Hamburg. 2014 starb Edith D. bei einem brutalen Raubmord in Wilhemsburg. Seitdem kämpfen Tochter und Sohn um eine gerechte Strafe für die Täter.

Bernd D. kontrolliert noch einmal den Knoten seiner Krawatte, als die Vorsitzende Richterin mit ihren beiden Kollegen und zwei Schöffen den Gerichtssaal 286 betritt. Er erhebt sich wie alle im Saal, dann klappt er seinen schwarzen Laptop auf. Das Foto, das er auf die Rückseite des Bildschirms geklebt hat, zeigt eine elegante ältere Dame, das Haar sorgsam frisiert. Es ist ein Bild seiner Mutter Edith. Sehen sollen es Aramis P., Rikardo W. und Angelika S., die an diesem Montag wieder vis-à-vis auf der Anklagebank sitzen.

In seiner Aktentasche hat Bernd D. (59) weitere Fotos seiner Mutter. Schon aus juristischen Gründen darf das Abendblatt sie nicht zeigen, zumutbar wären sie ohnehin für keinen Leser. Die Bilder zeigen die Rentnerin unmittelbar nach dem Mord im Badezimmer ihrer Wohnung am Vogelhüttendeich in Wilhelmsburg. Ein Tuch wurde so brutal in ihre Kehle gestopft, dass der linke Mundwinkel bis zum Ohr um acht Zentimeter blutig aufriss. Die Wolldecke um ihren Hals war derart fest verknotet, dass die Rechtsmediziner sie aufschneiden mussten. Die Hämatome am Hinterkopf zeugten von massiven Schlägen.

Das Verbrechen am 17. Juni 2015 erschütterte Hamburg

Das Verbrechen geschah am 17. Juni 2014, es erschütterte Hamburg. Doch auch knapp drei Jahre später ist ungeklärt, was genau am Vogelhüttendeich geschah. Mit Miroslav D. wurde im ersten Verfahren zwar ein Täter verurteilt, zunächst zu 13 Jahren Haft, später im Revisionsurteil zu „lebenslänglich“. Doch Miroslav D. will nur im Auftrag eines Familienclans gehandelt haben, der ihn nach einer in Polen verbüßten Gefängnisstrafe nach Hamburg gelockt habe. Wie ein Sklave habe er für die Bande schuften und stehlen müssen. Und morden? Gegen die mutmaßlichen Hintermänner verhandelt das Landgericht seit Juni 2015 im zweiten Verfahren.

An diesem 3. April beginnt der 103. Verhandlungstag, schon der Prozess gegen Miroslav D. dauerte inklusive Revision 38 Tage. Bernd D. und seine Schwester Ingrid T. (64) saßen an fast jedem Tag am Tisch der Nebenklage, Auge in Auge mit den mutmaßlichen Tätern.

Konzentriert schreiben die Geschwister ihre Protokolle

Wie hält man das aus?

Äußerlich ist den Geschwistern keine Anspannung anzumerken. Konzen­triert schreiben sie auch an diesem Montag ihre persönlichen Protokolle der Verhandlung in ihre Laptops. Doch wer mit ihnen in den Pausen redet, spürt die ganze Last. Bernd D. sagt, wie sehr es ihn quält, dass er sich von seiner Mutter nicht einmal verabschieden konnte. „Behalten Sie sie lieber so in Erinnerung, wie Sie Ihre Mutter kannten“, rieten ihm die Polizisten. Seine schwer erkrankte Schwester bräuchte all ihre Kraft für eine Genesung. Aber sie kann nicht aufgeben: „Wenn es mich erwischt hätte, wäre Mutter auch jeden Verhandlungstag mit ihrem Rollator zum Strafgericht gekommen.“

Dieser Tag ist für ihren Bruder und für sie ein besonderer: Sie sehen im Zeugenstand den Mann wieder, der für den Mord mit „lebenslänglich“ büßt: Miroslav D., ein schmächtiger, kahlköpfiger Mann, 43 Jahre alt, geboren im polnischen Lodz. Beim Prozessauftakt im Juni 2015, damals war er noch nicht rechtskräftig verurteilt, hatte er geschwiegen. Wird er heute seine mutmaßlichen Auftraggeber belasten? Kommt im nunmehr fast zweieinhalbjährigen Kampf um Gerechtigkeit der Durchbruch?

