Hamburg. Kein Hamburger Gotteshaus hatte eine derart wechselvolle Geschichte wie die Hauptkirche am Hopfenmarkt – ein Rückblick.

Können Gebäude Glück haben? Oder Pech? Gar vom Schicksal geschlagen sein? Die Frage klingt seltsam, und doch drängt sie sich bei der ehemaligen Hauptkirche St. Nikolai geradezu auf. Schon ihre Planung löste schweren Streit aus, der Siegerentwurf galt nur als drittbeste Lösung, bald ging das Geld aus. Ein Brite war der Erbauer, Briten zerstörten sie. Im Zweiten Weltkrieg diente ihr Turm als Orientierungshilfe für Bomberverbände, die das Kirchenschiff in Schutt und Asche legten. Als einzige Hauptkirche wurde sie nie wiederaufgebaut. Der Turm wurde eine „ewige Baustelle“. Inzwischen existiert der Torso länger als Ruine denn als Gotteshaus.

Dabei hatte alles so schön werden sollen, damals, vor 176 Jahren: „So komm denn, Hamburgs Volk! Baue dem Herrn deinem Gott, der dich schirmet, sein Haus“, endete der emotionale Aufruf an die Bevölkerung. Beim verheerenden Stadtbrand von 1842 war die mittelalterliche Hauptkirche St. Nikolai ein Raub der Flammen geworden.

Sie brannte am Himmelfahrtstag als erste Kirche nieder, der Mittagsgottesdienst des 5. Mai 1842 musste nach einer letzten Fürbitte für den Erhalt des Gebäudes abgebrochen werden. Die Gebete der Hamburger blieben unerhört: Das Inferno forderte 51 Menschenleben, 20.000 Hamburger wurden obdachlos, rund ein Viertel der Stadt, mindestens 1000 Häuser, zerstört.

Beim großer Brand von Hamburg vom 5 bis zum 8.Mai 1842 brennen die Hauptkirche St. Nikolai und Fachwerkhäuser der Altstadt
Beim großer Brand von Hamburg vom 5 bis zum 8.Mai 1842 brennen die Hauptkirche St. Nikolai und Fachwerkhäuser der Altstadt © ullstein bild

Neubau sollte um 50 Meter verschoben werden

Nach dem großen Feuer entbrannte die Debatte, wie es mit der nicht völlig niedergebrannten Ruine der Nikolaikirche weitergehen solle. Der „Hamburger Beobachter“ vom 18. Februar 1843 notierte: „Der Kampf über die Frage, soll die 1842 zum Teil eingeäscherte St. Nikolaikirche bleiben oder nicht, hat einige Wochen gedauert.“ Und weiter: „Wahrlich, der Gedanke ist ebenso tief, als jenes Gemäuer noch hoch dasteht.

Jetzt endlich hat die bessere Ansicht gesiegt, die verkehrte ist also aus dem Felde geschlagen, denn Rat und Bürgerschaft haben die Beseitigung der Turm-Gemäuer beschlossen und den Bau einer neuen Kirche an anderer Stelle bestimmt.“ Im Juni 1843 begannen die Arbeiten für den Abbruch der Brandruine, der Neubau sollte um rund 50 Meter nach Südosten verschoben in den Himmel wachsen.

Nicht mehr als fünf Millionen Mark geplant

Der Tod des alten Hamburg wurde zur Geburtsstunde der modernen Stadt. Im darauffolgenden Jahr, forciert von Kaufleuten der wohlhabenden Gemeinde, stand die internationale Ausschreibung für die neue Nikolaikirche: „Form und Baustyl der Kirche werden den Concurrenten nicht vorgeschrieben, nur wird verlangt, daß dieselbe einen Turm erhalte, dessen Spitze jedoch nicht von Holz construiert sein darf.“ Die Stadtväter hatten ihre Lehren aus dem Inferno gezogen.

