets in eine Wohnung im Erdgeschoss oder mit Lift wechseln könnten. Es gebe sogar Bewohner, die von sich aus einen Tausch anbieten würden, damit eine Seniorin weiter im Haus bleiben könne.

Auch Dietmar Walberg, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft zeitgemäßes Bauen (Arge), hält das Fehlen von Aufzügen ab und an für vertretbar. Auch der Verzicht auf große Tiefgaragen – am Bramfelder Dorfgraben gibt es nur 31 Plätze für 154 Wohnungen – sei in Ordnung: „Tiefgaragen machen Bauen viel teurer.“ Der Vorstand verweist auf die geplanten Häuschen für 400 Fahrräder, zudem soll 2027 nur 200 Meter entfernt eine Haltestelle der neuen U 5 eröffnet werden. Ausdrücklich lobt Walberg, dass am Bramfelder Dorfgraben alle Gebäude voll verklinkert werden: „Das spart später Kosten für Malerarbeiten an der Fassade.“ Scholz und Fehrmann beteuern, dass bei aller Sparanstrengung die Qualität nicht leiden werde: „Als Genossenschaft setzen wir auf Nachhaltigkeit. Hier werden keine Leitungen auf Mauern genagelt oder Zimmer durch Pappwände getrennt.“

Viele Genossenschaften halten das Projekt für schwierig

Für ihr Projekt haben die Vorstände Rückendeckung von ganz oben. Bauen für 8 Euro zählte zu den Leuchtturmprojekten von Olaf Scholz, auch sein Nachfolger Peter Tschentscher (beide SPD) sprach in seiner Regierungserklärung minutenlang über bezahlbares Wohnen. Entsprechend aufmerksam verfolgt die Branche das ambitionierte Vorhaben „Wir wissen, dass wir uns mit diesem Projekt nicht nur Freunde machen“, sagt Fehrmann.

Das ist noch diplomatisch formuliert. Viele Genossenschaften halten das Acht-Euro-Projekt für schwierig, es werde die Illusion erzeugt, dass dies der Königsweg auf dem Weg zu bezahl­barem Wohnraum sei. „Ich wünsche den Kollegen von 1902 viel Glück bei dem Projekt. Aber ich bin skeptisch“, sagt Monika Böhm, Vorstand des Arbeitskreises der Hamburger Wohnungsgenossenschaften: „Angesichts der enorm gestiegenen Baukosten und der jetzt wieder steigenden Zinsen halte ich eine Miete von nur 8 Euro im Neubaubereich für wirtschaftlich kaum darstellbar.“ Selbst 9 Euro seien nicht realistisch: „Ich sehe derzeit die ganzen Ausschreibungsergebnisse für Neubauten unserer Genossenschaften. Die Preise galoppieren davon.“

Hemdsärmeliger planen

Doch es gibt auch positive Resonanz. „Man kann für 8 Euro den Qua­dratmeter bauen“, sagt Peter Jorzick, geschäftsführender Gesellschafter bei Hamburg Team, einem großen Projekt-entwickler. Ohnehin müsse die Bauwirtschaft lernen, preiswerter zu bauen. Die Planungskosten seien „exorbitant gestiegen“, hinzu kämen immer neue Anforderungen bei der Energieeinsparung oder der Barrierefreiheit. Auch Rechtsstreitigkeiten nach der Fertigstellung erhöhten die Preise, weil sich ein „rechthaberisches Kontrollsystem“ etabliert habe. „Wir müssen wieder hemdsärmeliger planen“, fordert der frühere Chef der Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungsgesellschaft Steg.

Allerdings knüpft Jorzick das Acht-Euro-Projekt an Bedingungen. So dürfe das Grundstück kaum etwas kosten, die Gebäude müssten standardisiert sein und ohne einen eigenen architektonischen Entwurf auskommen. Und man müsse an allen Schrauben drehen, etwa das zweite Badezimmer weglassen und bei Bodenbelägen und Sanitär auf günstige Standards setzen. „Und auch die Bauträger müssten sich mit einem Nullmargenkonzept zufriedengeben.“ Das alles funktioniere also nur in einer Mischkalkulation, wenn von 2000 Wohnungen 500 in einem Billigsegment errichtet werden, und nicht im Herzen der Stadt, sondern eher am Stadtrand.

Ob am Bramfelder Dorfgraben die Rechnung für die Bauherren aufgehen wird, kann seriös noch niemand prognostizieren. Der in der absoluten Niedrigzinsphase kalkulierte Kredit hat sich verteuert, das macht die Kalkulation nicht einfacher.

Der Druck wird wachsen in den nächsten Monaten. Denn zum Vertrag mit dem Senat gehört, dass die Günstig-Bauherren penibel offenlegen müssen, ob sie ihre Kalkulation einhalten konnten. Denn die Stadt plant weitere Acht-Euro-Projekte, am Vogelkamp in Neugraben baut die Helvetia Versicherung zu gleichen Konditionen 42 Wohnungen. Doch selbst Fehrmann warnt vor zu großen Erwartungen: „Fehlende Baukapazitäten und steigende Zinsen erschweren solche Vorhaben.“

Der Wohnungsverein von 1902 zu Hamburg bittet Interessenten, sich auf der Internetseite (www.wv1902.de) zu registrieren. Telefonische Nachfragen würden zum jetzigen Stand noch keinen Sinn machen.