Hamburg. In Hamburg werden junge Ausländer auch medizinisch untersucht. Einige Bundespolitiker finden das vorbildlich.
Er erlebe es immer wieder, sagt Klaus Püschel: Flüchtlinge stellten sich bei ihm im Uniklinikum Eppendorf (UKE) vor und behaupteten, sie seien minderjährig. „Bei einigen ging unser Eindruck allerdings dahin, dass sie mindestens 30 Jahre alt waren“, sagt der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin. Das seien extreme Fälle. Doch die meisten Flüchtlinge, die am UKE nicht als minderjährig eingeschätzt wurden, seien „deutlich älter als 18“ gewesen.
Entspricht die Altersangabe der Wahrheit? Darüber musste in den vergangenen drei Jahren in der Hansestadt oft entschieden werden. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle 2015 stellten sich in Hamburg 6805 unbegleitete Ausländer als Minderjährige beim zuständigen Landesbetrieb Erziehung und Beratung (LEB) vor – 2572 (38 Prozent) von ihnen wurden als Minderjährige in Obhut genommen. 767 Flüchtlinge unterzogen sich einer medizinischen Alterseinschätzung am UKE – 454 von ihnen (59 Prozent) wurden laut Sozialbehörde als Minderjährige eingestuft.
Minderjährige erhalten besonderen Schutz
Weil im November 2015 neue Regeln für die Verteilung von Flüchtlingen in Kraft traten, wurde Hamburg zu einem „abgebenden Bundesland“. Deshalb sank die Zahl der Flüchtlinge, die sich beim LEB vorstellten, auf 1813 im Jahr 2016 – eine Entwicklung, die sich auch bei den ärztlichen Tests niederschlug: Bei nur noch 58 Flüchtlingen nahmen die Rechtsmediziner um Püschel in diesem Jahr eine Untersuchung vor – 26 Untersuchte (45 Prozent) waren den Tests zufolge minderjährig.
2017 stellten sich 772 junge Ausländer beim LEB vor, davon wurden 403 (52 Prozent) in Obhut genommen. Die Zahl der ärztlichen Untersuchungen stieg auf 96. Von dieser Gruppe wurden 45 Untersuchte als minderjährig eingestuft (47 Prozent). „Wobei wir grundsätzlich die Untersuchten zwei Jahre jünger machen“, sagt Püschel. Denn durch die Untersuchungen lasse sich das Alter nur im Rahmen einer Spanne von zwei bis drei Jahren festlegen.
Nur in seltenen Fällen abschieben
Führe die Untersuchung etwa zu der Einschätzung, dass ein Flüchtling zwischen 17 und 19 Jahre alt sei, werde er als 17-Jähriger eingestuft. „Die Untersuchungen sind nicht aufwendig, und sie tragen zur Klärung bei“, sagt Püschel. Er verstehe nicht, warum nicht alle Bundesländer vorgingen wie Hamburg. Das UKE hat schon Fälle für Bremen übernommen und unterhält mit der Rechtsmedizin Berlin ein Zentrum für Alterseinschätzung.
Minderjährige genießen einen besonderen Schutz des Staates. Sie werden vom Jugendamt in Obhut genommen und etwa in Wohngruppen untergebracht, wenn die Eltern keine Fürsorge bieten können. Das gilt auch für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Dagegen werden erwachsene Flüchtlinge in einer zentralen Erstaufnahme untergebracht. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge dürfen nur in seltenen Fällen in ihr Herkunftsland abgeschoben werden, und sie haben ein Recht auf einen sofortigen Zugang zu Schule und Ausbildung.
Erhebliche Privilegien
„Es sind erhebliche Privilegien, die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen richtigerweise eingeräumt werden“, sagt Franziska Grunwaldt von der CDU-Bürgerschaftsfraktion. „Diese Privilegien dürfen aber nur wirklich Schutzbedürftigen zur Verfügung stehen, um etwa bei der Betreuung keine Kapazitäten zu binden, die woanders dringend benötigt werden.“ Grunwaldt plädiert für eine bundesweit einheitliche Regelung, wonach eine ärztliche Untersuchung durchzuführen ist, wenn Dokumente fehlen. „Es sei denn, die Minderjährigkeit ist zweifelsfrei erkennbar.“
Die Diskussion um Alterstests bei Flüchtlingen war zuletzt bundesweit aufgeflammt, ausgelöst durch einen Fall in Rheinland-Pfalz, wo ein angeblich minderjähriger Flüchtling seine 15 Jahre alte Ex-Freundin getötet haben soll. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) forderte daraufhin strengere Vorgaben an die Jugendämter. Es könne „nicht ins Belieben einzelner Behörden gestellt sein, wann Zweifel angenommen werden“. CSU-Politiker sprachen sich für eine obligatorische Altersprüfung bei jungen Migranten aus.
