Hamburg. So hilft der Weisse Ring, Teil 2 : Wie Hinterbliebene leiden, wenn nach Jahrzehnten der Mörder ihres Angehörigen nicht gefasst ist.

In der Nacht, nach der für Anja H. nichts mehr so sein wird wie es mal war, bebt die Fabrik. Inga Rumpf singt sich an jenem 5. Oktober 1986 im Kulturzentrum in Altona die Seele aus dem Leib, und Anja H. sagt zu einem ihrer Begleiter: „Schade, dass mein Bruder nicht dabei ist, er mag Inga Rumpf doch noch mehr als ich.“ Als sie nach Hause kommt, sagt ihr Babysitter, der auf ihren kleinen Sohn aufgepasst hat: „Du sollst Deine Eltern anrufen, es ist etwas passiert.“

„Wir haben keinen Otto mehr“, sagt die Mutter ihr dann in jener Nacht mit tränenerstickter Stimme. Otto Martin H. starb an jenem Sonntagmorgen um 4 Uhr im Hausflur seiner Wohnung in der Kochstraße 17a in Hannover-Linden, achtmal hatte jemand auf den Künstler eingestochen. Bis tief in die Nacht hatte Otto Martin H. zuvor bei seinem Kunstprofessor mit anderen Studenten das bestandene Diplom gefeiert.

Die Tage danach – ein nicht endender Albtraum

Weißer Tee dampft in der Kanne, als Anja H. in ihrer Altbauwohnung in Hamburg drei Jahrzehnte danach vom Drama ihres Lebens erzählt. Manches ist ihr total präsent, etwa die Bahnfahrt am Morgen nach der Todesnachricht von der Hansestadt nach Uelzen in die Lüneburger Heide, wo ihre Eltern einen Hof bewirtschafteten.

Andere Momente dieses Tages ausgelöscht, etwa die letzte Etappe von Uelzen zu ihren Eltern: „Ich weiß nicht mehr, ob ich getrampt oder mit dem Taxi gefahren bin.“ Doch die Ankunft auf dem Hof hat sich förmlich eingebrannt: „Mein Vater war ein sehr höflicher Mann, er saß auf der Bank und wollte aufstehen, um mich zu begrüßen. Doch dann ist er in meinen Armen regelrecht zusammengesackt.“

Die Tage danach – ein nicht enden wollender Albtraum. Die Gespräche mit den Kripo-Beamten, der Abschied in der Leichenhalle. „Otto, Du siehst zum ersten Mal erwachsen aus“, sagt die Mutter zu ihrem aufgebahrten Sohn. Die Trauerfeier. Uwe, Ottos bester Freund aus Kindestagen, weint danach im Auto, die Stirn am Lenkrad gestützt. Das Auflösen der kleinen Wohnung. Große Besitztümer hatte Otto Martin nie angehäuft. Nach seinem Kunstdiplom verdiente er sein Geld weiterhin vor allem mit Aushilfstätigkeiten wie Taxifahren.

Und mitten in der großen Trauer immer wieder die eine Frage: Wer hat ihn umgebracht? Wer muss den sensiblen Mann, schmal, feine Gesichtszüge, so gehasst haben, dass sich die Klinge des Messers sogar in die Wand im Hausflur bohrte? Auch mehr als 31 Jahre später gibt es auf diese Frage keine Antwort, der Fall gehört zu den ungelösten Fällen des Ersten Kommissariats der Polizeidirektion Hannover.

Anja H.s Vater wurde schwer depressiv

Wie sehr ein Schicksalsschlag eine Familie traumatisiert, darüber könnte Anja H. problemlos ein Fachbuch schreiben, sie zählt zu den renommierten Psychotherapeutinnen mit eigener Praxis in der Hansestadt. Analysieren können, welche Prozesse ein solches Drama in Gang setzt, kann helfen. So sorgte sie für Therapien für ihren Vater, der nach dem Tod seines einzigen Sohnes schwer depressiv erkrankte, nach und nach den Hof verkaufte. Gerade er, der seinem Sohn das künstlerische Talent vererbt hatte, war so stolz auf dessen erste große Ausstellung gewesen.

„Besonders meinem Vater hätte ich so sehr gewünscht, dass der Mensch, der uns das angetan hat, gefasst wird“, sagt Anja H. Für ihre Mutter wurde in den Jahren danach das Grab auf dem kleinen Dorffriedhof zum Lebensmittelpunkt. Sie besuchte ihren Sohn oft an der Seite ihres Enkelkinds, dem kleinen Sohn von Anja. H. Er fuhr gern zu Oma und Opa; wenn die Großeltern mit ihm spielten, konnten sie ihren Kummer für ein paar Momente verdrängen.

