Aufnahmestopp in vielen Praxen und volle Wartezimmer. Eine Reportage über die medizinische Versorgung von Hamburgs Kindern.
Das Telefon klingelt. Ununterbrochen. Auf beiden Leitungen. Im Minutentakt nimmt Arzthelferin Jessica Berneik Anrufe entgegen. „Ja, Fieber?“, sagt sie. „Husten? Moment. Ich schau mal.“ Sie klemmt den Hörer unters Kinn, blickt auf den Bildschirm. Der Kalender ist dicht. Eigentlich geht nichts mehr.
Sie sagt dennoch: „Kommen Sie zwischen 10 und 11 Uhr. Und bringen Sie Geduld mit.“ Hörer auflegen, klingeln, abnehmen. „Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?“ Es ist kurz vor 8 Uhr. Seit zehn Minuten läuft die telefonische Anmeldung in der Harburger Kinderarztpraxis am Deichhausweg. Zehn Minuten, in denen schon 30 neue Termine hereingekommen sind. Finn hat Durchfall, Ates Husten, Malik Bauchschmerzen, Joice Fieber. Vielleicht Scharlach? Magen-Darm? Einen Virus? Es ist Freitag, ein ganz normaler Tag in einer ganz normalen Hamburger Kinderarztpraxis.
80 bis 100 Patienten pro Tag – und dann noch Notfälle
Normal. Das bedeutet: arbeiten im Akkord. 80 bis 100 Patienten an einem Tag – pro Arzt. Innerhalb von zehn Stunden. Von morgens um acht bis abends um sieben. Kommt ein Notfall, müssen sie behandeln. Ganz gleich, ob das Kind ein Patient ist oder nicht. Neuaufnahmen sind nur bei Neugeborenen möglich. Zugezogene, Eltern, die mit ihren Kindern den Arzt wechseln wollen, werden abgelehnt.
„Wir sind am Limit“, sagt Kinderarzt Klaus Jochen Gunßer. Er betreibt mit fünf Kollegen die Kinderarztpraxis am Deichhausweg. Hier ist die Not besonders groß. Ähnlich sieht es in den Bezirken Nord, Mitte und Bergedorf aus. Überall die gleiche Auskunft: „Wir nehmen – außer Neugeborenen – keine neuen Patienten mehr auf.“ „Die Belastungsgrenzen sind längst erreicht“, sagt Gunßer. „Überall gilt Aufnahmestopp.“
Jessica Berneik hat eine Strichliste geführt. „Nur mal so, um einen Überblick zu haben.“ Allein am Vortag hat sie acht Mal diesen Satz am Telefon gesagt: „Es tut uns leid, wir sind voll. Bitte suchen Sie sich eine andere Praxis.“ Sie weiß, dass die Lage anderswo ähnlich angespannt. Und dass der Rat, es doch woanders zu versuchen, einen schalen Beigeschmack hat. „Mit einem fiebernden Kind durch die Gegend zu fahren, ist keine gute Lösung“, sagt sie.
Der Arzt spricht von einem „begrenzten Aufnahmestopp“
Die Situation ist dramatisch. „Nahezu täglich müssen wir Eltern abweisen“, sagt Klaus Jochen Gunßer. Seit mehr als 25 Jahren gehört er zu der 1989 gegründeten Gemeinschaftspraxis im Stadtzentrum von Harburg. Hier teilen sich vier Ärzte drei Vollzeitstellen („Arztsitze“). „So schlimm wie in den vergangenen ein, zwei Jahren war es noch nie“, sagt der Pädiater. Derzeit werden in seiner Praxis nur noch Geschwisterkinder aufgenommen. Und mit viel Glück manchmal noch Kinder, deren Eltern sich direkt ein, zwei Tage nach der Geburt um einen Termin bemüht haben.
Gunßer nennt das „begrenzten Aufnahmestopp“. Und sagt klipp und klar: „Wechsler haben bei uns gar keine Chance.“ Gemeint sind diejenigen, die wegen eines Termins nachfragen, weil sie mit dem behandelnden Arzt unzufrieden sind. Drei bis vier Anfragen sind es an manchen Tagen, die seine Mitarbeiterinnen abweisen müssen.
Rund 200 Kinder kommen täglich in die Praxis am Deichhausweg. Von 8 bis 17 Uhr dauert die Sprechstunde offiziell. An diesem Freitag stehen auf Gunßers Behandlungsplan 30 reguläre Anmeldungen für den Vormittag. Weitere 50 Akutfälle sind innerhalb einer Viertelstunde hinzugekommen. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Klaus Jochen Gunßer streicht sich mit der Hand durch den Bart. Greift im Vorbeigehen ein Tablett mit zwei aufgezogenen Spritzen und verschwindet ins Untersuchungszimmer mit der roten Vier.
