Hamburg. Laut Holger Schmieding, Chefvolkswirt beim Hamburger Bankhaus Berenberg , ist es dennoch nicht zu spät für Aktienkäufe.
Die Arbeitslosenquote sinkt immer weiter, die Kauflaune der Deutschen verbessert sich, der Aktienmarkt hat erst vor wenigen Tagen einen neuen Höchststand erreicht. Wie lange kann das noch so weitergehen? Ein Gespräch mit Holger Schmieding, dem Chefvolkswirt des Hamburger Privatbankhauses Berenberg. Für seine Einschätzungen ist er Ende 2016 und Ende 2011 von einem Expertengremium mit dem Titel „Prognostiker des Jahres“ ausgezeichnet worden, wobei er sich jeweils gegen mehr als 50 Kollegen in anderen Banken und Forschungsinstituten durchsetzte.
Deutschland hat konjunkturell gerade das beste Jahr seit der Wiedervereinigung hinter sich und auch die Prognosen für 2018 verbreiten Zuversicht, am Aktienmarkt geht es seit sechs Jahren ununterbrochen nach oben. Wird es Ihnen da nicht allmählich unheimlich?
Holger Schmieding: Bisher noch nicht. Die Party hat zwar schon vor einer Weile begonnen, aber wir sind erst beim zweiten Glas Champagner. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass dem Aufschwung, den wir jetzt sehen, die wirklich schwere Finanzkrise des Jahres 2008 und die Euro-Krise vorausgingen. Nach solchen Krisen gibt es Raum für einen Wiederanstieg. Selbst ein Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent, wie es Deutschland im vorigen Jahr erreichte, ist historisch gesehen nichts ungewöhnliches. Auch am Aktienmarkt riecht es nicht nach Übertreibung.
Was entgegnen Sie Kollegen, die die Gefahr einer Überhitzung der Wirtschaft sehen und dabei zum Beispiel vor Kapazitätsengpässen durch Fachkräftemangel warnen?
Schmieding: Zum Glück haben wir innerhalb Europas ja offene Grenzen – und in der östlichen Nachbarschaft der EU, etwa in der Ukraine und in Russland, findet sich ein weiteres großes Fachkräfte-Potenzial. Es ist unsere politische Entscheidung, ob wir es nutzen wollen oder nicht. Zudem haben wir aber auch das eigene Potenzial noch nicht ausgeschöpft: Die Deutschen beenden ihr Arbeitsleben tendenziell immer später, der Anteil der berufstätigen Frauen steigt. Diese Trends können noch weitergehen.
Verzerrt die Nullzinspolitik der Notenbanken die Preise auf dem Immobilien- und dem Aktienmarkt?
Schmieding: Eine solche Verzerrung sehe ich nicht – auch nicht bei den Immobilien, dem wohl „heißesten“ Markt. Ein Warnzeichen wäre eine übermäßige Steigerung von Krediten, aber die gibt es nicht. Und auf dem Aktienmarkt gleicht der Effekt der Niedrigzinsen nur die Risikoscheu der Anleger aus, die nach der Finanz- und Euro-Krise einen großen Bogen um die Aktien gemacht hatten.
Berenberg prognostiziert für den Deutschen Aktienindex (DAX) einen Jahresendstand 2018 von 14.200 Punkten. Ist die Gelegenheit für Aktienkäufe also noch nicht vorüber?
Schmieding: Es ist noch nicht zu spät für Aktien, da ist noch Luft nach oben. 2018 und vielleicht auch 2019 ist noch etwas drin. Aber es wird nicht mehr so spektakulär nach oben gehen und der Markt wird auch korrekturanfälliger.
Was macht Ihnen im Hinblick auf die deutsche Wirtschaft und Politik derzeit am meisten Sorgen?
Schmieding: Es macht mir große Sorge, dass die politische Diskussion so rückwärtsgewandt ist. Deutschland sollte den Anspruch haben, bei der Digitalisierung der Verwaltung und bei der flächendeckenden Versorgung mit schnellem Internet zu den besten Ländern zu gehören. Warum kann man sich hier nicht elektronisch an- oder ummelden? Da macht uns zum Beispiel Estland viel vor. Stattdessen beschäftigt sich die Politik damit, wie man die Reformen der „Agenda 2010“ Stück für Stück zurückdrehen oder die Rentenansprüche anheben kann. Ich bin sehr für eine Grundrente, um echte Altersarmut zu verhindern, aber eine allgemeine Erhöhung des Rentenniveaus ist angesichts unserer Demografie nicht sinnvoll. All das sind Dinge, die auf mittlere Sicht nicht gut für uns sind. Sie werden es uns schwerer machen, dereinst nach der nächsten Krise wieder Tritt zu fassen.
Im Jahr 2010 haben Sie der deutschen Wirtschaft ein „goldenes Jahrzehnt“ vorhergesagt. Wann endet die Erfolgsphase tatsächlich?
Schmieding: Ich fürchte, sie endet ziemlich pünktlich. Vieles spricht dafür, dass im Jahr 2020 oder 2021 der nächste Abschwung kommt.
Wodurch würde eine solche Krise denn ausgelöst?
Schmieding: In den USA ist man über das zweite Glas Champagner schon längst hinaus, dort ist die Gefahr einer Überhitzung ausgeprägter als bei uns. Einem Konjunkturknick in den USA, der dort 2020 oder 2021 fällig sein dürfte, können wir uns nicht entziehen.
Hamburg hat als Hafenstadt und Warendrehscheibe jahrzehntelang von der Globalisierung und dem Wachstum des Welthandels profitiert. Nimmt die Bedeutung des internationalen Warenhandels angesichts der Digitalisierung ab?
Schmieding: Die alte Weisheit, dass die Warentransporte sogar schneller wachsen als die Weltwirtschaft, ist tatsächlich nicht mehr gültig. Die Wertschöpfung verlagert sich vom Austausch von Gütern hin zum Austausch von Informationen. Darum haben moderne Medien und Kultur noch mehr Wachstumspotenzial als der Güterumschlag im Hafen. Aber in Hamburg ist man sich dieser Entwicklungen durchaus bewusst. Dass die Elbphilharmonie gebaut wurde, anstatt das Gelände für den Hafen zu nutzen, ist ja schon ein Statement.