Eine weitere Bedingung der Pfeffersäcke war eine Art Obergrenze. Auch wenn St. Nikolai damals als vornehmste Hauptkirche galt, sollte das Gotteshaus nicht mehr als eine Million Mark kosten. 3000 Menschen sollten in ihr Platz finden, davon 1200 bis 1400 sitzen können. 39 Architekten aus dem In- und Ausland reichten 44 Entwürfe ein, die sich dramatisch unterschieden.

St. Nikolai war das höchste Gebäude der Welt

Eine kompetente Gutachterrunde aus bekannten Architekten sollte den Sieger küren – und entschied sich 1845 einstimmig für den Entwurf einer großen Kuppelkirche des gebürtigen Altonaers Gottfried Semper. „Der in Florenz ausgebildete byzantinische Baustil ist für eine protestantische Kirche glücklich gewählt“, lobte das Preisgericht.

Die Pläne gelten bis heute, so schreibt es Martin Chidiac in dem Buch „Das ungebaute Hamburg“, als ein „Markstein des evangelischen Kirchenbaus“. Semper „löste virtuos alle Vorgaben, versuchte insbesondere die zentrale Bedeutung der Predigt im evangelischen Gottesdienst baulich umzusetzen“.

Sein Grundriss, eine Mischung aus Zentralkirchenbau und griechischer Kreuzform, hätte alle Blicke auf den Altar gelenkt. Doch seine angedachte Mischung aus Byzantinismus und Romanik, inspiriert von der Dresdner Frauenkirche, missfiel einflussreichen Bürgern und dem Kirchenbaurat. Die Menschen verlangten nach einem zeitgemäßen Baustil. Der Senat – die lutherische Kirche war damals noch Staatskirche – dachte genauso.

Baukosten spielten keine Rolle

Die Baukosten spielten dabei keine Rolle – denn Sempers Entwurf wäre deutlich günstiger gewesen. Ausschlaggebend war der Zeitgeist, die neue nationale Begeisterung, welche die Menschen einen vermeintlich „teutschen Baustil“ verlangen ließ. In ganz Deutschland elektrisierte der Weiterbau des Kölner Doms, dessen Grundstein 1842 gelegt worden war, die Massen. In Hamburg kam die einflussreiche Erweckungsbewegung dazu, die neugotische Bauten bevorzugte.

Sie alle favorisierten den neugotischen Entwurf des britischen Architekten George Gilbert Scott. Sein Turm erinnerte an den Kölner Prestigebau und atmete die neue Zeit. Endgültig setzte sich Scott gegen Semper durch, als mit dem Kölner Dombaumeister Zwirner ein weiterer Gutachter hinzugezogen wurde, dessen Votum von vornherein feststand. So konnte die Gemeinde die Empfehlung der ersten Expertenrunde galant überstimmen.

Im September 1846 wurde der Grundstein gelegt

Rasch kamen über die Schillingspende enorme Summen zusammen – insgesamt sollen es drei Millionen Goldmark gewesen sein. Im September 1846 wurde der Grundstein gelegt, 17 Jahre später konnte die Kirche geweiht werden. Auf die Fertigstellung des Turms mussten die Hamburger noch elf Jahre warten. Erst 1874 stand der Turm in seiner vollen Größe von 147,3 Metern. Drei Jahre konnten die Hamburger stolz das höchste Bauwerk der Welt ihr Eigen nennen, dann ging dieser Wanderpokal nach Voll­endung der Kathedrale ins französische Rouen. Immerhin: Noch heute ist der Turm der fünfthöchste der Welt.

Die Kirche selbst, die heute düster und leer an der Willy-Brandt-Straße steht, erschien den Zeitgenossen deutlich heller und freundlicher: Scott verwendete gelben Backstein, Sandstein und Carrara-Marmor. Das städtebauliche Ensemble vermochte durchaus zu beeindrucken. Vor der mächtigen Kirche – das Langhaus maß 86 Meter, die Gewölbe wuchsen bis zu 28 Meter empor – entstand mit dem Hopfenmarkt ein großstädtischer Platz.

Eingefasst wurde die Bebauung halbkreisförmig vom Nikolaifleet. Der „taubenumflatterte Hopfenmarkt“ mit der Kirche fehlte vor dem Zweiten Weltkrieg in keiner Hamburg-Publikation. Als besondere Sehenswürdigkeit galt der Altar samt Kreuz mit einem Mosaikschmuck aus Halbedelsteinen.

