Hamburg. Vorwurf der Kindeswohlgefährdung gegen Jugendamtsmitarbeiterin. Streit mit Pflegeeltern verschärft sich. Politik schaltet sich ein.
Der Kampf um die Zukunft des schwerbehinderten Pflegekindes Chris nimmt an Schärfe zu. Während der Amtsvormund aus dem Jugendamt Eimsbüttel den 17-Jährigen wohl notfalls gegen seinen Willen in eine Einrichtung bringen will, ging bei der Polizei in Hamburg eine Strafanzeige wegen Kindeswohlgefährdung gegen die Jugendamtsmitarbeiterin ein.
Wie das Abendblatt berichtete, haben Erika (78) und Helmut (81) Krusch fast 18 Jahre lang ihr schwerbehindertes Pflegekind großgezogen. Mit sieben Monaten kam Chris zu ihnen. Es leidet unter einer Cerebralparese, einer bleibenden sensomotorischen Störung infolge der frühkindlichen Hirnschädigung. Chris sitzt im Rollstuhl, seine Gliedmaßen sind gekrümmt, aber er ist geistig rege. „Er bekommt alles mit, was um ihn herum geschieht“, sagt Erika Krusch.
In Hittfeld würde er verkümmern
Nachdem die Amtsvormundschaft vor zwei Jahren wechselte, begann die Auseinandersetzung mit den Pflegeeltern. Nun geht es darum, wo Chris im Sommer untergebracht wird, wenn er von zu Hause auszieht. Er selbst will in das Haus Huckfeld nach Hittfeld, sobald dort ein Platz frei ist. Die Jugendamtsmitarbeiterin will ihn aber in einer Einrichtung in Neugraben unterbringen, die Chris ablehnt. Und die nach Einschätzung vieler Beteiligter ungeeignet ist, weil sie beengt ist und die geistig behinderten Bewohner sich mit Chris nicht verständigen können. „Dort würde er körperlich und emotional verkümmern“, sagt Helmut Krusch.
Dennoch fragt die Vormünderin in einem Schreiben an das Gericht: „Sollte sich Chris verbal durch Schreien (körperliche Gegenwehr ist ihm ja aufgrund der Behinderung nicht möglich) gegen einen Transport in die Einrichtung wehren, benötigen Sie dann Anträge von mir, um Chris trotzdem an den von mir vorgesehenen Ort zu befördern?“
Ein Schreiben, das für helle Empörung sorgt. „Ein Amtsvormund, der sogar Zwangsmaßnahmen gegen ein schwerbehindertes Kind durchführen will, ist weder menschlich noch fachlich geeignet, eine Vormundschaft zu führen“, sagt Birgit Nabert vom Landesverband für Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien in Schleswig-Holstein (KiAP). Sie hat Strafanzeige gegen die Mitarbeiterin wegen Kindeswohlgefährdung erstattet und außerdem beim Amtsgericht Hamburg-Mitte einen Antrag auf Absetzung der Vormünderin. Zudem hat sie bei der Jugendhilfeinspektion eine Kindeswohlgefährdung durch den Amtsvormund angezeigt.
Opposition schaltet sich ein
Der Fall „Chris“ schlägt nun auch im Rathaus Wellen. „Ich frage mich, welche Bedingungen in manchen ASD-Abteilungen herrschen, dass es, von außen betrachtet, zu solch einem eklatanten Verlust fachlicher Einschätzung des jeweiligen Kindeswohls kommen kann?“, sagt Sabine Boeddinghaus.
Die Vorsitzende der Linken-Fraktion in der Bürgerschaft verweist darauf, dass die Stadt auf der einen Seite händeringend Pflegeeltern sucht. „Auf der anderen Seite aber werden offenbar einige seitens der sie betreuenden Jugendämter eher schikaniert, als sie im Sinne der Kinder und Jugendlichen ausreichend gut zu unterstützen.“ Der Fall „Chris“ zeige wieder einmal, wie dringend eine unabhängig arbeitende und mit eigenen Rechten und Befugnissen ausgestattete Ombudsstelle gebraucht werde. „Und wir brauchen eine Debatte darüber, wie die Rahmenbedingungen in den Jugendämtern so entwickelt werden müssen, dass der Blick auf das individuelle Recht eines jeden jungen Menschen stets handlungsleitend ist“, sagt Sabine Boeddinghaus.
Auch Philipp Heißner, CDU-Familienexperte, versteht den Umgang mit dem Ehepaar Krusch nicht, das von der Stadt noch vor dreieinhalb Jahren mit der Medaille für treue Dienste ausgezeichnet worden ist. „Pflegeeltern, die behinderte Kinder bei sich aufnehmen, verdienen unsere besondere Anerkennung und Unterstützung.“
Gerade Amtsvormünder müssten darauf achten, die Wünsche von Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen. „Der Einzelfall ist von außen immer schwer zu beurteilen“, sagt Heißner, „aber wir müssen uns darauf verlassen können, dass Amtsvormünder ausschließlich im Interesse der behinderten Kinder handeln und ihrem Willen so weit wie irgend möglich entgegenkommen. Das sehen auch die Uno-Behindertenrechtskonvention und geltendes deutsches Recht so vor.“
Langjährigen Pflegeeltern die Vormundschaft übertragen
Auch Edda Jacobs von „Freunde der Kinder e.V.“, dem Landesverband Pflege- und Adoptiveltern in Hamburg, ist entsetzt. „Es ist für uns völlig unverständlich, dass der Amtsvormund eine so lebenswichtige Entscheidung über den zukünftigen Lebensort seines Mündels gegen den eindeutig geäußerten Wunsch des jungen Menschen treffen kann.“ Auch in der Wahl der Einrichtung sollte der Wunsch des Jugendlichen unbedingt Gehör finden. „Schließlich muss der junge Mann einen großen Teil seines Lebens dort zukünftig verbringen.“
Aus Besuchen bei Familie Krusch wisse sie, dass die Pflegeeltern alle Fördermöglichkeiten für Chris umgesetzt haben und stets das Wohl des Kindes vor Augen hatten. „Es ist fatal, dass auch in diesem Fall die Pflegeeltern offensichtlich wieder einmal nicht als Experten für ,ihr Kind‘ gelten“, sagt Edda Jacobs. Und dass durch den Wechsel des Amtsvormunds bisherige Entscheidungen und die Zusammenarbeit mit den Pflegeeltern überhaupt infrage gestellt würden. „Wie kann es sein, dass man glaubt, jemand, der Chris einmal im Monat für eine Stunde besucht, könne ihn besser kennen als das Ehepaar Krusch, das ihn schon viele Jahre rund um die Uhr begleitet hat?“
Aus ihrer Sicht ist es notwendig, dass zwischen Pflegeeltern und Amtsvormund eine vertrauensvolle und wertschätzende Zusammenarbeit erfolgt. „Oder noch besser, dass Pflegeeltern bei langjährigen Pflegeverhältnissen, wie auch vom Gesetzgeber vorgesehen, die Vormundschaft übertragen wird.“