Bernd D. hat einen vierseitigen Katalog mit Fragen vorbereitet

Bernd D. hat einen vierseitigen Katalog mit Fragen vorbereitet, die er Miroslav D. stellen will. Um 16.15 Uhr klappt er den Laptop enttäuscht zu. Zunächst war die Dolmetscherin nicht auffindbar, dann erklärte Miroslav D. über seine Anwältin, dass er sich zur Sache nicht äußern werde.

„In diesem Prozess kann mich nichts mehr überraschen“, sagt Bernd D. am Ausgang. Er umarmt noch einmal seine Schwester, die nun wieder knapp zwei Stunden in ihre Heimat nach Mecklenburg-Vorpommern fahren wird. Er selbst muss dringend zurück ins Büro.

Im Prinzip führen Bernd D. und In­grid T. zwei Leben. Eines im Strafgericht am Sievekingplatz. Das andere im Beruf. Bernd D. verantwortet bei einer Krankenkasse eine Abteilung mit 170 Mitarbeitern, nachts arbeitet er Akten auf, um tagsüber als Nebenkläger im Gericht sitzen zu können. Ingrid T. leitet ein Apartmenthotel, betreut Ferienwohnungen und führt ein Restaurant in Wismar, ein Sieben-Tage-Job.

Schmuck im Wert von 30.000 Euro lagert im Tresor

Am 17. Juni 2014, dem Tag, nach dem für Bernd D. und Ingrid T. nichts mehr so sein wird, wie es mal war, scheint die Sonne. Edith D. wartet in ihrer Wohnung im Hochparterre am Vogelhüttendeich auf den Boten ihrer Apotheke, sie braucht seit Jahren Morphin-Tabletten gegen ihre Osteoporose. Schmuck im Wert von 30.000 Euro und Bargeld lagern im Tresor sowie in Verstecken unter dem Esstisch und hinter Büchern. Edith D. hat ihr Schließfach in der Sparkassenfiliale weitgehend geräumt, da sie so schlecht zu Fuß ist.

Zum Verhängnis wird ihr wahrscheinlich, dass sie dank ihrer guten Rente Woche für Woche Schmuck bei einem TV-Verkaufssender bestellt; die Staatsanwaltschaft ist überzeugt, dass eine Bande um Aramis P. genau dies auskundschaftete.

Die Rentnerin fühlt sich seit Wochen bedroht, immer wieder klingeln Unbekannte, bitten um ein Glas Wasser oder geben sich als Handwerker aus. Und nachdem ihr angebliche Wasserleitungsprüfer Geld stahlen, schaut sie stets von ihrem Balkon auf die Straße, um zu sehen, wer da schellt. Den Boten der Apotheke erkennt sie, ihm öffnet sie die Tür, während sie gerade mit ihrem Bruder telefoniert.

Sechs Tage nach dem Mord wird der Täter gefasst

Was dann am Vogelhüttendeich am frühen Abend genau passiert, ist auch knapp drei Jahre später ungeklärt. Sicher ist nur, dass Miroslav D., der fast die Hälfte seines Lebens in polnischen Gefängnissen saß, über den Balkon in die Wohnung einsteigt, die Rentnerin schlägt und würgt. Sechs Tage später wird er gefasst, die Fingerabdrücke führten die Polizei auf seine Spur. Im ersten Prozess schilderte Miroslav D. unterschiedliche Versionen der Tat. Mal behauptete er, er habe die Rentnerin mit Kumpanen überfallen, seine Mittäter hätten die Frau umgebracht. Dann wollte er doch allein in der Wohnung gewesen sein, das Opfer habe aber beim Verlassen des Hauses noch gelebt. Umgebracht hätten die alte Dame später seine Auftraggeber, denen er den Schlüssel zur Wohnung gegeben haben will.