Hamburg kein Vorreiter
Der Niedersächsische Städte- und Gemeindebund forderte, Alterstests für junge Flüchtlinge direkt nach deren Ankunft in Deutschland durchzuführen. Auch die SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles treibt das Thema um. „Viele Antragsteller geben ihr Alter nicht korrekt an. Die müssen wir herausfiltern. Wir dürfen uns als Staat nicht belügen lassen“, sagte Nahles und verwies auf das „Hamburger Modell“.
Die Gewalttat in Kandel hat die Debatte zwar befeuert, doch eine wichtige Rolle spielt auch, dass etliche Regionen durch die neuen Verteilungsregeln mehr unbegleitete junge Flüchtlinge aufnehmen müssen als früher – und deshalb wohl offener sind für das Hamburger Vorgehen. Dabei sei Hamburg kein Vorreiter, sagt Klaus Püschel. „Wir halten uns nur ans Gesetz.“
Sie können ärztliche Einschätzung verlangen
Nach einer 2015 im Sozialgesetzbuch festgelegten Regelung sind die Jugendämter für die Altersfeststellung zuständig. In Hamburg liegt die Verantwortung beim LEB. Dem Gesetz zufolge soll zunächst das Jugendamt versuchen, anhand von Ausweisen festzustellen, ob ein Flüchtling minderjährig ist, oder es soll dies bei einer „qualifizierten Inaugenscheinnahme“ einschätzen. Gemeint ist ein Gespräch, das in Hamburg laut LEB zwei Sozialpädagogen des Kinder- und Jugendnotdienstes (KJND) durchführen, mithilfe einer Dolmetscherin. Schon an diesem Punkt sei die Altersfeststellung „fehlerbehaftet“, kritisiert Anne Harms von Fluchtpunkt, der kirchlichen Hilfestelle für Flüchtlinge in Hamburg.
Jugendliche, die nach Einschätzung der Sozialpädagogen eindeutig minderjährig sind, werden in Obhut genommen. Gibt es Zweifel, sind laut Gesetz ärztliche Test möglich. Darüber würden die Flüchtlinge informiert – anordnen könne der LEB die Untersuchungen nicht, so die Sozialbehörde. Schlagen die Flüchtlinge das Angebot aus, werden sie als Erwachsene eingestuft. Im Zweifel eine ärztliche Untersuchung anbieten können also alle Bundesländer. Die Praxis ist jedoch regional unterschiedlich.
Stimmt ein unbegleiteter junger Flüchtling in Hamburg der medizinischen Untersuchung zu oder beantragt diese, muss er sich am UKE vorstellen. Noch 2015 wurden dort zur Altersfeststellung junger Flüchtlinge im Zweifel auch deren Genitalien begutachtet. „Hochnotpeinlich“ nannte das die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP-Bürgerschaftsfraktion, Jennyfer Dutschke. Auf ihre Anfrage hatte der Senat erklärt, bei der Altersfeststellung möglich sei auch „eine Inaugenscheinnahme der bezüglich einer Abschätzung des Entwicklungs- bzw. Reifezustands maßgeblichen Körperoberfläche“.
„Das machen wir schon seit über einem Jahr nicht mehr“, erklärt Klaus Püschel nun. Hauptsächlich bestehe die Untersuchung aus Röntgenaufnahmen des Kiefers. Seien etwa alle Weisheitszähne voll ausgebildet, spreche dies dafür, dass der Untersuchte erwachsen sei. Die Strahlenbelastung durch die Aufnahmen entspreche etwa der eines Interkontinentalfluges, sagt Püschel. Gegen das Röntgen hat Jennyfer Dutschke nichts. Auch CDU-Politikerin Grunwaldt sagt, Röntgenaufnahmen dürften „kein Tabu“ sein. Die von SPD-Politikerin Melanie Leonhard geführte Sozialbehörde teilt mit, das bisherige Stufenmodell sei „angemessen“.
Eingriff in das Menschenwohl
Gegen obligatorische ärztliche Untersuchungen bei jungen Flüchtlingen ist die Bundesärztekammer. Täte man das bei jedem Asylbewerber, wäre das ein Eingriff in das Menschenwohl, sagt Kammerpräsident Frank Ulrich Montgomery. „Wenn es medizinisch nicht angezeigt ist oder es keine strafrechtliche Anordnung gibt, sollte man auf diese Strahlenbelastung verzichten.“ Das Risiko einer Krebserkrankung durch das Röntgen sei bei Minderjährigen höher als bei Erwachsenen.
Die Forderungen von Unionsvertretern seien „gefährliche Stimmungsmache“, teilten der Verein Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, der Bundesverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge und das Deutsche Kinderhilfswerk mit. Eine präzise Feststellung des Alters sei medizinisch nicht möglich. „Befremdlich“ findet Anne Harms die Debatte. „Alle tun so, als wenn der Untergang des Abendlandes droht, wenn Erwachsene als Minderjährige behandelt werden. Sie kosten zwar Geld durch die Jugendhilfe, aber da ihnen andererseits der Schulbesuch und eine Ausbildung ermöglicht werden, hat das nicht nur Nachteile.“