Gelber Sandstein verwitterte im Schietwetter

Aber so richtig glücklich wurde die Gemeinde nicht mit ihrem Prachtbau: Der gelbe Sandstein verwitterte im Hamburger Schietwetter rasch, die Reparaturarbeiten verschlangen Unsummen. Auch der Turm machte Sorgen: 1904 hatten Messungen Abweichungen ergeben. Die Begeisterung der Hamburger für ihren Bau hatte sich da längst abgekühlt. Ursprünglich sollten 64 Sandsteinstatuen das Gotteshaus schmücken; weil aber die Spenden immer spärlicher flossen, konnten nur 30 fertiggestellt werden.

80 Jahre nach ihrer Einweihung schlugen die Totenglocken für Hamburgs höchste Hauptkirche. Die echten Glocken hatten die Nazis 1942 beschlagnahmt und zerkleinert. Die prächtigen Fenster hatte die Kirche auslagern lassen: Einige wurden in der Krypta des Michels in Sicherheit gebracht; das gerade fertiggestellte Fenster der Künstlerin Elisabeth Coester wurde „in 10 schmale Kisten eingebracht und in den Felsenkeller eines Gehöfts bei Hagen i.W. untergebracht“, heißt es in Kirchenprotokollen.

Am 16. Juli 1943 bekam St. Nikolai den ersten Treffer ab – durch Geschosssplitter der Flak. Bürokratisch-deutsch erfasst ein Antrag den entstandenen „Schaden an Schieferdächern und Dachrinnen“ in Höhe von 301 Reichsmark. Und sieben Pfennig.

Beim Bombentreffer 1943 blieb die Uhr stehen

Acht Tage später rechnet niemand mehr in Mark und Pfennigen. Gleich in der ersten Nacht der apokalyptischen „Operation Gomorrha“ treffen erst Spreng- und kurz darauf Brandbomben die Kirche. Der Zeiger der Turmuhr bleibt in dieser Nacht auf halb eins stehen – und sollte sich nie wieder bewegen. „Eine Sprengbombe ist oben auf dem Dach zerplatzt und nicht durchgeschlagen.

Sie trieb alles Glas heraus, aber die Mauerwerke und die großen Pfeiler wurden nicht zertrümmert. Der Turm ist verhältnismäßig gut weggekommen“, heißt es in einem Protokoll der Kirchenvorstandssitzung vom 30. September 1943. Kurz darauf werden die zerstörten Gewölbe erst mit Holz und dann mit 34 Tonnen Stahl gesichert. Eine überraschende Sicherungsmaßnahme im „totalen Krieg“.

Für Wiederaufbau fehlten Geld und guter Wille

Die Stadt glich da in weiten Teilen längst einer Trümmerwüste. Aus dieser Landschaft von Tod und Zerstörung ragte der kaum zerstörte Turm heraus, einem Fanal gleich, eine bittere Ironie des Schicksals. Andere Hauptkirchen wie St. Jakobi oder St. Katharinen hatte es noch schlimmer getroffen, hier hatten Turm und Kirchenschiffe schwerste Schäden davongetragen.

Von 66 Kirchen in der Landeskirche galten zu Kriegsende 21 als komplett zerstört. In diese Kategorie fiel auch St. Nikolai. Weil die Außenmauern aber den Krieg überdauerten, wäre ein Wiederaufbau technisch durchaus möglich gewesen. „Andere Kirchen waren noch stärker zerstört“, sagt Dörte Huß, Leiterin der Geschäftsstelle und des Museums Förderkreis Mahnmal St. Nikolai. „Aber sie hatten mehr Fürsprecher.“

Stil entsprach nicht mehr dem Zeitgeist

Für St. Nikolai fand sich kaum ein Anwalt. Der neugotische Stil entsprach nicht mehr dem Zeitgeist, er galt als eklektizistisch, einfallslos und unkünstlerisch. Weder passte er in das geschmackliche Weltbild noch in das erträumte Stadtbild. Dort, wo einst das Leben auf dem Hopfenmarkt brodelte, planten Verkehrsexperten längst die große Ost-West-Trasse: Endlich sah die Stadt die Chance gekommen, durch die zerstörte City eine breite Schneise zu schlagen, um die seit Jahren beklagten innerstädtischen Verkehrsprobleme zu lösen.