„Seit fast drei Jahren kämpfen wir um die Wahrheit“, sagt Ingrid T. Sie hasst das Etikett „Oma Edith“, mit dem der Boulevard ihre Mutter versehen hat. „Mutter war eine tapfere Frau, die oft kämpfen musste“, sagt sie. Als Kind floh Edith D. aus dem zerbombten Danzig mit ihrer Mutter und fünf Geschwistern nach Hamburg, der jüngste Bruder verhungerte auf der Flucht. Wilhelmsburg wurde ihre Heimat, sie arbeitete als Verkäuferin in einer Schlachterei, verliebte sich in einen Schlosser. Abends ging sie putzen, die Kinder Ingrid und Bernd sollten es mal besser haben. Familienglück zu viert auf 50 Quadratmetern.

Die Geschwister wollten die Mutter zum Umzug bewegen

Nach dem frühen Tod ihres Mannes wurde das Verhältnis zu den Kindern noch enger. Ingrid T. erzählt von den vielen gemeinsamen Skatabenden an der Ostsee. Die Kellner in ihrem Restaurant, sagt sie, hätten sich schon immer auf die so lebenslustige ältere Dame gefreut.

Umso mehr quält sie nun, dass sie sich ausgerechnet vor der Tat mit ihrer Mutter gestritten hat. Ingrid T. wollte genau wie ihr Bruder die Mutter zum Umzug zu ihr an die Ostsee bewegen, raus aus dem für sie inzwischen gefährlichen Milieu in Wilhelmsburg. An der Ostsee hatte sie eigens ein Häuschen bauen lassen, maßgeschneidert für die Möbel der Mutter. „Doch dann hat sie bei ihrem Hausarzt behauptet, ich würde sie entmündigen wollen. Das hat mich so verletzt, dass wir drei Wochen nicht miteinander gesprochen haben.“ Auch Bernd D. denkt oft daran, ob er seine Mutter noch mehr unter Druck hätte setzen müssen. Aber sie habe den Umzug einfach nicht gewollt.

Nach dem Lebenslänglich-Urteil legt sie Blumen auf das Grab

Nun müssen die Geschwister Momente wie im Prozess gegen Miroslav D. aushalten, als die Richterin die Prozessbeteiligten an ihren Tisch bat, um Sektionsfotos der Ermordeten in Augenschein zu nehmen. Beim Betrachten dieser Bilder in Gegenwart des Täters habe er schon an sich halten müssen, sagt Bernd D.

Umso dankbarer sind sie für jedes Erfolgserlebnis an der Seite ihrer Anwälte Arne Platzbecker, Hendrik Prahl und Gerhard Hillebrand. Der Sieg im Revisionsverfahren war so ein Tag. Nach dem Lebenslänglich-Urteil legte In­grid T. Blumen auf das Grab ihrer Mutter: „An dem Tag hätte sie ihren Geburtstag gefeiert. Ich habe zu ihr gesagt, wir haben für dich gewonnen.“

Das Opfer kannte den PIN-Code der EC-Karte auswendig

Auch die Aussagen der Geschwister trugen zum Revisionsurteil bei. Glaubhaft konnten sie die Behauptung des Täters widerlegen, das Opfer habe den Pin-Code für die EC-Karte auf der Rückseite eines Fotos notiert. „Mutter war ein Zahlenmensch, die wusste die Geheimzahl auswendig“, erklärte Bernd D. Seiner Argumentation, der oder die Täter hätten Edith D. gefoltert, um an den Code zu kommen, folgte das Revisionsgericht.

Solche kleinen Erfolge helfen über die bitteren Stunden hinweg, wenn sich die Vorsitzende Richterin und Verteidiger Uwe Maeffert, bekannt als außerordentlich konfliktfreudiger Jurist, beharken. Maeffert stellt wie seine Verteidiger-Kollegen immer neue Anträge, das Gericht wittert Manöver, das Verfahren weiter in die Länge zu ziehen. Auf der anderen Seite geht es für die Angeklagten um alles, ihnen droht bei einer Verurteilung wie Miroslav D. „lebenslänglich“. Da Miroslav D. nun schweigt – im ersten Verfahren sagte er einmal aus, er habe Angst, sei in der Untersuchungshaft bedroht worden –, führt das Gericht einen mühsamen Indizienprozess. Stundenlang geht es um Handy-Ortungen und die Glaubwürdigkeit von Zeugen.