Lange Wartezeiten, aber kurze Wege
Der Tag beginnt mit einer Impfung. „Wir machen das zu zweit“, sagt Gunßer. „Dann geht es schneller und tut weniger weh.“ Eine Routinesache. Dauer etwa fünf Minuten inklusive Beratung der Eltern. Nebenan wartet bereits der nächste Patient. Er heißt Theodor und ist fünf Jahre alt. Das erste Mal war er mit zwei Wochen hier. Genauso wie seine kleinen Geschwister Rosalie und Friedrich. Ihre Mutter ist froh, dass sie alle drei Kinder hier untergebracht hat. „Natürlich müssen wir manchmal länger warten“, sagt sie. „Aber dafür haben wir es zum Arzt nicht weit.“
In Zimmer 4 wartet Katharina, 17, mit einem Magen-Darm-Infekt. Ravca, fünf Monate, muss geimpft werden, ebenso das kleine indische Mädchen in Raum 1. Dann eine U 5. Oskar ist sechs Monate alt. Gunßer prüft die Beweglichkeit und Körperbeherrschung, kontrolliert, ob sich das Kind in Bauchlage auf seine Arme abstützen kann. „Kann er sich hochziehen? „Greift er nach Gegenständen?“, fragt der Arzt. Es ist 8.45 Uhr.
Im Vorraum der Praxis stehen inzwischen rund ein Dutzend Kinderwagen. Und der Strom von Patienten reißt nicht ab. Arzthelferin Jessica Berneik bleibt gelassen. Sie weiß, dass dies erst der Anfang ist.
Jedes Kind braucht Zeit – auch die Eltern
Am Empfang hat sich inzwischen eine Schlange von Müttern gebildet. Im Wartezimmer toben die Kinder auf einer kleinen grünen Rutsche aus Plastik. Im Eingang drängeln sich neue Patienten. Manche schieben sich in den engen Flur, so, als müssten sie einen Zug erreichen, der im nächsten Moment abfährt. Am Eingang hängt ein Plakat. Darauf steht: „Vereinbarte Termine können Wartezeiten nur abkürzen, nicht verhindern. Unvorhersehbares lässt sich nun einmal nicht vorplanen! Warten Sie darum – wenn es nötig ist – in Ruhe und mit der Gewissheit, dass auch Ihrem Kind in dringenden Fällen sofort geholfen werden wird!“
Klaus Jochen Gunßer kennt den Trubel im Wartebereich. Und dass es Eltern gibt, die wenig Verständnis für Wartezeiten haben. Er weiß aber auch, dass er sich nicht hetzen lassen darf. „Wir arbeiten hier mit Menschen“, sagt er. „Jedes Kind braucht seine Zeit. Und auch die Eltern haben heute mehr Beratungsbedarf als früher.“ Ein Grund, warum die Kapazitäten der Kinderarztpraxen bis an die Belastungsgrenzen ausgeschöpft sind.
„Der Versorgungsauftrag hat sich im Verlauf der vergangenen 20 Jahre geändert“, sagt Praxiskollege Dr. Thomas Rutt. Der 63-Jährige ist auf Lungenheilkunde spezialisiert und seit 1999 im Team am Deichhausweg. „Früher gab es als Vorsorgeuntersuchungen die U 3 bis U 9 sowie die J 1. Heute gibt es zusätzlich die U 10, U 11 für Schulkinder und die J 2 für Teenager.“ Die Gründe dafür seien vielfältig. „Kinder sind heute häufiger verhaltensauffällig. Viele haben Probleme bei der Bewältigung der Schule“, sagt Rutt. Er hat dafür seine eigene Erklärung: „Der Unterricht, aber auch die familiären Strukturen sind zunehmend weniger klar geregelt, der Alltag in den Familien ist weniger gut strukturiert. Kinder lernen zu Hause kaum noch Regeln. Dementsprechend tun sie sich schwer in der Schule.“ Auch der steigende Medienkonsum spiele eine Rolle.
„Stundenlanges Fernsehen und Spielen am Tablet führt zu einer niedrigeren Intelligenz und schlechteren Feinmotorik“, so Rutt. „Wenn Kinder durch das Spielverhalten nicht gewohnt sind, sich zu konzentrieren, sondern nur zu rezipieren, haben sie häufig später in der Schule ein Problem.“ Also spricht Rutt mit den Eltern. Klärt sie auf. Gibt Ratschläge. Auch das braucht Zeit.
