Hamburg. Mit neuem Arztruf soll die Zahl der Patienten in den Hamburger Notaufnahmen deutlich sinken. Am 1. Mai geht es los.
Jederzeit einen Mediziner erreichen – diesen „Arztruf“ gibt es vom 1. Mai an nur in Hamburg. Mit einem deutschlandweit einzigartigem Notdienst-Konzept wollen die niedergelassenen Ärzte der Stadt die Notaufnahmen der Krankenhäuser entlasten. Unter der Telefonnummer 116 117 soll künftig ein Beratungs- und Terminservice mit Arztgarantie geboten werden, und zwar nicht nur außerhalb der Praxisöffnungszeiten, sondern 365 Tage rund um die Uhr. Für Schlaganfälle, Infarkte oder medizinische Notfälle bleibt aber die Rufnummer 112 erste Wahl.
Die neue, schon seit längerem europaweit gültige Rufnummer 116 117 richtet sich vor allem an Kranke, die spontan befürchten, nicht ohne ärztliche Hilfe auszukommen. Statt in die Notaufnahme zu gehen, sollen sie die neue Notfalldienst-Zentrale der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) anrufen, wo sie mit einem Arzt verbunden werden. Mit dessen Expertise soll entschieden werden, ob eine telefonische Beratung reicht, ein Notarzt geschickt wird, der Besuch einer Notfallpraxis sinnvoll ist oder ein Termin bei einem Facharzt vermittelt werden sollte.
Weitere Notfallpraxen sollen folgen
Dabei soll die neue Notruf-Nummer nicht als Terminvermittlung dienen. Die jüngst eingeführten Terminservicestellen der KV haben weiter Bestand. Der neue Notfall-Dienst soll nur für akute Erkrankungen gelten. Darum sollen dort gegebenenfalls auch Empfehlungen für eine der drei Hamburger Notfallpraxen in Altona, Farmsen oder für die Portalpraxis im Krankenhaus Harburg ausgesprochen werden, die dort seit Oktober der Notaufnahme vorgeschaltet ist.
Weitere Notfallpraxen in Reinbek und am UKE sollen noch in diesem Jahr folgen. Dort begutachten Hausärzte die Patienten hinsichtlich dessen, ob sie wirklich sofort Hilfe benötigen. Denn wie eine UKE-Studie zeigt, sind gut ein Drittel aller Patienten und mehr als die Hälfte der Notaufnahme-Kunden, die zu Fuß kommen, dort fehl am Platz. „Diese Portalpraxen werden von der Politik als Allheilmittel zur Entlastung der Notaufnahmen gesehen“, sagte Walter Plassmann, Vorstandsvorsitzender der Hamburger KV, bei der Vorstellung der neuen Nummer. Die KV Hamburg versuche nun die Kombination aus Arztruf und Portalpraxen. Eine massive Werbekampagne soll die Telefonnummer bekannt machen, eine begleitende Evaluation soll den Erfolg oder Misserfolg dokumentieren.
Versicherte verstopfen Notaufnahmen
Dieses Service-Paket biete Potenzial für jährlich 60.000 Hamburger Patienten, hofft die KV. In dieser Größenordnung, hatte eine Studie des UKE ergeben, verstopfen Versicherte jedes Jahr unnötig die Notaufnahmen der Krankenhäuser. Mit dem Arztruf könnten sie sinnvoller versorgt werden. Mit dem neuen Rund-um-die-Uhr-Arztnotruf wollen die Mediziner die überfüllten Notaufnahmen in Krankenhäusern um 30 Prozent entlasten, Patienten mit kleineren Wehwehchen vom „Durchmarsch“ in die Kliniken abhalten.
„Menschen nehmen medizinische Leistungen heute anders in Anspruch als früher“, so Plassmann. „Sie wollen schnelle Hilfe, wenn sie ein Problem haben – auch am Abend, an Feiertagen oder am Wochenende.“ Die Reform des Bereitschaftsdienstes setze genau dort an. Der „Arztruf Hamburg“ soll Patienten künftig dort abholen, wo sie sich befinden, wenn der innere Ruf nach einem Arzt lauter werde – gern auch auf dem Sofa.
