Hamburg. Serie „Hamburgs Wahrzeichen – neu entdeckt“. Heute: Das Wahrzeichen hat nichts von seinem Reiz verloren.

Ein Abstecher nach Köln ohne den Dom? Unvorstellbar. Eine Reise nach Ulm oder Straßburg ohne das Münster? Undenkbar. Selbst ein Wochenende in München ohne Visite in der Frauen­kirche gälte als unvollendet. Seltsam, dass so viele Hamburger noch nicht vom Turm des Michels auf ihre Stadt herabgeblickt haben. Aber es ist vermutlich wie so oft im Leben: Was man nicht heute oder morgen machen muss, verschiebt man auf demnächst, bald mal, irgendwann, kurzum auf den St. Nimmerleinstag. Wofür man unbegrenzt Zeit zu haben scheint, schafft man meistens nie.

Dabei lohnt der Besuch auf dem Michel, immerhin mit 132,1 Metern der zwölfthöchste Kirchturm der Welt. Das fällt in Hamburg nur nicht so auf, weil mit St. Nikolai (147,9 Meter), St. Petri (132,2 Meter) und St. Jacobi (125,4 Meter) die Platzierungen fünf, elf und 15 in Rufweite stehen. Wer Hamburg für eine säkularisierte Stadt hält, ist geschichtsvergessen: Keine Metropole der Welt hat so viele imposante Türme errichtet, kaum eine Stadt seine Silhouette so mit Kirchen geprägt.

Ein Platz ließ sogar den Bürgermeister staunen

In den Herzen der Hamburger überragt der Michel alle – seit Jahrhunderten ist er durch seine markante Lage oberhalb der Elbe Landmarke, Leuchtturm und Wahrzeichen zugleich. Ein Fingerzeig Gottes, der architektonisch an den Allmächtigen erinnert und zugleich vom eigenen Wohlstand erzählt, eine Preziose der Pfeffersäcke.

Zeiten und Preise

Und eine, an dem die Elbphilharmonie nicht spurlos vorübergegangen ist. „Seit der Eröffnung der Plaza sind unsere Besucherzahlen im Turm deutlich zurückgegangen“, sagt Alexander Röder dem Abendblatt. „Ich würde mir schon wünschen, dass die Plaza Geld kostet.“ Bei zwölf Prozent liegt der Verlust des Jahres 2017 im Vergleich zum Vorjahr. Das Kirchenschiff des Michels hingegen hat kaum unter der Konkurrenz des neuen Wahrzeichens gelitten – jedes Jahr pilgern nach wie vor 1,5 Millionen in das Gotteshaus.

In modernen Zeiten angekommen

Die modernen Zeiten sind auch im Michel angekommen. Eine eigene Handy-App führt die Besucher durch die Kirche – dabei bittet ein Schild doch darum, die Mobiltelefone auszuschalten. Mehr als 10.000-mal wurde die App schon heruntergeladen. „Bislang gibt es sie auf Deutsch und auf Englisch“, sagt Röder. „Chinesisch soll bald dazukommen – wir haben festgestellt, dass viele Downloads aus China kommen.“ Der Michel mag eine Hamburgensie sein, aber es ist eine von Weltrang.

Auch angestrahlt
macht der Michel viel
her (hier von der
Ludwig-Erhard-Straße
aus gesehen)
Auch angestrahlt macht der Michel viel her (hier von der Ludwig-Erhard-Straße aus gesehen) © HA | Roland Magunia

Begeistert führt der Hauptpastor durch St. Michaelis – er ist Gottesmann und Gotteshausmeister zugleich. „Für den Michel kann man sich einen Tag Zeit nehmen“, schwärmt Röder. „Selbst ich weiß nicht genau, wohin jede Tür führt.“ Beim traditionsreichen Frühlingsfest des Michels zu Pfingsten gewährt er Einblicke in Hamburgs größte Kirche. Die Führungen „Geheimnisse des Michels“ sind besonders beliebt. Dabei erschließt sich die Zwischenwelt des Dachbodens – die Decke des Kirchenraums ist abgehängt, bis zum Dach sind es mehrere Meter.

Atemberaubende Blicke

Hier oben wirkt der Bau mit seinen roten Metalltüren, seinen diversen Treppenhauszugängen und seinen unverputzten Zwischenwänden sehr profan: Und doch eröffnen sich gerade von hier durch die von innen verspiegelten Fenster atemberaubende Blicke in das Kirchenschiff, auf die Orgel und die vergoldeten Figuren. „Ich liebe diesen Platz“, sagt Röder. Und verrät: „Olaf Scholz war auch tief beeindruckt.“

Das Abendblatt darf sogar einen Blick in das Fernwerk erheischen, das die Orgeltöne mit einer Verzögerung von einer Sechstelsekunde durch eine Schallöffnung leitet, gleichsam einem „fernen Silberstrom herabrieselnden Klanges“. Dieses Fernwerk schenkt den imposanten Orgeln eine mystische Zugabe.

Harmonischer Dreiklang

Der Michel ist ein harmonischer Dreiklang aus Krypta, Turm und Kirche. Der Innenraum ist von barocker Pracht, ein Schau- und Staunraum, ein Gotteshaus von katholischer Eleganz und protestantischem Ernst zugleich. Der große Raum ist auf Altar, Taufe und die Kanzel ausgerichtet. Und die Fenster schwelgen nicht in bunten Farben, sondern lassen das Licht der Welt in die Kirche hinein. „Das ist ein aufklärerischer Bau“, sagt Röder. „Er holt die Welt hinein, er macht sie sichtbar. Hier spürt man die reformatorische Idee.“

„Vor Gott sind alle Menschen gleich“, heißt es im Römerbrief 2,11. Trotzdem sind im Michel manche noch etwas gleicher: Das opulente Senats­gestühl ist bei Festakten oder Trauer­feiern bis heute den Regierenden vor­behalten. Die Sitze sind breiter und bequemer, ein hölzerner Löwe verziert den Bankeingang. Dessen Schwanz sollen weniger senatsgläubige Vandalen mehrfach abgebrochen haben; vor mehreren Jahren wurde er deshalb mit Metall fixiert – auf Kosten des Senats.