Vier zusätzliche Kinderärzte
Zeit, die an anderer Stelle fehlt. Und die dazu führt, dass die vorhandenen Behandlungskapazitäten nicht ausreichen, wie die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg (KVH) festgestellt hat. Um den wachsenden Bedarf an kinderärztlicher Versorgung zu decken, der sich außerdem durch steigende Geburtenzahlen ergibt – die Zahl der Neugeborenen ist in den vergangenen sieben Jahren von gut 17.000 auf 25.529 Babys pro Jahr gestiegen – will die KVH vier zusätzliche Kinderärzte zulassen.
In den Bezirken Hamburg-Mitte, Nord, Bergedorf und Harburg sollen sich die Ärzte bis zum Frühsommer niederlassen. Denn dort ist, nach Angaben der KVH, das Missverhältnis von Nachfrage und Angebot besonders groß.
„Die Pädiater benötigen immer mehr Zeit pro Kind – und irgendwann ist die Zeitkapazität erschöpft“, sagt Dr. Thomas Rutt. Etwa 40 Neugeborene würden pro „Arztsitz“ und Quartal in der Harburger Praxis aufgenommen. „Das sind 120 neue Patienten im Quartal, denen wir dann auch weitere Termine anbieten müssen“, sagt der Kinderarzt. Das Maß sei voll. Sein Rat an die Eltern: „Suchen Sie hamburgweit nach einem Kinderarzt, wenn Sie in Harburg keinen finden, der Sie aufnehmen kann.“
Es ist 10 Uhr. Hochphase im Wartezimmer. Alle Stühle sind belegt. Einige Eltern hocken auf dem Fußboden, andere stehen im Flur. „Viele schicken wir noch mal für eine Stunde hinaus in die Fußgängerzone“, sagt Jessica Berneik. 60 Akutpatienten haben die drei Kinderärzte innerhalb von zwei Stunden eingeschoben. 20 warten noch. Klaus Jochen Gunßer wechselt zwischen den Behandlungsräumen, zwischen grippalen Infekten, Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen. Zwischendurch ein Beratungsgespräch zum Thema ADHS, zur Logopädie. „Auch das nimmt zu.“
"Wenn wir gut sind, sind wir um 19 Uhr durch"
Claudia Göttsche ist mit ihren beiden Kindern Lennox Joel und Milana Sophie in die Praxis gekommen. Sie hat sich frühmorgens spontan einen Termin geholt, weil die Kinder husten. „Lennox hat Probleme mit den Bronchen“, sagt die Mutter. Sie will das abklären lassen, bevor das Wochenende kommt. „Sonst rennen wir am Sonntag in die Notaufnahme. Und die haben Wichtigeres zu tun, als hustende Kinder zu untersuchen“, sagt sie. So wie ihr geht es den meisten Eltern. „Viele wollen noch schnell vor dem Wochenende den Infekt abklären lassen“, sagt Arzthelferin Jessica Berneik.
Um 11 Uhr hat sie das Telefon auf Anrufbeantworter gestellt. Jetzt ist es halb zwölf. In 30 Minuten ist Mittagspause. Und auf dem Behandlungsplan stehen noch rund 25 Patienten. Endspurt. Rebecca Corts wartet seit einer Stunde. Söhnchen Maikel, 16 Monate, hat seit Monaten Durchfall. Jetzt liegt er quengelnd und verschwitzt auf dem Boden. Die Mutter ist genervt. „Das dauert viel zu lange“, sagt sie. Und weiter: „Man ist ja nicht zum Spaß hier.“
Klaus Jochen Gunßer und sein Team arbeiten derweil an der Belastungsgrenze. Kollegin Dr. Eva-Lotte Decker, die eigentlich im Altonaer Kinderkrankenhaus angestellt und innerhalb eines Rotationsprogramms für ein Jahr in der Praxis neue Erfahrungen sammelt, hat sich den ganzen Vormittag ausschließlich um Akutfälle gekümmert.
Ihr letzter Patient ist Dian. Er hat einen Infekt und eine Schwellung am Bein. „Ein interessanter Fall“, sagt sie und schickt die Mutter weiter in die Klinik. In der Praxis können ihr die Ärzte nicht helfen. Arzthelferin Jessica Berneik schließt die Praxistür ab. Wer jetzt etwas will, muss im Treppenhaus warten. Für die Mittagspause bleibt den Kollegen eine halbe Stunde. Klaus Jochen Gunßer isst ein paar Happen, nimmt einige Patiententelefonate entgegen. Er sagt im Vorbeigehen: „Ich mag meinen Beruf.“ Dann geht es weiter. Um 17 Uhr endet die Sprechstunde. „Wenn wir gut sind“, sagt Gunßer, „sind wir um 19 Uhr durch. Wenn nicht, dann eben später.“