In vielen Köpfen galt, was Konstanty Gut­schow, Hitlers „Architekt für die ­Neugestaltung Hamburgs“, 1943 nach der „Operation Gomorrha“ konstatierte: „Das Bild der Trümmer rührt uns nicht in der Seele, vielmehr lässt es nur umso deutlicher und lebendiger das Bild des zukünftigen Hamburgs, des neuen Hamburgs vor unseren Augen entstehen.“ Aus Gutschows Teams rekrutierten sich die Stadtplaner für das Nachkriegs-Hamburg.

Nur wenige forderten Rekonstruktion

Die Vertreter des Alten hingegen waren fortgezogen, tot oder diskreditiert. Die Kirche hatte ihre Gemeinde längst verloren. Wie 100 Jahre zuvor wurde St. Nikolai Spielball einer hitzigen Baudebatte: Nur wenige forderten wie ein Leserbrief-Schreiber im Abendblatt die Rekonstruktion: „Die gewaltigen Baukosten dieser Kirche sind damals durch eine sich Jahrzehnte hinziehende Schillingsammlung aufgebracht worden; sollte so etwas nicht auch in dieser schweren Zeit möglich sein?“ fragte er. Die Antwort hatten längst andere gegeben.

Der Zahn der Zeit nagte an dem kriegsversehrten Gebäude: Immer wieder stürzten Kreuzblumen, Statuen und Mauerteile von der Höhe des Schiffes auf das meterdicke Kellergewölbe hinab. Die Baupolizei musste das Gebäude sichern – St. Nikolai glich einem Gotteshaus hinter Gittern. Das Abendblatt fing 1951 treffend den Zeitgeist ein: „Groß und düster ragt der Nikolaiturm über die Innenstadt: wie ein spitzer Zeigefinger über einer geschlossenen Faust. Unter den anderen Kirchen Hamburgs mutet St. Nikolai wie ein Fremdling an.“

Viele Überlegungen wurden überworfen

Der damalige Oberbaudirektor Otto Meyer-Ottens machte 1949 den Vorschlag, den Turm der Nikolaikirche als Friedensmal zu erhalten. War zunächst ein Hamburger Ehrenmal für die Gefallenen des letzten Krieges im Gespräch, hieß es bald „Mahnmal für die Opfer von Krieg und Verfolgung“. Nach langem Hin und Her bildeten Politik, Behörden und Kirchenvertreter Anfang 1951 eine Kommission, um über die Trümmerstätte zu entscheiden. Nach ersten Schätzungen der Kirchenbauleitung hätte der Aufbau der Kirche etwa vier Millionen Mark gekostet.

Öffentlich trat die evangelische Kirche zwar zunächst für den Wiederaufbau ein. Hauptpastor Paul Schütz betonte, mit der Wiederherstellung wäre längst begonnen worden, hätte die Kirche nur ausreichend Mittel. Doch nachdem Schütz sein Amt niedergelegt hatte, war diese Idee vom Tisch. Auch andere Überlegungen wurden verworfen: Das Denkmal des Künstlers Gerhard Marcks für die Bombenopfer wurde nicht im Turm, sondern auf dem Ohlsdorfer Friedhof gebaut.

1951 wurde die zerstörte Kirche gesprengt

Schließlich rückten im Juni 1951 die Sprengmeister an. Der letzte Bummel durch das zerstörte Gotteshaus atmet die Vergänglichkeit: „Es ist gespenstisch, im Kirchenschiff der Nikolaikirche zu stehen. Durch das zerfranste, geborstene Gestein blickt der Himmel. An einem der schlanken Pfeiler, die sich nicht mehr zum Spitzbogen schließen, wächst in 40 Meter Höhe, optimistisch grün, ein junger Baum ... Trübsinnig stehen noch verwitterte Heiligenfiguren auf ihren Sockeln.“ So war damals im Abendblatt zu lesen. Am 18. Juni um 20 Uhr fiel der erste von fünf Pfeilern, vier weitere trotzten zunächst den Dynamitladungen. Wenige Wochen später aber hatten die Sprengmeister ihre Mission erfüllt.