Röder kennt den Michel seit Kindertagen

Noch etwas hebt den Michel aus dem Quintett der Hauptkirchen heraus, Mehrere Tafeln erinnern hier an die Opfer der Kriege. 1918 machte der Senat den Michel zur offiziellen Gedenkstätte für die Gefallenen, 100 Jahre später beschert das dem Hauptpastor immer wieder kritische Fragen.

Alexander Röder kennt den Michel seit Kindertagen. Schon als Dreikäsehoch erklomm er an der Hand seines Großvaters die 452 Stufen – trotz seiner Höhenangst. Der Turm ist aller Mühen wert. Während die Elbphilharmonie-Plaza bei 37 Metern endet, klettert man den Michel bis hinauf in schwindelerregende 106 Metern Höhe. Der Aufstieg (oder die Himmelfahrt per Fahrstuhl) bis zur Plattform 26 Meter unterhalb der Wetterfahne ist kurzweiliger, als er klingt: Es geht vorbei an den sechs Glocken, deren schwerste, die Jahrtausendglocke, mehr als neun Tonnen wiegt und die Inschrift trägt: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir; denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.“

Furchterregend ist auch die Größe der Turmuhr, die weithin sichtbar die Stunde schlägt. Mit ihren acht Metern Durchmesser ist sie die größte ihrer Art in Deutschland. Und wer genau hinsieht, erblickt sogar im Treppenhaus des Turmes an den alten Ziegelsteinen Brandspuren. Hier nahm einst das Unheil seinen Lauf.

Ein Blick wie gemalt
– durch eines der
verspiegelten
Fenster blickt man
vom Dachboden ins
Kirchenschiff
Ein Blick wie gemalt – durch eines der verspiegelten Fenster blickt man vom Dachboden ins Kirchenschiff © HA | Roland Magunia

Am Ende der 452 Stufen liegt dem Besucher Hamburg zu Füßen. „Der Blick ist genial“, hatte Hauptpastor Röder versprochen. Und er behält recht: Von hier oben sieht die Stadt ganz anders und zugleich seltsam vertraut aus. Rathaus, Elbphilharmonie, HafenCity – ein großes Miniatur Wunderland.

Ein besonderes Kleinod ist die Krypta: Hier liegen so viele Menschen begraben, wie im Michel einen Sitzplatz finden: 2425 Grabstellen, die einstmals den Wiederaubau der Kirche finanzieren sollten. Wer den stimmungsvollen Raum betritt, blickt in eine Gruft, in der jeweils vier Särge übereinander Platz fanden. Bis 1813 lag unter dem Michel der größte innerstädtische Friedhof, bevor die französischen Besatzer diese Form von Beerdigungen endgültig verboten. In der Krypta selbst reisen Besucher durch die Zeit: Fundstücke zeigen Bestattungsriten einer verschütteten Ära, als Sargfüße in Form eines Greifenklau so üblich waren wie Schmetterlinge auf dem Sarg oder ein Leichenschmaus mit Wein und Marzipan.

Himmel und Hölle, durch Stahlbeton getrennt

Bilder zeigen die drei unterschiedlichen Michel-Bauwerke, von denen zwei ein Raub der Flammen wurden. Am 10. März 1750 schlug der Blitz in den Turm ein, der Feuer fing und schließlich ins Kirchenschiff stürzte. Bei Lötarbeiten wiederholte sich am 3. Juli 1906 Geschichte – die Hauptkirche brannte bis auf die Grundmauern nieder. Eine Litfaßsäule zeigt Zeitungsartikel dieses verhängnisvollen Sommertages. „Um ca. 2 1/2 bemerkte man Flammen aus der Michaeliskirche emporlodern“, schrieb das Extrablatt.

Es ist ein Hamburger Glücksfall, dass das Kirchenschiff in seiner barocken Pracht wieder erstand, obwohl einflussreiche Hamburger wie Cornelius Gurlitt oder der spätere Oberbaudirektor Fritz Schumacher gegen den Wiederaufbau polemisierten. „Schon die nächste Generation würde die gefälschten Unterschriften nicht mehr honorieren“, warnte der Baumeister. „Respekt lässt sich nicht zwingen, den gibt nur der echte Hauch einer Zeitepoche.“

Der Boden hält Bomben stand

Auch große Geister können irren. Der Michel wird originalgetreu wieder aufgebaut mit einem Unterschied, der später Tausenden Menschen das Leben retten sollte: Über der Krypta zieht der Architekt Julius Faulwasser gegen Proteste von Zeitgenossen eine Stahlbetondecke ein. Als im Zweiten Weltkrieg zwei Sprengbomben den Michel schwer treffen, hält der Boden stand. Darunter bangten Tausende Menschen aus der Neustadt um ihr Leben. „Ich kenne Gemeindemitglieder, die hier Schutz gesucht haben“, sagt Röder. Es klang wie ein Erdbeben, es war die Hölle.“

Ein Gotteshaus, das Himmel und Hölle, Tod und ewiges Leben, Gottesfurcht und Gottvertrauen, Vergangenheit und Zukunft in seinen Mauern vereint. Ein Wahrzeichen eben.