Hamburg. Im Jahr 2017 kamen 403 unbegleitete Jugendliche in die Hansestadt, vor zwei Jahren waren es 2572. Scharfe Kritik an Alterstests.
Die Zahl der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge, die nach Hamburg kommen, ist seit zwei Jahren stark rückläufig. Im vergangenen Jahr kamen insgesamt 652 ausländische Jugendliche ohne ihre Eltern nach Hamburg, von denen 403 als minderjährig anerkannt worden sind. Rund 90 Prozent davon sind männlich, zehn Prozent weiblich. Die meisten kamen aus Ost- oder Westafrika (je 25 Prozent) sowie aus Nordafrika (24 Prozent) und aus Afghanistan (19 Prozent).
Zum Vergleich: Vor zwei Jahren waren allein aus Afghanistan 1347 unbegleitete Jugendliche (42 Prozent) nach Hamburg gekommen, insgesamt waren es damals 3240 junge Flüchtlinge, von denen 2572 als minderjährig anerkannt worden sind.
Alterstest: Hamburg lässt Flüchtlinge schätzen
Das Thema minderjährige unbegleitete Flüchtlinge spielt auch bei den Sondierungsgesprächen für eine Große Koalition in Berlin eine Rolle. „Viele Antragsteller geben ihr Alter nicht korrekt an“, hatte die SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles gesagt. „Die müssen wir herausfiltern. Klar ist doch: Wir dürfen uns als Staat nicht belügen lassen.“ Konkret sprach sich die Sozialdemokratin für das sogenannte Hamburger Modell aus. Dort werde das Alter der Flüchtlinge von den Behörden geschätzt. Ist ein Betroffener mit dieser Schätzung nicht einverstanden, könne er selbst den Gegenbeweis antreten.
Altersfeststellung bei Flüchtlingen: Das muss man wissen
„Dass Andrea Nahles nun Hamburg als Modell für das Verfahren zur Altersfeststellung nennt, finde ich bedenklich“, sagt Anne Harms von Fluchtpunkt, der kirchlichen Hilfestelle für Flüchtlinge in Hamburg. In Hamburg habe seit Jahren der Schutz der Jugendhilfe vor Überbeanspruchung Vorrang vor dem Schutz Minderjähriger. „Damit begründet der zuständige Landesbetrieb Erziehung und Beratung ganz offiziell die Praxis, Jugendliche schon dann an Erwachsenenunterkünfte zu verweisen, wenn eine Überprüfung des Alters noch aussteht“, kritisiert Anne Harms. „Auch die von Andrea Nahles als positiv bewertete Beweislast des Minderjährigen widerspricht dem Jugendschutz.“
"Altersschätzung ist fehlerbehaftet"
Das belegten, so Harms, allein die Hamburger Zahlen: So wurden 2017 mit 55 Prozent und 2016 sogar mit 67 Prozent der Personen, die der Älterschätzung durch den zuständigen Kinder- und Jugendnotdienst widersprochen haben, von der Rechtsmedizin als minderjährig eingeschätzt. Anne Harms: „Aber was ist mit denen, die niemanden haben, der sie berät und ihnen hilft, Widerspruch einzulegen oder sich an das Familiengericht zu wenden?“
Laut offizieller Statistik hat sich der Anteil der jungen Flüchtlinge, bei denen der zuständige Landesbetrieb Erziehung und Beratung (LEB) nicht anzweifelt, dass sie minderjährig sind, auf 13 Prozent reduziert. „Obgleich mindestens 52 Prozent minderjährig sind, zweifelt der KJND dies also in 87 Prozent der Fälle an“, sagt Anne Harms. „Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Altersschätzung sehr fehlerbehaftet ist und offensichtlich nicht mit der erforderlichen Vorsicht vorgenommen wird.“ In der Folge müsse es zwangsläufig eine ganze Reihe von Minderjährigen geben, die von KJND abgewiesen und ihrem Schicksal überlassen werden.
Bartwuchs, Halsfalten, Stimmlage – Kriterien für das Alter
Ein weiteres Problem seien die wenig nachvollziehbaren Kriterien der Altersschätzung durch den KJND. „Sie erfolgt durch kurze Betrachtung und Befragung“, sagt Anne Harms und nennt als Beleg einen Bescheid über die Beendigung einer vorläufigen Inobhutnahme durch den Landesbetrieb Erziehung und Beratung (LEB). Dort wird festgehalten, dass das „äußere Erscheinungsbild nicht zur Altersangabe passt“. Diese Überzeugung beruhe auf folgenden Wahrnehmungen, die in dem Behördenschreiben angekreuzt sind: Bartwuchs, Halsfalten, Stirnfalten, Stimmlage, gereifter Gesamteindruck und sicheres Auftreten.
„Eine Einschätzung des Jugendhilfebedarfes nach pädagogischen Gesichtspunkten scheint überhaupt nicht gewollt zu sein“, sagt Anne Harms. „Es geht unserer Erfahrung nach im Schwerpunkt um Halsfalten und ähnliche Kriterien, die auch die Rechtsmedizin für vollkommen untauglich hält.“
Eine Älterschätzung auf 17 Jahre aber, so Anne Harms, schade den Jugendlichen nachhaltig. „Sie erhalten wegen der kurzen Zeit bis zur Volljährigkeit meist keine Hilfen mehr, auch keine für junge Volljährige und können keine Schule mehr besuchen, die zu einem Abschluss führt. Das ist auch gesamtgesellschaftlich ein großer Schaden.“ Gleichzeitig würden Integrationsprogramme verabschiedet, „und es wird so getan, als wolle man gerade den jungen Flüchtlingen bestmöglich bei der Integration helfen und ihre Bildung fördern“.
Traumatisierte Flüchtlinge
Die aktuelle Debatte findet Anne Harms „befremdlich“. Denn: „Alle tun plötzlich so, als wenn der Untergang des Abendlandes droht, wenn Erwachsene als Minderjährige behandelt werden. Dabei ist der gesellschaftliche Schaden minimal. Sie kosten zwar Geld durch die Jugendhilfe, aber da ihnen andererseits der Schulbesuch und eine Ausbildung ermöglicht werden, hat das nicht nur Nachteile.“ Tatsächlich sei genau das oft der Grund, warum Flüchtlinge sich verzweifelt gegen eine Älterschätzung wehren.
Obgleich in Hamburg die Minderjährigkeit immer mehr angezweifelt und immer häufiger rechtsmedizinisch überprüft werde, so Anne Harms, steige der Anteil derer, die für volljährig erklärt werden, nicht. „Es gibt also keinen Grund anzunehmen, dass dies ein wachsendes Problem sei. Insbesondere, da die absoluten Zahlen ohnehin massiv zurück gegangen sind.“
Anne Harms betreut selbst einen somalischen Jungen, der nach seinen eigenen Angaben, nach der Überzeugung seiner Kinderpsychiaterin und nach Auskunft der somalischen Botschaft minderjährig ist. Das Rechtsmedizinische Institut schätzte ihn aber anhand seiner Zähne auf 18 bis 20 Jahre. „Er ist traumatisiert, weil er bei der Überfahrt über das Mittemeer erlebt hat, wie seine Mutter ertrunken ist“, sagt Anne Harms. „Nun bekommt er keinerlei Hilfen und kann keine Schule besuchen, obwohl er sich das sehr gewünscht hat. Ist unserer Gesellschaft damit irgendwie gedient?“