St. Nikolai war Geschichte – und sollte doch eine Zukunft bekommen. 1956 beschloss die evangelische Kirche, „St. Nikolai im Grünen“ am Klosterstern neu zu errichten. Hauptpastor Hans-Otto Wölber, ab 1964 Landesbischof, brachte es später auf den Punkt: „Die Nähe zu den Menschen war wichtiger als die Erhaltung einer historischen Stätte.“

Das Richtfest für den Neubau der 1842 abgebrannten Nikolai-Kirche am 18.Oktober 1859
Das Richtfest für den Neubau der 1842 abgebrannten Nikolai-Kirche am 18.Oktober 1859 © ullstein bild

Das neue Gotteshaus hat das alte aber nicht vergessen: Das Altarbild, das Mosaik „Ecce Homines – Seht, die Menschen“, korrespondiert mit dem schwarz-weißen Mosaik im Chorraum der alten Nikolaikirche. Auch die Steine des Taufaltars und der Torso einer Christusfigur erinnern an das ehemalige Gotteshaus. Die Eingangshalle fasst die Kirchenfenster von Elisabeth Coester, die den Krieg auf dem Bauernhof im Westfälischen überstanden hatten. Ein Sandstein der Ruine reiste sogar bis Amerika: Studenten der Universität von Michigan erbauten damit eine Kapelle, um ihrer 400 gefallenen Kameraden zu gedenken.

Turm wurde zur Gefahr für die Ost-West-Straße

Wölber, der 1956 Hauptpastor in St. Nikolai geworden war, trieb auf Wunsch der Senatskanzlei den Umbau der alten gotischen Kirche zu einer Gedenkstätte voran: Er kritisierte im selben Jahr die städtebaulich „beschämende Situation“ an der Ost-West-Straße und regte an, die 3740 Quadratmeter große Fläche des Kirchenschiffes in eine Grünanlage zu verwandeln, unten im Turm sollte eine christliche Erinnerungsstätte entstehen.

Doch noch immer stand im Raum, den Turm abzureißen. Die Baupolizei bemängelte, er stelle eine Gefahr für den Verkehr auf der neuen Ost-West-Straße dar. Es wurde sogar berechnet, was ein Abriss kosten würde: nämlich 500.000 Mark. Daraufhin brach ein Sturm der Empörung in der Öffentlichkeit los. Der damalige Kirchenbaurat Vogel kritisierte: „Vier Türme, vier wesentliche Wahrzeichen Hamburgs, hat der Krieg geraubt: St. Katharinen, St. Jakobi, St. Georg und den Rathausturm. Ich würde es als einen ,Schwabenstreich‘, bezeichnen, wenn wir den Mut aufbrächten, den durch Fügung erhalten gebliebenen Nikolaiturm hinterher einzureißen.“

Schließlich setzten sich Kirche, Denkmalpfleger und Stadtplaner durch: Der Turm durfte bleiben. Oberbaudirektor Professor Werner Hebebrand vertrat die für heutige Verhältnisse kaum verständliche Ansicht, der Turm als in die Vergangenheit weisendes ruinenhaftes Mahnmal werde mit dem in die Zukunft weisenden Mahnmal Neu-Altona korrespondieren.

Sicherungsarbeiten dauerten an

Es sollte dauern, bis die Pläne Wirklichkeit wurden. 1961 fiel die Entscheidung, den Entwurf des Architekten Gerhard Laager umzusetzen: Der Turm wurde gesichert und sollte in 20 Meter Höhe eine angestrahlte Dornenkrone bekommen. Sie sollte das Leid nicht nur der Christen, sondern auch der jüdischen und andersgläubigen Opfer der Nationalsozialisten symbolisieren. Die Sicherungsarbeiten dauerten bis 1966, doch die Dornenkrone ließ auf sich warten.