Gesundheitssenatorin begrüßt das Angebot
Für dieses Ziel seien erfahrene Arzthelferinnen und Ärzte für die Notdienstzentrale gewonnen worden, so die KV. Finanzielle Anreize in der Startphase sollen auch den erweiterten Fahrdienst, der jetzt 24 Stunden am Tag besetzt ist, attraktiver machen. Die 7-Millionen-Euro-Investition sei auch als Alternative zu den von der Politik geforderten Portalpraxen vor Notaufnahmen zu verstehen.
Länder wie Spanien hätten gute Erfahrungen mit diesem Service gemacht. „Jedem dritten Patienten reicht dort schon das Gespräch mit einem Mediziner“, sagte Plassmann. Sie verlangen danach keine weitere Behandlung.
Nachdem die Krankenkassen Barmer und Techniker bereits ihr Wohlwollen signalisiert haben, begrüßt auch Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) das neue Angebot: „Der Arztruf Hamburg ist ein wichtiger Baustein des abgestuften Notfalldienste-Konzepts, das die Notaufnahmen entlasten soll.“ Von nun an stehe zu jeder Tages- und Nachtzeit eine zusätzliche ambulante ärztliche Hilfe bereit.
Notaufnahmen sollen reformiert werden
Unterdessen sollen die Notaufnahmen der deutschen Krankenhäuser ohnehin radikal reformiert werden. Die Patienten werden in Zukunft deutlich weniger Kliniken haben, in denen überhaupt Notfälle behandelt werden. Das ist das Ergebnis eines Beschlusses, den der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) gefasst hat, das wichtigste Gremium im deutschen Gesundheitswesen. Ihm gehören Krankenkassen, Ärzte, Krankenhäuser und Patientenvertreter an.
Von rund 1800 Krankenhäusern könnten mehr als 600 aus der Notfallversorgung fallen. Denn sie dürften die Kriterien nicht mehr erfüllen, die künftig gelten sollen. Das sind unter anderem ein Internist, ein Chirurg und ein Anästhesist, die binnen 30 Minuten beim Patienten sein müssen, eine Intensivstation mit mindestens sechs Betten und weitere formale Voraussetzungen. Nur dann gibt es auch die entsprechenden Honorare.
Weil auch viele Hamburger Häuser das personell nicht leisten können und deshalb finanzielle Einbußen hinnehmen müssen, prognostizieren Experten dem Abendblatt „ein massives Krankenhaussterben“. In Hamburg nehmen 23 Kliniken an der Notfallversorgung teil. Die meisten werden die neuen Kriterien erfüllen. Ob sich alle noch eigene Notaufnahmen leisten können, ist aber fraglich. Schon im Umland wird die Lage dramatisch. Der G-BA betonte aber, dass auch in ländlichen Gegenden die Versorgung gesichert sei.
Ärztegewerkschaft warnt vor "Kahlschlag"
Für die Hamburgische Krankenhausgesellschaft sagte Geschäftsführerin Dr. Claudia Brase, der Beschluss sei in Teilen „im Blindflug“ erfolgt. „Eine seriöse Folgenabschätzung liegt bis heute nicht vor.“ Auch die konfessionellen Krankenhäuser zeigten sich skeptisch. Der Katholische Krankenhausverband warnte, gerade in ländlichen Gegenden müssten sich Patienten auf längere Wege in die Notaufnahmen einstellen. Der Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, Rudolf Henke (CDU), sprach von einem drohenden „Kahlschlag“.
In Hamburg gibt es neben den beschriebenen Versuchen bereits Projekte, in denen Notfallpraxen mit Krankenhäusern verzahnt werden, zum Beispiel am Marienkrankenhaus. Die Kassenärzte fordern seit Langem, dass Hamburger Krankenhäuser Notaufnahmen schließen, wenn es mehr Hausarztpraxen gibt, die an die Kliniken angeschlossen sind. Der Patient soll dieser Vorstellung nach nur noch an einem Tresen stehen und wird dann ambulant behandelt oder ins Krankenhaus eingewiesen. Experten befürchten, dass die neuen Kriterien dafür sorgen werden, dass die starken Krankenhäuser und die Ketten offensiv mit ihren Notaufnahmen werben.