Harburg/Winsen/Seevetal. Fast täglich weisen sie Patienten ab. Die Lage im Bezirk und im Landkreis ist angespannt wie nie.

„Eltern werden ist nicht schwer, Eltern sein dagegen sehr“ heißt es im Volksmund. Angesichts des akuten Mangels an Kinderarzt-Praxen im Bezirk sowie im Landkreis Harburg erhält diese Redensart indes eine neue Bedeutung: Wer heutzutage eine Kind bekommt und einen Termin für die obligatorische Vorsorgeuntersuchung vereinbaren möchte, braucht vor allem einen langen Atem – und am besten auch ein Auto. Denn viele Kinderarztpraxen haben Aufnahmestopp. Der Kinderarzt in der Nähe ist da fast schon wie der Hauptgewinn einer Tombola.

„Nahezu täglich müssen wir Eltern abweisen“, sagt der Harburger Arzt Klaus Jochen Gunßer. Seit mehr als 25 Jahren gehört er zu einer 1989 gegründeten Gemeinschaftspraxis (vier Ärzte teilen sich drei Vollzeitstellen bzw. Sitze). „So schlimm wie in den vergangenen ein, zwei Jahren war es noch nie“, sagt er. Aktuell werden in seiner Praxis nur noch Geschwisterkinder aufgenommen. Und mit viel Glück manchmal noch Kinder, deren Eltern sich direkt ein, zwei Tage nach der Geburt um einen Termin bemüht haben.

Gunßer nennt das „begrenzten Aufnahmestopp“. Und sagt klipp und klar: „Wechsler haben bei uns gar keine Chance.“ Gemeint sind diejenigen, die wegen eines Termins nachfragen, weil sie mit dem behandelnden Arzt unzufrieden sind. Drei bis vier Anfragen sind es an manchen Tagen, die seine Mitarbeiterinnen abweisen müssen: „Wir sind am Limit“, sagt Gunßer. Grund seien vor allem steigende Geburtenzahlen.

Die Situation ist dramatisch. Denn in anderen Praxen sieht es ähnlich aus. Überhaupt hat der Rat, es doch woanders zu versuchen, einen schalen Beigeschmack. Gunßer weiß das: „Denn mit einem fiebernden Kind durch die Gegend zu fahren, ist keine gute Lösung.“

Es kommen Patienten in die Notfallambulanz, obwohl es sich nicht um einen Notfall handelt, sagt Phillip Fröschle von der Helios Mariahilf Klinik Harburg
Es kommen Patienten in die Notfallambulanz, obwohl es sich nicht um einen Notfall handelt, sagt Phillip Fröschle von der Helios Mariahilf Klinik Harburg © HA | Helios

Harburgs Kinderärzte – im Bezirk gibt es elf Vollzeit-Sitze, die sich 14 Pädiater teilen – treffen sich monatlich zu einer Art Stammtisch und beschlossen bereits im vergangenen Jahr, aktiv etwas gegen den Notstand zu tun: Sie schalteten im Sommer eine Anzeige im Hamburger Ärzteblatt, um einen Kinderarzt zu finden, der sich in Harburg niederlässt. „Gemeldet hat sich kein einziger“, sagt Gunßer. Das wirtschaftliche Risiko, vermutet er, sei den meisten jungen Kollegen und Kolleginnen wohl zu hoch: „Hier gibt es kaum Privatpatienten.“

Dass die Kassenärztliche Vereinigung (KV) inzwischen die Zulassung eines weiteren Kinderarztes für den Bezirk Harburg tatsächlich bewilligt hat, freut Gunßer natürlich. Angesichts steigender Geburtenzahlen, bleibe allerdings fraglich, ob das schon die Lösung des Problems sei. Er sieht es pragmatisch: „Wir sind ja schon froh, wenn wir überhaupt jemanden kriegen.“

Ähnlich angespannt ist die Lage im Landkreis Harburg. Auch hier heißt es in vielen Kinderarztpraxen: „Wir können keine neuen Patienten mehr aufnehmen!“ „Die Kollegen in Harburg sind dicht, das überträgt sich auch aufs Randgebiet“, sagt Tanja Hiort, Mitarbeiterin der Meckelfelder Facharztpraxis für Kinder- und Jugendmedizin Johannes Hiort. Bis auf Neugeborene und Zugezogene würden auch in Meckelfeld Patienten grundsätzlich abgelehnt. „Wir sind am Limit“, so die Kinderkrankenschwester.

An ihre Kapazitätsgrenzen stoßen auch die Winsener Kinder- und Jugendärzte Dr. Schmidt und Dr. Knüppelholz. Und das, obwohl hier im vergangenen Jahr bereits ein neuer halber Kassensitz genehmigt worden ist. Kinderärztin Dagmar Knüppelholz hatte diesen per Sonderbedarfsantrag bei der Kassenärztlichen Vereinigung in Lüneburg durchsetzen können. Inzwischen ist klar, dass auch das nicht ausreicht.

„Wir müssen täglich mehrfach Patienten ablehnen“, sagt Dr. Knüppelholz, die vor allem den gestiegenen Beratungsbedarf der Eltern für die Auslastung der Praxen verantwortlich macht. „Eltern beobachten ihre Kinder viel intensiver als vor 30 Jahren“, sagt die Ärztin. „Sie machen sich mehr Sorgen und gehen häufiger zum Arzt.“ Um die Lage zu entspannen, will die Kinderärztin im Herbst einen neuen Vorstoß bei der KV wagen und einen weiteren halben Kassensitz beantragen.

Wie sehr die Praxen überlastet sind, bekommt auch die Helios Mariahilf Klinik zu spüren. „Es ist manchmal der Fall, dass Patienten in die Notfallambulanz kommen, obwohl es sich aus rein medizinischer Sicht nicht um einen Notfall handelt“, sagt Geschäftsführer Phillip Fröschle. „Damit sich die Situation verbessert, sind wir aktuell mit der KV in Gesprächen bezüglich der Einrichtung einer Portalpraxis bei uns am Standort.“ Dort könnten Notaufnahme-Patienten ohne dringenden Behandlungsbedarf an Wochenenden und Feiertagen versorgt werden.

Wichtige Vorsorge

Ob die Entwicklung eines Kindes normal verläuft, kann nur der erfahrene Kinder- und Jugendarzt beurteilen. Wird das neugeborene Kind aus der Klinik entlassen, bekommt die Mutter ein gelbes Kinder-Untersuchungsheft ausgehändigt. In dieses Heft werden alle Untersuchungsergebnisse eingetragen. Das Vorsorgeheft muss aufbewahrt und bei jeder Vorsorgeuntersuchung dem Arzt vorgelegt werden.

Neue Richtlinien, so erklärt der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, heben die Bedeutung der Beratung etwa zu den Themen „Impfen“, zur Prävention von Übergewicht und zum UV-Schutz als wichtigen Bestandteil der Vorsorgeuntersuchung hervor. Neben der körperlichen Untersuchung hat die Beurteilung der emotionalen und sozialen Entwicklung des Kindes einen noch größeren Stellenwert bekommen. Damit sollen u. a. psychische Probleme frühzeitig erkannt und behandelt werden können. Ein Ziel ist auch, Misshandlungen zu verhindern oder zumindest in den ersten Anfängen zu ermitteln.