Eine Luftaufnahme von 1964: Blick über den Hopfenmarkt mit der St. Nikolai-Ruine zur Ost-West-Strasse
Eine Luftaufnahme von 1964: Blick über den Hopfenmarkt mit der St. Nikolai-Ruine zur Ost-West-Strasse © ullstein bild

1968 kam der Erste Baudirektor Hans-Dietrich Gropp zu einer neuen Erkenntnis: „Nachdem die Allianz-Versicherung und das Landeskirchenamt in unmittelbarer Nachbarschaft mit ihren Bauten begonnen haben, ist eine neue städtebauliche Situation entstanden, die eine Überprüfung der alten Pläne erforderlich macht.“ Eine verklausulierte Absage an die Dornenkrone: Es fehlte an Geld – und gutem Willen. St. Nikolai wurde zu einer ewigen Baustelle.

Und zu einer ewigen Streitstätte. 1970 befand der Senat, die Gedenkstätte müsse auch von anderen Religionen als der christlichen akzeptiert werden können. 1971 kam die Politik zu dem Schluss, die Turmruine sei Mahnmal genug, um die Debatte zu beenden. Trotzdem konnte 1977 die Gedenkstätte in abgespeckter Form, mit einem Mosaik von Oskar Kokoschkas „Ecce Homines“, schließlich eingeweiht werden.

Der Turm ist weiter zerfallen

Schon bald begann das Drama aufs Neue. Der Turm verfiel weiter, Regen und Frost ließen das Mauerwerk bröckeln – 1986 musste er erneut eingezäunt werden und verwahrloste zusehends. 1987 meldete sich Hans-Otto Wölber mit einem dramatischen Appell im Abendblatt zu Wort: „Sind wir Hamburger zu spröde für ein bisschen mehr Kultur der Herzen? Sind wir verunsichert, weil man Denkmäler beschmiert und über sie streitet? Gedenkt man in der Stadt Merkurs nicht auch der Tränen, die vergossen, und aller Opfer, die erbracht wurden, auch wenn die Menschen in die Irre gingen?“ Eine Million Mark, so die Schätzungen, mussten aufgebracht werden – die Stadt sah sich zur Finanzierung allein nicht in der Lage.

Doch dann gab es ein Wunder, wie es gerade in Hamburg immer wieder geschieht. Private Spender und der 1987 von Unternehmer Ivar Buterfas und Rechtsanwalt Corvin Fischer gegründete Förderverein „Rettet St. Nikolai“ begannen Geld zu sammeln. Binnen zehn Jahren kamen 4,5 Millionen Mark an Spenden zusammen. Das bürgerliche Engagement überzeugte auch die Politik: Nun half der Senat. Sogar der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker schaltete sich ein.

Die Instandsetzung kostete 25 Millionen Mark

Das Investitionsvolumen stieg rasant. Je mehr man sich mit der Bau­substanz befasste, desto größer waren die erfassten Schäden: Der Stein zerfiel, zunehmend sprangen ganze Brocken ab. Zunächst acht Millionen Mark sollte die Instandsetzung kosten, dann zwölf Millionen, am Ende wurden es 25 Millionen Mark.

Mit immer neuen Ideen sammelte der Förderverein Geld: Er verkaufte Bronze- und Silbermünzen, Aquarelle, Lose, das Unternehmen Hansa-Taxi gab von jeder Fahrt einen Nikolai-Pfennig zur Rettung dazu. Mit dem Kontostand wuchsen die Ambitionen. Sogar die Idee wurde geprüft, ein Leichtglasdach vom Olympiastadion-Architekten Frei Otto über das Kirchenschiff zu spannen. Auch der Neubau eines Kirchenschiffs wurde geprüft. Doch zunächst flossen nur Millionen in die Sicherung des Turms.

