Hamburg. Frustrierte Eltern, überlastete Praxen. Engpass hat bei einigen Ärzten zu Aufnahmestopps geführt. Neue Kinderärzte werden gesucht.
Kinderärzte en masse, aber kein freier Termin: Was paradox klingt, ist für viele Hamburger Eltern bittere Realität – sie finden keinen Mediziner, der ihr Neugeborenes untersucht. Einerseits hat die Stadt mit 172 Pädiatern mehr Kinderärzte als vorgesehen, die Stadt gilt als „überversorgt“. Andererseits müssen immer mehr Praxen einen Aufnahmestopp für Neugeborene verhängen, weil sie überlastet sind.
Deshalb hat die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg (KVH) nun die Zulassung von vier zusätzlichen Kinderärzten angekündigt, und zwar jeweils einen für die Bezirke Mitte, Harburg, Bergedorf und Nord. Dort herrsche „akuter Handlungsbedarf“.
Zahl Neugeborenenuntersuchungen gestiegen
Besonders für die U3-Untersuchung, meist die erste Vorstellung beim Kinderarzt, suchen Eltern oft vergeblich einen Termin. „Wir haben in einer Analyse festgestellt, dass die aktuell vorhandenen Behandlungskapazitäten nicht ausreichen, um den wachsenden Bedarf an kinderärztlicher Versorgung zu decken“, sagte Dr. Dirk Heinrich, Vorsitzender der Vertreterversammlung der KV Hamburg. Zehn Prozent der Praxen arbeiten inzwischen mit Aufnahmestopps, weil zum einen mehr Kinder geboren werden, zum anderen der Zeitaufwand pro Untersuchung gestiegen ist.
In vielen Praxen kämen die Ärzte wegen intensiver werdender Behandlungen, auch im sozial-psychologischen Bereich, und einer Attestfülle nicht mehr nach, müssen Termine für Neugeborene ablehnen. Zudem ist die Zahl der U3-Untersuchungen pro Mediziner in den vergangenen sechs Jahren von durchschnittlich 30 pro Quartal auf fast 40 gestiegen.
Die umfassende Analyse von Sarah Strohkamp machte diesen Anstieg vor allem in Hamburg-Mitte, Bergedorf, Harburg und Hamburg-Nord aus. In Nord, mit 170 Prozent nummerisch überversorgt mit Kinderärzten, zeige sich das Dilemma besonders. Die Anzahl der Ärzte gleiche den gestiegenen Umfang der kinderärztlichen Untersuchungen nicht aus. Die vier neuen Medizinier sollen diesen Notstand nun bis zum Sommer mindern – Dirk Heinrich ist zuversichtlich, genügend Bewerbungen zu erhalten. Für ihn ist diese Lösung aber nur Stückwerk, langfristig plädiert er für Niederlassungsfreiheit bei Kinderärzten.
Gesundheitssenatorin fordert Änderungen
Von Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) werden sowohl die KV-Analyse, als auch neue Stellen begrüßt: „Zusätzliche Kinderarztsitze sind ein guter und notwendiger Schritt.“ Ob die Zahl ausreichend sei, müsse beobachtet werden. Da die Stadt ihre Familien sogar an die Vorsorgeuntersuchungen erinnert, komme ihnen Priorität zu. „Dann müssen Familien aber auch einen Termin beim Kinderarzt bekommen können.“
Prüfer-Storcks nannte die aus den 90er-Jahren stammende Bedarfsplanung „überholt“ und appelliert an den Bund, eine neue Richtlinie zu erarbeiten. Hintergrund ist, dass das Budget für Kinderärzte gedeckelt ist. Heißt: Neue Praxen werden von der Solidargemeinschaft der bestehenden Kinderärzte finanziert, die weniger bekommen würden.
Ein Hamburger Kinderarzt – 1100 Patienten
Für Dr. Stefan Renz, Hamburger Landesvorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), ist die Analyse Wasser auf die Mühlen. „Die Studie bestätigt unsere Annahme, dass die Arbeitbelastung zugenommen hat und dass Eltern oft weite Wege in Kauf nehmen müssen.“
Ein Kinderarzt betreue durchschnittlich 1100 Patienten, die oft mehrmals im Quartal kommen, pro Tag seien 100 Patienten nicht unüblich. „Masern, Mumps und Windpocken sehen wir nur noch ganz selten, dafür Verhaltensauffälligkeiten und Schulprobleme", sagt Renz. Beim Stichwort Kindeswohlgefährdung muss allerdings gesagt werden, dass kein Kind durchs Raster fällt.“ Die Dichte der Kinderärzte sei nach wie vor hoch.
Ausbildung muss attraktiver werden
Grundsätzlich, so Renz, sollten mehr Anreize für Kinderärzte geschaffen werden, auch finanziell – etwa durch eine Unterstützung bei Neugründungen. Die Budgetierung durch die Kassenärztliche Vereinigung, bisher bei 80 Prozent, müsse angehoben werden. „Um die Attestflut einzudämmen und Praxen zu entlasten, halten wir es für sinnvoll, mit der Sozial- und Gesundheitsbehörde gemeinsame Lösungen und klare Regelungen zu finden, in welchen Fällen eine Bescheinigung notwendig ist“, sagt Renz.
Auch die Anzahl der Medizinstudenten müsse laut Renz neu kalkuliert werden, vor allem die Facharztausbildung für Kinderheilkunde müsse attraktiver werden, den Schwerpunkt auf eine Ausbildung in den Praxen lenken. „Nur so kann Nachwuchs herangezogen werden“, sagt der Landesvorsitzende. Denn auch Hamburg steuert auf eine Überalterung der Kinderärzte zu, die mit fähigen jungen Nachfolgern kompensiert werden will.