Die Angehörigen von Edith D. empfinden den Marathon-Prozess als demütigend. „Wir haben Täterrecht, kein Opferrecht“, sagt Bernd D. bitter.

Es kann noch Jahre dauern, bis der Prozess abgeschlossen ist

Aber die Geschwister spüren, dass ihre Anwesenheit die Angeklagten verunsichert. „Von der Gegenseite kamen ein paarmal Bemerkungen, ob wir wirklich jedesmal kommen müssen“, sagt Bernd D. Seine Schwester betritt stets ungeschminkt den Gerichtssaal, dann, sagt sie, „sehe ich Mutter noch ähnlicher“. Am Mittag des 11. April, des 107. und letzten Verhandlungstags vor der Osterpause, bittet die Vorsitzende Richterin Staatsanwaltschaft, Verteidiger und Nebenkläger, die Plädoyers für den nächsten Termin am 25. April vorzubereiten. Die Verteidigung erwägt jedoch neue Beweisanträge, vieles spricht dafür, dass Bernd D. und Ingrid T. weiter vergebens auf ein zügiges Ende des Prozesses warten müssen.

Doch selbst ein Urteil würde mitnichten ein Ende des Verfahrens bedeuten. Werden die Angeklagten zu einer hohen Haftstrafe oder gar zu „lebenslänglich“ verurteilt, wird wohl die Verteidigung in Revision gehen. Im Gegenzug werden Staatsanwaltschaft und Nebenklage die nächste Instanz anrufen, falls das Urteil aus ihrer Sicht zu milde ausfallen sollte oder der Prozess mit einem Freispruch enden sollte. Es kann daher noch Jahre dauern, bis das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

Im Haus an der Ostsee stehen die Puppen aus Wilhelmsburg

Und dann? „Gerade nach solchen Mammutverfahren fallen Opfer oder ihre Angehörigen oft in ein Loch“, sagt Kristina Erichsen-Kruse. Die erfahrene Kriminologin kümmert sich im Vorstand des Weissen Rings Hamburg seit Jahren um Opfer von Verbrechen und ihre Angehörigen. Sie sagt, dass auch das härteste Urteil die Bilder von Leid und Gewalt nicht auslöschen kann. „Opfer“, sagt sie, „haben ,lebenslänglich‘.“

Wenn Ingrid T. wieder zurück an die Ostsee fährt, geht sie gern noch in das einst für ihre Mutter eingerichtete Haus. Es ist weiter unbewohnt. Auf einem eigens gezimmerten Regal stehen die Puppen, die ihre Mutter so geliebt hat. Nur sie sind aus Wilhelmsburg umgezogen.

Der Weisse Ring, 1976 von dem früheren Fernsehjournalisten Eduard Zimmermann („Aktenzeichen XY“) mitbegründet, setzt sich seit Gründung für die Opfer von Kriminalität und die Verhütung von Straftaten ein. Der Verein hat rund 50.000 Mitglieder; 3200 besonders geschulte Mitarbeiter engagieren sich ehrenamtlich in der Beratung von Opfern. Die Mitarbeiter verfügen über ein exzellentes Netzwerk von spezialisierten Psychologen und Juristen. Der Weisse Ring finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge, Spenden, Nachlässe und Stiftungen und nimmt keine öffentlichen Gelder an, um unabhängig zu bleiben.

Das Landesbüro in Hamburg (www.hamburg.weisser-ring.de) ist erreichbar unter 040/2517680. Das Opfertelefon ist täglich von 7 bis 22 Uhr unter der kostenlosen bundesweiten Rufnummer 116006 besetzt. Auch anonym wird Opfern geholfen.