Was die Familie in den vergangenen Jahren durchgemacht hat, kann niemand besser nachvollziehen als Wolfgang Sielaff. Der 2002 pensionierte Hamburger LKA-Chef hat ein ähnliches Schicksal durchlitten. Im August 1989 verschwand seine Schwester Birgit Meier spurlos, erst im Februar 1993 galt der Friedhofsgärtner Kurt-Werner Wichmann als dringend tatverdächtig. Doch der erhängte sich in der Untersuchungshaft, die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein, weil gegen Tote nicht ermittelt werden kann.

Das Familienleben gerät aus den Fugen

Sielaff ließ der Fall nie los, auch nach seiner Pensionierung ermittelte er mit einem Team aus hochkarätigen Spezialisten weiter. 2015 erreicht er, dass die Ermittlungen offiziell wieder aufgenommen wurden – mit Erfolg. Wichmann hatte definitiv Birgit Meier entführt und getötet, aber ihre Leiche blieb verschwunden. Im September 2017 fand Sielaff dann die sterblichen Überreste seiner Schwester auf dem Grundstück des Mörders (das Abendblatt berichtete).

„Durch die Jahrzehnte der Ungewissheit ist unser gesamtes Familienleben aus den Fugen geraten“, sagt Sielaff. Besonders tragisch sei gewesen, dass der Ex-Mann seiner Schwester über Jahre unter Mordverdacht gestanden habe. Die gemeinsame Tochter, die zum Zeitpunkt des Verschwindens 20 Jahre alt war, befindet sich seit Jahren in psychotherapeutischer Behandlung. Sielaffs Mutter versuchte zweimal, sich das Leben zu nehmen, ein Suizid scheiterte, weil der hochrangige Polizist sie noch gerade rechtzeitig fand. „Selbst auf dem Sterbebett hat sie mich gefragt, ob Birgits Schicksal je geklärt werde.“

Anja H. hatte in der Zeitung von Sielaffs Schicksal gelesen und über die Opferschutz-Organisation Weisser Ring um einen Kontakt gebeten – zehn Jahre war der frühere Spitzenbeamte ehrenamtlicher Landesvorsitzender.

„Niemand kann sich vorstellen, was es für meine Schwester und für mich bedeutet, dass sich jetzt Herr Sielaff so für uns einsetzt“, sagt Anja H. Dass wieder ermittelt wird, sei vor allem ihm zu verdanken. Sielaff habe sie bestärkt, zum 30. Todestag die Staatsanwaltschaft noch einmal anzuschreiben. Über die Jahre sei der Kontakt immer brüchiger geworden, „meine Schwester und ich kamen uns wie Bittsteller vor“.

Umso dankbarer sind die Geschwister, dass der Fall nun wieder aufgerollt wird – seit 1979 gilt in Deutschland, dass Mord nicht mehr verjährt. Auch in Hamburg wird in vergleichbaren Kapitalverbrechen ermittelt, die neue „Cold Case“-Ermittlungseinheit konnte bereits erste Erfolge verzeichnen (siehe Kasten). „Wir hatten ein sehr gutes Gespräch mit der Staatsanwaltschaft in Hannover, wir sind überzeugt, dass alles getan wird, damit der Mörder doch noch gefasst wird“, sagt Anna H.

Die Hoffnung speist sich aus Ermittlungsakte

Für Sielaff ist man genau dies den „verzweifelten, oft alleingelassenen Hinterbliebenen“ schuldig: „Polizei und Staatsanwaltschaft müssen mit den Betroffenen verständnisvoll umgehen. Das haben wir in der Vergangenheit oft vernachlässigt.“ In Hannover mussten die Geschwister das Gespräch mit den Beamten unmittelbar nach der Tat in einem Raum führen, in dem noch die Tatortfotos mit der Leiche des Bruders hingen.

Die Hoffnung speist sich vor allem aus der 1000 Seiten starken Akte – genügend Vorlagen, um mit neuen wissenschaftlichen Methoden wieder zu ermitteln. Penibel sind alle Vernehmungen, alle Spuren notiert, wie der Fund von 9,20 Mark, einem Kamm und einem Tabakbeutel im Trenchcoat des Opfers. Der Tatverlauf deutet nach Einschätzung der Polizei auf einen heimtückischen Mord an einem arglosen Opfer hin.

„Arglos, das charakterisiert meinen Bruder sehr gut“, sagt Anja H. Einfach ein „ganz lieber Mensch“ sei Otto gewesen, zurückhaltend, hochsensibel, bedacht auf Harmonie. Dass ausgerechnet er niedergemetzelt wurde, sei so demütigend, auch darum will sie mit ihrer Schwester weiter die Ermittlungen unterstützen. „Warum kannst Du nicht loslassen, es wäre besser für Dich“, hat ihr jüngst ein Bekannter geraten. Aber das kann sie nicht. Das wäre für sie nichts anderes als ein Verrat. An ihrem Bruder. Und an ihren inzwischen verstorbenen Eltern, die den Tod ihres Sohnes nie verkrafteten: „Deshalb müssen wir wissen, was am 5. Oktober 1986 geschehen ist.“

Mögliche Zeugen werden gebeten, bei der Polizei Hannover (0511-1095103) anzurufen