Hamburg. Viel passiert beim Musik-Theater-Bilderrätsel „Übermann oder Die Liebe kommt zu Besuch“ ja nicht. Aber das etwa zwei Stunden lang.

Schon möglich, dass sich der eine oder andere Zuschauer nach der Vorstellung besonders freundlich bei der Garderobendame bedankt. Oder vielleicht, im Gegenteil, etwas misstrauisch nach Anzeichen von Renitenz sucht. Rosemary Hardy nämlich, die in dieser Rolle schon strickend und Kaugummi kauend auf der Schauspielhausbühne sitzt, während das Parkett davor sich langsam füllt, hat zum Auftakt der neuen Marthaler-Inszenierung eine sehr hübsche und marthalermäßig entsprechend ausführliche Szene, die das Garderobenritual um eine neue Perspektive erweitert.

Mäntel und Hüte werden zwar freundlichst entgegengenommen, dann aber an nur imaginäre Haken gehängt und auf imaginäre Hutablagen gelegt – also: einigermaßen lieblos ins Nichts fallen gelassen. An der Bühnenrampe türmt sich der von Hardy trocken kommentierte Klamottenhaufen.

Ihre Verachtung gegenüber den eintrudelnden Teilnehmern einer Konferenz unter der Überschrift „Übermann oder Die Liebe kommt zu Besuch“ verbirgt diese Garderobiere eher nicht. Und was passiert? Der angekündigte ­Titel (der sich mit dem Stücktitel deckt), wird kurzerhand eliminiert. ­Wegen plötzlicher starker Sonnenwinde und Teilchenschauer und kosmischer Verschiebungen und so, es ist kompliziert.

Die Herren sind Statisten und verschwinden dann ganz

Zur Folge hat es jedenfalls nicht nur das Abhandenkommen des Titels, sondern auch der Männer. Schwupps. Sie seien nun „außer Reichweite“, verkündet eine digitale Stimme aus dem Off. Stattdessen wird eine Gottheit zur Erde ­geschleudert, die aussieht wie ein bleich geschminkter Clemens Sien­knecht im Morgenmantel und die auch wie er Klavier spielt. „So weit, so gut“, sagt die Computerstimme.

Das ist schon mal ziemlich flott, dass Christoph Marthaler in einem Stück, das sich auf den eigenwilligen französischen Schriftsteller Alfred Jarry (1872– 1907) bezieht, die Herren erst zu Statisten degradiert und dann gleich ganz verschwinden lässt. Nur ein paar schwarze Männerschuhe erinnern noch an ihre Existenz. Und das ätherische Morgenmantel-Wesen am Klavier. Achja, und eine Gestalt (Marc Bodnar) in Shorts und schwarzen Kniestrümpfen, die manchmal durch die Fensterscheiben starrt oder sich auf einem Zeitmaschinen-Fahrrad abstrampelt.

Der exzentrische Jarry, der vom Dichter André Gide als „mehlig gepudert“ und „absonderliche Erscheinung“ beschrieben wird (siehe Sien­knecht), ist der Erfinder der von ihm sogenannten „’Pataphysik“, einer Privatwissenschaft „der imaginären Lösungen“, dem Prinzip Theater also nicht ganz fern. Geschickt ausgewählt, der Regisseur ist so im Weiteren an keine Vorlagen gebunden (als würde er sich darum scheren), sondern kann sich ­genüsslich und unbehelligt von irgendeiner logischen Handlung ganz dem dadaistischen Sprach- und Bilderspiel hingeben.

Samt Zitaten (Gertrude Stein, Nora Gomringer) und verlässlichen Wiedererkennungseffekten für sein Stammpublikum, versteht sich: Die bei Marthaler übliche Langsamkeit, die Wiederholungen, die Ausdehnungen, die feine Musikalität, selbstverständlich die typische Bühne von Marthalers Leib-und-Magen-Ausstatterin Anna Viebrock.

Immer etwas trist, heruntergekommen und verfallen ist das Setting, schon die schrabbeligen Tapeten sind dem ­regelmäßigen Theatergänger und Mar­thaler-Fan so wohlvertraut, dass er sich gleich wohlig angekommen fühlt. Aus der Decke baumelt ein kaputtes Kabel, Regaltresenriegel schieben sich hinein und hinaus, manchmal hocken die Schauspielerinnen auch darin. Die ­geborstene Scheibe oben links: ein optisches Selbstzitat aus der letzten ­gemeinsamen Schauspielhaus-Inszenierung „Die Wehleider“.

Was ist Spuk, was Realität?

Man ist sich eigentlich nie ganz ­sicher, ob das, was in diesem Geisterhaus über zwei pausenlose Stunden ­geschieht, nun wirklich passiert oder ob es hier spukt? Vielleicht ja der an einer Stelle erwähnte „’pataphysische Geist“? Denn: „Der ’pataphysische Geist ist der Nagel im Reifen.“ Siehste mal.

„Übermann oder Die Liebe kommt zu Besuch“ ist nach bewährter Manier eine Feier des skurrilen Humors, ein ­zelebriertes Ernstnehmen der Lächerlichkeit. Marthaler beweist erneut seine Gabe für Assoziationen und lässige Choreografien. Ganz zart und leise singen die Frauen im Chor, mal erklingt Schubert, mal Abba. Zeitlos ist das, „und wer das Brünnlein trinket, wird jung und nimmer alt ...“ Schön auch, wie die Darstellerinnen auf Barhockern verteilt Bewegungsabläufe wiederholen; hin und wieder kippt einer, bei offen stehendem Mund, der Kopf nach hinten.

Diese dem Theaterschlaf nicht ­unähnliche Haltung ist allerdings auch hier und da im Parkett zu beobachten. Man kommt nicht umhin, mit den ­Gedanken abzuschweifen und freut sich immer wieder über die Präsenz von Bettina Stucky, die aus dem insgesamt tollen und vor allem famos heterogenen Damen-Ensemble als wohltuend gegenwärtig heraussticht. Nicht nur, wenn sie die gelackten Männerschuhe anpöbelt, sondern auch, wenn sie nur dasteht und wissend lächelt.

Der Abend ist in vielen Momenten bezaubernd und drollig, aber er zieht sich auch und wird ermüdend. Und man erwischt sich schon bei der Frage, ob das nun ermüdend-ermüdend ist – oder die brillante Nonchalance von Übermann Marthaler. Womöglich von beidem ein bisschen.

Zuschauerstimmen

Sigrid K., 75 Jahre, Winterhude: Ich hab das Stück nicht verstanden. Die schauspielerische Leistung fand ich sensationell, aber das Stück hat mich irgendwie genervt.

Jan Petersen, 33 Jahre, Eimsbüttel: Mir hat es gefallen, es war sehr detailverliebt. Ich muss da noch ein bisschen drauf rumkauen ...

„Übermann oder Die Liebe ...“, u. a. wieder am 2.4., 19.30, und 18.4., 20.00, Dt. Schauspielhaus, Kirchenallee 39 (U/S Hbf.),
Karten 10,- bis 37,- unter T. 24 87 13