Turmsanierung erneut vor dem Aus

1995 stand die Turmsanierung einmal mehr vor dem Aus: Die Baubehörde sperrte weitere zehn Millionen Mark, nachdem trotz der bereits verbauten 13 Millionen Mark der Turm nicht wieder begehbar geworden war. Baubehördensprecher Jürgen Asmussen sagte lapidar: „Für Verkehrssicherungspflicht wird gesorgt, für Schönheit ist kein Geld da.“ Der Verein aber gab nicht klein bei. Das Geld floss, und das Informationszentrum, schon für 1992 geplant, konnte Ende der 90er-Jahre endlich eröffnet werden.

Heute betreibt der Förderkreis Mahnmal St. Nikolai nicht nur die Dauerausstellung in der Krypta, sondern seit 2005 auch den Panaromalift für Besucher. Inzwischen sind die Bauarbeiten abgeschlossen, am Donnerstag wurde mit einem Festakt das Mahnmal wiedereröffnet. Stadt und Verein haben das Museum vor fünf Jahren aufwendig umgebaut und erweitert. Seit September 2013 ist dort die Dauerausstellung „Gomorrha 1943 – Die Zerstörung Hamburgs im Luftkrieg“ zu sehen.

Überlebende der Bombennächte treffen sich

Die kleine Schau weiß zu beeindrucken. Sie löst die Zerstörung Hamburgs nicht aus ihrem historischen Kontext, sondern ordnet sie ein. Nicht nur Ausgebombte aus Hammerbrook oder Ro­thenburgsort kommen zu Wort, sondern auch Bomberpiloten und KZ-Häftlinge, die die Toten bergen mussten. „Wir wollen die Vielschichtigkeit der Geschichte darstellen“, sagt Dörte Huß, Leiterin der Geschäftsstelle und des Museums.

Die Ausstellung beschränkt sich auf das Wesentliche und zeigt mitunter schwer Erträgliches, die systematische Vernichtung ganzer Stadtteile. Sie macht frösteln – und das liegt nicht nur an den kalten 16 Grad Raumtemperatur, um den angegriffenen Stein der Krypta zu konservieren. Längst ist das Dokumentationszentrum Ort für Lesungen, Debatten, Infoveranstaltungen, aber auch für Gottesdienste. Alljährlich treffen sich Überlebende der Bombennächte zu einer Christvesper in der Krypta. Es ist einer dieser Orte, der Hamburgs Geschichte in ihrer Multidimensionalität erfasst.

Nur wenige Hamburger besuchen Ausstellung

Aber es wundert schon, dass die Schau noch nicht auf dem Radarschirm vieler Hamburger angekommen ist. „Mehr als die Hälfte unserer Besucher kommen aus dem Ausland“, sagt Dörte Huß. Bei einer Befragung 2016 zählte das Museum 360 Briten, 364 Nordamerikaner und 309 Dänen, aber nur 1522 Deutsche. So recht kann sich Huß dieses Ungleichgewicht nicht erklären. „Wir könnten mehr Schulklassen gebrauchen“, sagt sie. „Als die ,Entdeckung der Currywurst‘ Abiturthema war, kamen viele Schüler.“

Interessiert die Hamburger ihre eigene Geschichte so wenig? Schmerzt sie zu sehr? Oder passt die „Operation Gomorrha“ nicht in eine politisch korrekte Weltsicht, weil hier Täter plötzlich zu Opfern und Opfer zu Tätern werden? Ist die erzählte Geschichte der erlittenen Geschichte zu kompliziert?

Die Schau hätte einen größeren Zuspruch verdient. Ein Zitat von Klaus Mann von 1943 hallt im Hirn nach, auch wenn man die Krypta längst verlassen hat: „Das Hamburg, welches ich kannte, wird es niemals mehr geben. Sicherlich, diese Stadt wird wieder aufgebaut werden. Aber ihr Antlitz und ihre Atmosphäre werden wesentlich verändert sein.“ Der Turm von St. Nikolai ist das Ausrufezeichen.

Mahnmal St. Nikolai mit Panoramalift ­geöffnet 10–17 Uhr (im Sommer bis 18 Uhr). Erwachsene 6/4,50 Euro; Kinder 3 Euro