Hamburg. Sollen alle angeblich Minderjährigen medizinisch untersucht werden? Kammerspitze sagt Nein – und erntet Kritik aus den eigenen Reihen.
Sind angeblich minderjährige Flüchtlinge wirklich so jung, wie sie vorgeben? Über diese Frage ist nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Ärzteschaft ein heftiger Streit entbrannt. Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, hatte sich gegen verpflichtende Alterstests per Röntgen gestellt – und erhält dafür scharfen Widerspruch aus den eigenen Reihen der Kammer.
Nach Abendblatt-Informationen gingen seit Jahresbeginn mehrere Dutzend teils wütende Zuschriften im Präsidium ein. Auf Anfrage bestätigte Frank-Ulrich Montgomery „eine Vielzahl sehr kritischer Briefe“, sowohl von Ärzten, als auch anderen Personen. Er beklagt, dass die Diskussion „überemotional“ geführt würde. „Auch waren einige der Zuschriften schlicht beleidigend“, so Montgomery.
Als minderjährig geltende Flüchtlinge genießen eine besondere Betreuung und können nur selten abgeschoben werden. Insbesondere der mutmaßliche Mord eines jungen Afghanen an seiner 15 Jahre alten Ex-Freundin im rheinland-pfälzischen Kandel hatte die Debatte um die Feststellung des Alters befeuert.
Die Tat war auch für den Blankeneser Arzt Stefan Bick der Anlass, sich an Montgomery zu wenden. „Der Gesetzgeber sagt eindeutig, dass es sich bei vorsätzlichen Falschangaben (...) um den Straftatbestand des Betrugs handelt“, heißt es in dem Brief, der dem Abendblatt vorliegt. Deshalb sei das Nein der Ärztekammer nicht tragbar. „Wer das Strafrecht ignoriert, solidarisiert sich mit den Tätern“, so Bick. Wie ein Gutachten ergab, ist der angeblich minderjährige mutmaßliche Täter von Kandel sehr wahrscheinlich bereits 20 Jahre alt.
Bick sagt, er habe selbst 16 Jahre lang für die kanadische Regierung in Hamburg alle Menschen medizinisch untersucht, die in das nordamerikanische Land auswandern wollten – ein Röntgentest sei dabei nahezu obligatorisch gewesen. Dies sei auch in Deutschland angezeigt.
Rechtsmediziner Püschel hält Untersuchung für sinnvoll
Auch der Leiter der Rechtsmedizin am UKE, Klaus Püschel, hält verbindliche Untersuchungen für sinnvoll. Ein Röntgentest kann nicht direkt angeordnet werden – in Hamburg wurden jedoch im Jahr ’96 von 772 registrierten jungen Flüchtlingen am UKE untersucht, da Sozialpädagogen der Stadt Zweifel an ihrem Alter hegten und sie andernfalls als Erwachsene eingestuft worden wären. Ergebnis: Knapp jeder zweite angeblich Minderjährige wurde als volljährig eingestuft. Im Bundesvergleich ist dieses „Hamburger Modell“ der Prüfung streng.
Der Kammerpräsident Montgomery argumentiert jedoch, dass eine grundsätzliche Röntgenuntersuchung zu stark in das Menschenwohl der Flüchtlinge eingreife. Schon eine Altersfestellung anhand der Handgelenksknochen, bei der vergleichsweise wenig Röntgenstrahlen nötig sind, könne das Krebsrisiko bei jungen Patienten theoretisch deutlich steigern.
Die deutsche Röntgenverordnung schließe eine verpflichtende Untersuchung aus, zudem habe die Ethikkommission der Ärztekammer sich bereits mit dem Thema befasst und eine Ausweitung abgelehnt.
Montgomery glaubt, dass die Eindrücke aus der Prüfung der Zweifelsfälle in der Rechtsmedizin nicht dem Gesamtbild entspreche – und die Mehrheit der Flüchtlinge tatsächlich richtige Angaben zu ihrem Alter mache. „Es gilt auch zu bedenken, dass etwa die schreckliche Gewalttat von Kandel durch eine frühere Feststellung des wirklichen Alters mutmaßlich nicht verhindert worden wäre“, sagte Montgomery.
Untersuchung ist mit Fehlern behaftet
Unstrittig ist, dass auch die Altersfeststellung mit Röntgen nicht fehlerfrei ist. An der Entwicklung der Knochen lässt sich zwar nahezu sicher feststellen, ob ein junger Mensch älter als 21 Jahre alt ist – bei Jugendlichen können aber bis zu zwei Jahre zwischen dem Ergebnis der Untersuchung und dem tatsächlichen Alter liegen. „Das ist unwissenschaftlich“, sagt Montgomery. Dagegen betonte der Rechtsmediziner Püschel, dass man die Flüchtlinge bei den Untersuchungen aufgrund des Fehlerkorridors „grundsätzlich zwei Jahre jünger mache“.
Eine Lösung für den Konflikt könnte in einem Ultraschall-Handscanner liegen, der kürzlich am Fraunhofer-Institut in Hannover entwickelt wurde. „Die Benutzung ist gesundheitlich vollkommen unbedenklich“, schreibt der Arzt Stefan Bick in seinem Brief an die Kammer.
Laut Frank Ulrich Montgomery spreche nichts gegen den Einsatz der Technologie – noch sei die Ultraschallvariante aber nicht ausreichend erprobt. Er bleibe bei seiner grundsätzlichen Position. „Es gilt, an die Gesundheit der wirklich Minderjährigen zu denken, solange kein Verdacht einer Straftat vorliegt.“